Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.11.2020, Az. 2 StR 165/20

2. Strafsenat | REWIS RS 2020, 2218

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Gegenstand

Strafverurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauch von Kindern u.a.: Freie Beweiswürdigung bei Aussage gegen Aussage; Urteilsfeststellungen bei Abweichen von Sachverständigengutachten


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 9. Dezember 2019 mit den Feststellungen aufgehoben; ausgenommen ist die Einzelstrafe für die bereits rechtskräftig festgestellte Vergewaltigung zum Nachteil der Nebenklägerin [X.]    .

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Im ersten Rechtsgang hatte das [X.] den Angeklagten am 16. Februar 2018 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in drei Fällen zu einer [X.]samtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hatte der Senat dieses Urteil insgesamt mit Beschluss vom 10. April 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.

2

Zwischenzeitlich hatte das [X.] den Angeklagten in einem weiteren Verfahren am 13. September 2018 wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer [X.]samtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Mit Beschluss vom 26. Juni 2019 hatte der Senat dieses Urteil ebenfalls auf Revision des Angeklagten im Ausspruch über eine der Einzelstrafen sowie im [X.] aufgehoben. Die weitergehende Revision des Angeklagten hatte der Senat verworfen, so dass der Schuldspruch wegen Vergewaltigung in zwei Fällen ebenso in Rechtskraft erwachsen war wie die für eine der Taten festgesetzte Einzelstrafe.

3

Mit Urteil vom 9. Dezember 2019 hat das [X.] nach Verbindung beider Verfahren im zweiten Rechtsgang den Angeklagten nunmehr wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen und des sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, unter Einbeziehung der rechtskräftigen Einzelstrafe zu einer [X.]samtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt.

4

Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen - in Bezug auf die Einzelstrafe für die rechtskräftige Vergewaltigung zum Nachteil der Nebenklägerin [X.]- ist sie aus den Gründen der Antragsschrift des [X.] unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 [X.].

I.

5

Nach den Feststellungen des [X.]s lebte der Angeklagte mit seiner damaligen Verlobten, der Nebenklägerin [X.], und deren zwei Kindern, für die er eine [X.] übernommen hatte, in der [X.] von 2011 bis 2014 in einem gemeinsamen Haushalt. In der [X.] zwischen Mitte 2013 und dem 9. Januar 2014 kam es insgesamt zu fünf sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf eines der Kinder, die im damaligen [X.]raum zehnjährige Nebenklägerin [X.].   .

6

Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Die [X.] hat ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten insbesondere auf Grund der Angaben der Nebenklägerin [X.].   gewonnen. Wie bereits im ersten Rechtsgang ist das [X.] dabei dem Gutachten der aussagepsychologischen Sachverständigen [X.]     nicht gefolgt. Diese vermochte in ihrem mündlichen Gutachten in der Hauptverhandlung - entgegen ihrem ursprünglichen vorbereitenden schriftlichen Gutachten - nicht von der Erlebnisbasiertheit der Angaben der Nebenklägerin auszugehen. Die Sachverständige hat das Abweichen von ihrem schriftlichen Gutachten mit den aus ihrer Sicht bestehenden Differenzen zwischen den Angaben der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung und insbesondere jenen in ihrer polizeilichen Vernehmung begründet. Das [X.] hat dagegen die aus seiner Sicht bestehende Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin auch auf deren [X.] gestützt. Die Schilderungen der sexuellen Übergriffe in der Hauptverhandlung entsprächen zum [X.]geschehen bereits jenen bei der Polizei getätigten Angaben.

II.

7

1. Die Beweiswürdigung des [X.]s zu den Straftaten zum Nachteil der Nebenklägerin [X.].   (Fälle III. 1 - 5 der Urteilsgründe) hält auch unter Berücksichtigung des auf Rechtsfehler beschränkten Beurteilungsumfangs durch das [X.] (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 21. Februar 2018 - 2 StR 431/17, NStZ-RR 2018, 151, 152 mwN) sachlich-rechtlicher Überprüfung erneut nicht stand. Sie weist Lücken auf.

8

a) Ein durchgreifender Rechtsfehler liegt bereits darin, dass sich das [X.] der aufdrängenden näheren Erläuterung der Angaben der Nebenklägerin [X.].    verschlossen und insbesondere von einer Darstellung des wesentlichen, für die Beweiswürdigung relevanten Inhalts ihrer polizeilichen Vernehmung durch die Zeugin H.    gänzlich abgesehen hat.

