BT-Drucksache 18/8986

Aufarbeitung von Misshandlungen auf den geschlossenen Stationen zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten in der DDR

Vom 1. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8986
18. Wahlperiode 01.06.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Renate Künast, Dr. Harald Terpe, Steffi Lemke, Ulle Schauws,
Annalena Baerbock, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), Katja Dörner,
Kai Gehring, Katja Keul, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu,
Dr. Konstantin von Notz, Claudia Roth (Augsburg), Corinna Rüffer,
Elisabeth Scharfenberg, Hans-Christian Ströbele und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Aufarbeitung von Misshandlungen auf den geschlossenen Stationen zur
Behandlung von Geschlechtskrankheiten in der DDR

Neuere Forschungsergebnisse (Steger, F./Schochow, M.: Disziplinierung durch
Medizin) legen den Verdacht nahe, dass geschlossene venerologische Stationen
in der ehemaligen DDR – offiziell gedacht zur Behandlung von Geschlechts-
krankheiten - nicht nur zu medizinischen, sondern auch zu disziplinarischen Zwe-
cken genutzt wurden. Frauen, die aus politischen oder anderen Gründen dem
DDR-Staat unliebsam waren, sollen dort im öffentlichen Auftrag systematisch
misshandelt worden sein.
Für die Poliklinik Mitte in Halle (Saale) ist erwiesen, dass dort über 20 Jahre, von
1961 bis 1982, Frauen eingesperrt und willkürlichen, teils außerordentlich
schmerzhaften Behandlungen ausgesetzt waren, die medizinisch in dieser Form
nicht indiziert waren. Frauen, die dort untergebracht waren, beschreiben tägliche,
medizinisch nicht begründete, aber sehr schmerzhafte Untersuchungen bzw. Be-
handlungen durch das Klinikpersonal. Die Behandlungen wurden durchgeführt,
obwohl die meisten der Frauen körperlich vollständig gesund waren. Sie litten
insbesondere nicht an Geschlechtskrankheiten, die eine Behandlung auf einer ge-
schlossenen venerologischen Station hätten rechtfertigen können. Vielmehr
wurde ihnen entweder eine „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asozia-
les Verhalten “ nach § 249 des Strafgesetzbuches der DDR vorgeworfen oder sie
wurden auf Grundlage der „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Ge-
schlechtskrankheiten“ zwangseingewiesen. Die Scheinbehandlungen wurden
dann offenbar lediglich durchgeführt, um die betroffenen Frauen zu schikanieren.
Laut Hausordnung der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) stand die „Erziehung zur
sozialistischen Persönlichkeit im Vordergrund“. Durch die Erziehung müsse „er-
reicht werden, dass diese Bürger nach ihrer Krankhausentlassung die Gesetzte
unseres Staates achten, eine gute Arbeitsdisziplin zeigen und sich in ihrem Ver-
halten in unserer Gesellschaft von den Prinzipien des sozialistischen Zusammen-
lebens der Bürger unseres Staates leiten lassen“. Regelverstöße gegen die Haus-
ordnung wurden nach Aussagen der Geschädigten durch stundenlanges Stehen
oder mit Fieberspritzen, die heftige körperliche Reaktionen hervorriefen, bestraft.

Drucksache 18/8986 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

Es ist bisher nicht hinreichend aufgeklärt, ob die Poliklinik Mitte in Halle (Saale)
ein Einzelfall war oder ob auf anderen geschlossenen venerologischen Stationen
der DDR ähnliche Misshandlungen mit dem Ziel der Disziplinierung zu „sozia-
listischen Bürgerinnen“ stattgefunden haben.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Misshandlungen von

Frauen in der geschlossenen venerologischen Station der Poliklinik Mitte in
Halle (Saale)?

2. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung darüber, inwieweit geschlos-
sene verenologische Stationen in der DDR flächendeckend im oben genann-
ten Sinne zu „disziplinarischen“ Zwecken genutzt wurden?

3. In welchen anderen medizinischen Einrichtungen der DDR hat es nach
Kenntnis der Bundesregierung unter der Vorgabe einer medizinischen Be-
handlung gleiche oder ähnliche Misshandlungen zu Sanktionszwecken gege-
ben (bitte Einrichtungen und Zeiträume der Misshandlungen konkret ange-
ben)?

4. Wie viele Frauen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in geschlosse-
nen venerologischen Stationen der DDR zwangsbehandelt, und bei wie vie-
len davon lag nach Einschätzung der Bundesregierung keine medizinische
Indikation für die Behandlung vor?

5. Welches Anlassverhalten bei den betroffenen Frauen lag nach Kenntnis der
Bundesregierung der Zwangseinweisung auf diesen Stationen zugrunde?

6. Wie lange war die durchschnittliche Verweildauer der Frauen auf den Stati-
onen, und welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über den typischen
„Behandlungsablauf“ auf den venerologischen Stationen?

7. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Art der Misshandlun-
gen von Frauen auf geschlossenen venerologischen Stationen der DDR?

8. Waren diese Misshandlungen nach Kenntnis der Bundesregierung nach da-
maligem DDR-Recht strafbar?

9. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über eine Zusammenarbeit zwi-
schen den geschlossenen venerologischen Stationen der DDR und der Staats-
sicherheit der DDR oder anderen Polizei- und Sicherheitsbehörden?

10. Welchen weiteren Forschungsbedarf sieht die Bundesregierung, um Vor-
gänge der oben genannten Art in der ehemaligen DDR weiter aufzuklären?
a) Falls aus ihrer Sicht kein Forschungsbedarf besteht, wieso nicht?
b) Falls sie weiteren Forschungsbedarf sieht, was hat die Bundesregierung

getan bzw. wird sie zukünftig tun, um Forschungsvorhaben zu diesem
Thema zu unterstützen?

11. Inwieweit kann die Bundesregierung ausschließen, dass medizinisches Per-
sonal, das sich an Misshandlungen in venerologischen Abteilungen der DDR
beteiligt hat, auch heute noch in medizinischen Berufen tätig ist?

12. Hat die Bundesregierung Kenntnisse über Personen, die sich an Misshand-
lungen in den geschlossenen venerologischen Stationen der DDR beteiligt
haben sollen, und sind Behandlungs- und andere Unterlagen gesichert?

13. Liegen der Bunderegierung Informationen über vergleichbare Zwangsbe-
handlungen von Frauen in geschlossenen venerologischen Stationen in ande-
ren Staaten vor?
Wenn ja, wo, und mit welchem Ziel wurden Frauen so misshandelt?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8986
 

14. Hat die Bundesregierung Hinweise über andere medizinische Zwangsbe-
handlungen von Frauen in der DDR?

15. Warum werden die Opfer der oben genannten Misshandlungen auf geschlos-
senen venerologischen Stationen nach Einschätzung der Bundesregierung
nicht von den bisherigen Rehabilitierungsgesetzen zu DDR-Unrecht erfasst?

16. Befürwortet die Bundesregierung eine Entschädigung der Opfer dieser Miss-
handlungen?
Falls nicht, warum nicht?

17. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung für eine nachträgliche
Kompensation der Opfer?

18. Welcher gesetzgeberische Handlungsbedarf wäre dafür gegebenenfalls not-
wendig, und wann wird die Bundesregierung einen entsprechenden Rege-
lungsvorschlag auf den Weg bringen?

Berlin, den 1. Juni 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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