Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 15.07.2010, Az. 1 BvR 2681/09

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2010, 4785

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Keine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art 3 Abs 1, 20 Abs 1, 20 Abs 3 GG) bei Versagung von Beratungshilfe unter Verweisung auf zumutbare Selbsthilfe - hier: Zumutbarkeit der Verweisung an die Behörde zwecks Sachverhaltsaufklärung


Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz - [X.]).

I.

2

Die Beschwerdeführerin erhielt im Mai 2009 eine Vollstreckungsankündigung des Hauptzollamts unter Bezugnahme auf einen Bescheid der [X.] aus dem [X.] und auf Leistungen, die im Jahr 2009 fällig geworden seien. Da sie nach Prüfung ihrer Unterlagen keinerlei Anhaltspunkte dafür habe finden können, welche Forderungen aus welchen Gründen bei ihr vollstreckt werden sollten, wandte sich die Beschwerdeführerin an das Amtsgericht und beantragte Beratungshilfe.

3

Der Rechtspfleger wies den Antrag als mutwillig zurück. Die Antragstellerin habe die Herkunft der Forderung nicht erklären können und auf die Klärung durch den Anwalt verwiesen. Sie habe weder beim Hauptzollamt noch beim [X.] nachgefragt.

4

Mit der Erinnerung wies die Beschwerdeführerin darauf hin, dass die personelle Einrichtung des [X.]s eine angemessene Beratung ausschließe. Eine telefonische Erklärung durch das Hauptzollamt sei nicht zu erwarten gewesen. Es sei auch die Dringlichkeit der Lage zu bedenken gewesen.

5

Nachdem der Rechtspfleger der Erinnerung nicht abgeholfen hatte, wurde sie mit richterlichem Beschluss zurückgewiesen, weil die Wahrnehmung der Rechte im vorliegenden Fall mutwillig im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 3 [X.] sei. Der Rechtspfleger habe insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass der Antragstellerin vor der Einholung anwaltlicher Hilfe zunächst die zumutbare Eigeninitiative abzuverlangen sei, die auch ein durchschnittlicher Rechtssuchender aufbringen würde, der die Kosten der anwaltlichen Tätigkeit selbst tragen müsse. Angesichts des Hinweises der Antragstellerin, dass der der Vollstreckung zugrundeliegende Verwaltungsakt aus dem [X.] offensichtlich fehlerhaft sei, weil er Forderungen des Jahres 2009 beinhalte, dürfe von ihr verlangt werden, dass sie zunächst beim [X.] vorspreche, um die Aufhebung dieses - wenn auch bestandkräftigen - Titels zu erreichen und somit die Grundlage der Vollstreckung zu beseitigen. In Entscheidungen über eine Gegenvorstellung und eine Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin wurde diese Auffassung bestätigt.

6

Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung der [X.](Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG). Allein der Druck der bevorstehenden Zwangsvollstreckung sei so stark, dass sich ein bemittelter Rechtsuchender an einen Rechtsanwalt gewandt hätte. Die Beschwerdeführerin, die nur über eine einfache Schulbildung verfüge, sei existentiell betroffen.

II.

7

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. [X.] nach § 93a Abs. 2 [X.] liegen nicht vor.

8

Die [X.] fordert eine weitgehende Angleichung der Situation von [X.] und [X.]n im Bereich des gerichtlichen wie außergerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. [X.] 122, 39 <48 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, NJW 2009, [X.]). Dabei ist der [X.] einem solchen [X.] gleichzustellen, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt (vgl. [X.] 81, 347 <357>; 122, 39 <51>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, NJW 2009, [X.]). Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfahrensrechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist.

9

Bei der Auslegung des Beratungshilfegesetzes und insbesondere des Merkmals der Mutwilligkeit (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 [X.]) hat das Amtsgericht eine Abwägung im Einzelfall zu treffen. Das [X.] kann die Wertung des Amtsgerichts nur daraufhin überprüfen, ob es die Bedeutung oder Reichweite der [X.] verkannt hat. Dabei ist von dem Vortrag auszugehen, der der Entscheidung des Amtsgerichts zugrunde lag.

Anders als der pauschale Verweis auf die Beratungspflicht der Behörde im Widerspruchsverfahren (vgl. [X.], NJW 2009, [X.]3417) überschreitet die Wertung des hier vorliegenden richterlichen Beschlusses, wonach zunächst Eigeninitiative der Beschwerdeführerin erwartet werden könne, die Grenzen der [X.] nicht. Soweit die Beschwerdeführerin den Bescheid, auf den sich die Vollstreckungsankündigung bezog, noch nicht einmal kannte, lässt dies entweder auf Nachlässigkeit in eigenen Angelegenheiten oder auf ein offensichtliches Versehen der Behörde schließen. Es darf in einer solchen Situation von einer Rechtsuchenden erwartet werden, durch eine Nachfrage bei der Behörde den Sachverhalt zumindest in groben Zügen zunächst selbst aufzuklären.

Zu einer zumutbaren Eigeninitiative gehört hier der Versuch, sich die wesentlichen Unterlagen zu beschaffen und bei der [X.]nach der Existenz des Bescheids zu fragen. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Schritte von der Beschwerdeführerin unternommen wurden. Ein bemittelter kostenbewusster Rechtsuchender würde einen Rechtsanwalt nicht bereits zu einer derartigen Geschäftsbesorgung, sondern erst zur Klärung von Rechtsfragen beauftragen.

Soweit sich die Beschwerdeführerin auf den Druck der bevorstehenden Zwangsvollstreckung beruft, so ist damit noch nicht hinreichend erklärt, warum eine Nachfrage bei der Behörde zum Sachverhalt nicht in Frage käme.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 2681/09

15.07.2010

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend AG Lichtenberg, 7. August 2009, Az: 170a II 1614/09, Beschluss

Art 20 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 3 Abs 1 GG, § 1 Abs 1 Nr 3 BeratHiG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 15.07.2010, Az. 1 BvR 2681/09 (REWIS RS 2010, 4785)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 4785

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 BvR 804/11 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Rechtswahrnehmungsgleichheit gebietet keine Gewährung von Beratungshilfe, wenn lediglich weitere Unterlagen zur Feststellung der Leistungspflicht …


1 BvR 440/10 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verweigerung von Beratungshilfe für Widerspruch in sozialrechtlichem Verfahren verletzt Gewährleistung der Rechtswahrnehmungsgleichheit - …


1 BvR 1179/09 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Keine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art 3 Abs 1, 20 Abs 1, 20 Abs 3 …


1 BvR 432/10 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Keine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit bei Verweisung auf zumutbare Selbsthilfe - hier: Einwendungen von Tatsachenfragen …


1 BvR 465/10 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Keine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art 3 Abs 1, 20 Abs 1, 20 Abs 3 …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.