9

Das Maß der gebotenen Darlegung in den Urteilsgründen hängt von der jeweiligen Beweislage ab, die so beschaffen sein kann, dass sich die Erörterung bestimmter Beweisumstände aufdrängt (vgl. KK-[X.]/[X.], 8. Aufl., [X.], § 261 Rn. 60; [X.], Urteil vom 27. April 2017 - 4 [X.], BeckRS 2017, 111615 Rn. 8 mwN). Bestreitet - wie hier - der Angeklagte die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, kann es daher nicht genügen, im Rahmen der Beweiswürdigung allgemein darauf hinzuweisen, dass die Nebenklägerin als einzige unmittelbare Tatzeugin in ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung die bei der polizeilichen Aussage gemachten Angaben im [X.] widerspruchsfrei wiederholt habe (vgl. Senat, Urteil vom 14. Oktober 2015 - 2 [X.], [X.], 148, 149); dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Entstehungsgeschichte einer Aussage gerade bei Sexualdelikten besondere Bedeutung zukommt (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Mai 2020 - 2 StR 367/19, BeckRS 2020, 12561 Rn. 16 mwN).

Eine nähere Darstellung der entscheidungserheblichen Angaben der Nebenklägerin [X.].    im Rahmen ihrer polizeilichen Zeugenvernehmung war hier erforderlich, da die aus Sicht der Sachverständigen bestehenden Abweichungen im [X.] nach deren Eindruck derart gewichtig gewesen sind, dass diese in der Hauptverhandlung vom Inhalt ihres schriftlichen Gutachtens abgerückt ist. Dies ist nicht vereinbar mit der von der [X.] angenommenen Aussagekonstanz. Dem Senat ist es ohne Mitteilung der entsprechenden Angaben der Nebenklägerin nicht möglich nachzuvollziehen, ob die Überzeugungsbildung des [X.]s auf Grund einer Würdigung aller wesentlichen Umstände im [X.] der Nebenklägerin erfolgt ist (vgl. [X.], Urteil vom 6. Dezember 2012 - 4 [X.], [X.], 180, 181 mwN).

Dies gilt auch deswegen, weil nach den Ausführungen in den Urteilsgründen, die einzelnen Aussagen der Nebenklägerin deckten sich im [X.]geschehen, jedenfalls nicht auszuschließen ist, dass sich Abweichungen in Bezug auf die Schilderungen des [X.] ergeben haben könnten. Insoweit ist mangels näherer Angaben hierzu eine Überprüfung nicht möglich, ob etwaige diesbezüglich bestehende Differenzen im Rahmen der Beweiswürdigung zutreffend gewichtet worden sind (vgl. Senat, Urteil vom 22. Januar 2014 - 2 StR 314/13, [X.], 152, 153 mwN).

b) Das Urteil des [X.]s ist weiter insofern lückenhaft, als die [X.] nicht in einer für das [X.] nachvollziehbaren Weise dargelegt hat, warum es sich nicht dem Gutachten der Sachverständigen angeschlossen hat (vgl. Senat, Urteil vom 11. Januar 2017 - 2 [X.], [X.], 222 mwN). Folgt das Tatgericht dem Gutachten eines Sachverständigen nicht, muss es seine [X.]genansicht insbesondere unter Auseinandersetzung mit dessen Ausführungen begründen, um dem [X.] eine Nachprüfung zu ermöglichen, ob es über das bessere Fachwissen als der Sachverständige verfügt (vgl. Senat, Urteil vom 11. Januar 2017 - 2 [X.], [X.], 222; [X.], Beschluss vom 2. Dezember 2014 - 4 StR 381/14, [X.], 82, 83 jeweils mwN).

Eine hinreichende Auseinandersetzung mit dem Gutachten erfordert insbesondere, dass das [X.] die Stellungnahme des Sachverständigen zu den [X.]sichtspunkten, auf die dieser seine abweichende Auffassung stützt, wiedergibt und sich damit näher befasst (vgl. [X.], Urteil vom 14. September 2017 - 4 StR 45/17, [X.], 199, 200). Dies ist hier jedoch nicht im erforderlichen Maße erfolgt. Die [X.] setzt sich zwar mit verschiedenen Hypothesen der Sachverständigen auseinander, beschränkt sich im Hinblick auf die angenommene [X.] der Angaben der Nebenklägerin aber auf die Mitteilung, dass diese aus ihrer Sicht zum [X.]geschehen konstant seien, während die Sachverständige diesbezüglich Abweichungen festgestellt habe. Den Urteilsgründen ist bereits nicht zu entnehmen, in Bezug auf welche Angaben der Nebenklägerin die Sachverständige ein abweichendes [X.] erblickt haben will. Eine nähere Auseinandersetzung des [X.]s mit der diesbezüglichen Beurteilung durch die Sachverständige und der sich daraus ergebenden Diskrepanz zu seiner eigenen Würdigung erfolgt ebenfalls nicht. So ist es für den Senat nicht nachzuvollziehen, ob die [X.] aus dem [X.] der Nebenklägerin in [X.] Weise zu der Einschätzung gelangt ist, ihre Angaben beruhten auf tatsächlichen Erlebnissen.

c) Schließlich fehlt für die Annahme des [X.]s, es habe durch das Gutachten der Sachverständigen eigene Sachkunde gewonnen, an einer tragfähigen, nachvollziehbaren Begründung. Die [X.] hat in den Urteilsgründen nicht nur in maßgeblichem Umfang die aus ihrer Sicht bestehenden Unzulänglichkeiten des Gutachtens, dem falsche Anknüpfungstatsachen zugrunde lägen, dargelegt, sondern ebenso ausgeführt, dass die Sachverständige, deren Schlussfolgerungen sie zum Teil für „abwegig“ oder „vollkommen fernliegend“ erachtete, die Differenzen zwischen ihrem schriftlichen bzw. mündlichen Gutachten nicht zu erklären vermochte. Während bereits der letztgenannte Umstand Zweifel an deren Sachkunde nahelegen kann (vgl. [X.], Beschluss vom 23. August 2012 - 1 StR 389/12, [X.], 98, 99), kommt ein von der [X.] nicht nur partiell, sondern im Ganzen nicht für brauchbar erachtetes Gutachten als Grundlage zur Erlangung eigener Sachkunde in der Regel nicht in Betracht (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Januar 2000 - 5 [X.], [X.], 437; KK/[X.]-Krehl, 8. Aufl., [X.], § 244 Rn. 57). Jedenfalls hätte es näherer Begründung durch das [X.] bedurft. Es beschränkt sich jedoch in erster Linie auf die Darlegung, dass die Sachverständige anschaulich ihre Methodik beschrieben habe. Bei dieser handelt es sich jedoch lediglich um ein abstraktes Theorem, dessen Beschreibung nicht genügt, um die Annahme der aus Sicht der [X.] für die Beurteilung des konkreten Sachverhalts notwendigen Sachkunde zu begründen.

d) Die aufgezeigten Rechtsfehler führen zur Aufhebung der Fälle [X.] - 5 der Urteilsgründe und entziehen dem [X.] seine Grundlage. Die Sache bedarf daher insoweit erneuter Verhandlung und Entscheidung, zweckmäßigerweise unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen.

2. Der Senat macht von der Möglichkeit [X.]brauch, das Verfahren an ein anderes [X.] zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 [X.]).

3. Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:

Rechtsfehlerhaft hat die [X.] die Bildung einer nachträglichen [X.]samtstrafe mit den Einzelstrafen aus dem Urteil des [X.] vom 17. April 2014 unterlassen und stattdessen lediglich einen Härteausgleich vorgenommen. Die Annahme des [X.]s, eine [X.]samtstrafenbildung sei aufgrund der Erledigung der Vollstreckung nicht mehr möglich, erweist sich als unzutreffend. Zwar ist die Reststrafe aus dem Urteil des [X.] vom 17. April 2014 mit Beschluss des [X.] vom 29. Mai 2018 und damit noch vor der jetzigen Hauptverhandlung im [X.] 2019 erlassen worden. Indes lagen auch im [X.]punkt des Urteils des [X.]s am 9. Dezember 2019 die Voraussetzungen für eine nachträgliche [X.]samtstrafenbildung vor. Für die Anwendbarkeit des § 55 StGB kommt es nach Aufhebung eines Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Tatgericht auf den Vollstreckungsstand zum [X.]punkt der ersten angefochtenen Entscheidung, hier den 16. Februar 2018, an (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschluss vom 10. Januar 2017 - 3 StR 497/16, [X.], 169 mwN). Zu diesem [X.]punkt aber war die Reststrafe aus der amtsgerichtlichen Entscheidung noch nicht erledigt. Unter Beachtung dessen liegt ausgehend von den Feststellungen der [X.] eine [X.]samtstrafenfähigkeit hinsichtlich sämtlicher verfahrensgegenständlicher Einzelstrafen mit jenen aus dem Urteil des [X.] vom 17. April 2014 vor.

Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Angeklagte durch die unterlassene Bildung einer nachträglichen [X.]samtstrafe beschwert ist. Nach den Feststellungen wurden von der [X.]samtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des [X.] rund zehn Monate vollstreckt. Insoweit liegt die Möglichkeit nahe, dass die Anrechnung dieses vollstreckten Teils auf die [X.]samtfreiheitsstrafe nach § 51 Abs. 2 StGB deren Erhöhung in Folge der Berücksichtigung der Einzelstrafen aus dem Urteil des [X.] vom 17. April 2014 überstiegen hätte.

Franke     

        

Krehl     

        

Eschelbach

        

Zeng     

        

Meyberg     

        

Meta

2 StR 165/20

19.11.2020

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Rostock, 9. Dezember 2019, Az: 13 KLs 132/19 (1)

§ 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.11.2020, Az. 2 StR 165/20 (REWIS RS 2020, 2218)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2218

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