BT-Drucksache 18/8875

Seenotrettung im Mittelmeer - Menschen schützen, humanitäre Verantwortung übernehmen, solidarisch handeln

Vom 22. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8875
18. Wahlperiode 22.06.2016
Antrag
der Abgeordneten Luise Amtsberg, Annalena Baerbock, Volker Beck
(Köln), Dr. Franziska Brantner, Agnieszka Brugger, Uwe Kekeritz, Katja
Keul, Tom Koenigs, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan
Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg),
Corinna Rüffer, Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Seenotrettung im Mittelmeer – Menschen schützen, humanitäre Verantwortung
übernehmen, solidarisch handeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit dem Jahr 2000 sind an den Außengrenzen der Europäischen Union (EU) über
35.000 Menschen ums Leben gekommen, die auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung
und Elend waren. Fast 3.000 Ertrunkene zählte die Internationale Organisation für
Migration (IOM) allein in diesem Jahr. Das sind bereits jetzt 1.000 tote Geflüchtete
mehr als noch vor einem Jahr. Über die Hälfte der in diesem Jahr ertrunkenen Ge-
flüchteten sind allein in den vergangenen Wochen umgekommen. Mitten in Europa,
in unserer direkten Nachbarschaft, entwickelt sich damit eine grauenvolle Dynamik.
Das Massensterben im Mittelmeer ist eine humanitäre Katastrophe, für die wir in der
EU endlich angemessen Verantwortung übernehmen müssen. Der Tod so vieler
Menschen verlangt die Bereitschaft aller politisch Verantwortlichen, das eigene
Handeln selbstkritisch zu überprüfen: Es stellt sich die Frage, ob wir, die Mitglied-
staaten der Europäischen Union, wirklich alles getan haben und tun, um dieses
menschliche Leid zu verhindern.
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind nach den einschlägigen völker-
rechtlichen Konventionen wie dem UN-Seerechtsübereinkommen (SRÜ), dem In-
ternationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und
dem Internationalen Übereinkommen über den Such- und Rettungsdienst auf See
verpflichtet, jeder Person, die sich auf See in Gefahr befindet oder in Seenot gerät,
Hilfe zu leisten. Die Pflicht zur Seenotrettung beinhaltet ebenfalls das Verbringen
der in Seenot geratenen Personen an einen sicheren Ort. Folglich müssen sich um-
liegende Küstenstaaten schnellstmöglich darauf einigen, in welchen Hafen die be-
treffenden Schiffe einlaufen dürfen.
Staaten kommt in diesem Zusammenhang die besondere Pflicht zu, Notfallortungs-
und Rettungseinrichtungen in den dafür festgelegten Gebieten zu errichten und zu
unterhalten, um die Sicherheit auf See zu gewährleisten (Artikel 98 Absatz 2 SRÜ)
sowie notwendige Überwachungs-, Kommunikations- und Operationsmaßnahmen

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zu ergreifen und Vereinbarungen zu treffen, um die Seenotrettung entlang ihrer Küs-
ten zu gewährleisten.
Diese völkerrechtlichen Verpflichtungen – zusammen mit den europarechtlichen
Pflichten zum Schutz der EU-Außengrenze – stellen insbesondere die Mittelmeer-
anrainerstaaten der EU bereits seit vielen Jahren vor enorme Herausforderungen. Bis
heute konnten sich die europäischen Mitgliedstaaten nicht darauf einigen, eine ge-
meinsame zivile europäische Seenotrettungsmission nach dem Vorbild von Mare
Nostrum ins Mittelmeer zu entsenden. Das Mittelmeer ist jedoch unser gemeinsames
europäisches Meer, es ist eben nicht nur ein griechisches, italienisches oder maltesi-
sches Meer.
Festzustellen ist aber, dass hier auf Seiten der EU – trotz einiger Schritte in die rich-
tige Richtung (wie z. B. die Verordnung 656/2014 über die „Überwachung der eu-
ropäischen Seeaußengrenzen“) – immer noch große Lücken und Handlungsnotwen-
digkeiten bestehen.
Die völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung gilt auch für die private Handels-
schifffahrt (Artikel 98 SRÜ). Allein im Mittelmeer wurden in den letzten Jahren
zehntausende Schiffbrüchige durch sie gerettet – eine außerordentliche humanitäre
Leistung. Darauf haben nicht nur der „Verband Deutscher Reeder“, sondern auch
die „Vereinigung der Europäischen Reedereien“, die „Internationale Schifffahrtsge-
sellschaft“ sowie die Europäische und die Internationale Transportarbeiterföderation
bereits vor einem Jahr in einer gemeinsamen Erklärung hingewiesen: Diese abertau-
senden Seenotrettungsmaßnahmen stellen nicht eine enorme logistische Herausfor-
derung und große finanzielle Belastungen für die Redereien dar. Angesichts der vie-
len Toten und des Leids der Überlebenden würden die Seeleute auch immer häufiger
„an ihre körperlichen und psychischen Grenzen stoßen“. Diese Verbände haben da-
her nicht nur an die Bundesregierung, sondern an alle Mitgliedstaaten und die EU
appelliert, die bestehenden Seenotrettungsmaßnahmen der EU im Mittelmeer – al-
lein schon regional – deutlich auszuweiten und z. B. die Küstenwachboote der Mit-
gliedstaaten besser auszurüsten.
Seit einiger Zeit sind auch neue Akteure im Bereich der Seenotrettung im Mittelmeer
aktiv: zivilgesellschaftliche Organisationen und zwar sowohl etablierte Vereinigun-
gen wie „Ärzte ohne Grenzen“ als auch kleine, aber wirksame, aus privater Eigen-
initiative entstandene Initiativen wie „Sea Watch“, „SOS MEDITERRANEE“ oder
„Jugend rettet“. Sie alle wollen angesichts des Leids und des Sterbens so vieler Men-
schen nicht mehr länger tatenlos zusehen, sondern handeln. Sie haben Spenden ge-
sammelt und damit eigene Schiffe gekauft, diese instandgesetzt und in den humani-
tären Einsatz ins Mittelmeer entsandt. Vollständig ehrenamtlich und ohne staatliche
Unterstützung wollen sie Menschen vor dem Ertrinken retten. Aufgrund dieses En-
gagements überlebten allein in diesem Jahr über 3.000 Flüchtlinge. Der Deutsche
Bundestag bedankt sich bei diesen zivilgesellschaftlichen Helferinnen und Helfern
ausdrücklich für dieses humanitäre Engagement.
Unser ausdrücklicher Dank gebührt aber auch den vielen Soldatinnen und Soldaten,
die im Rahmen der Mission EUNAVFOR MED tagtäglich unter enormem physi-
schen und psychischen Druck viele Menschen aus Seenot retten. Zwischen Mai 2015
und Anfang Juni 2016 konnten rund 15.000 Menschen durch die Bundesmarine vor
dem Ertrinken gerettet werden. Schwerpunkt der Mission EUNAVFOR MED war
und ist jedoch die militärische Bekämpfung von Schlepperaktivitäten durch Über-
wachung, Aufklärung und Bekämpfung. Diese Ausgestaltung des Mandates ist hoch
riskant und kontraproduktiv, insbesondere da die notwendige Seenotrettung so in
den Hintergrund gerückt ist. Das Mandat sollte so angepasst werden, dass der Schutz
der Geflüchteten die höchste Priorität der Mission darstellt.

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Ein nach wie vor ungelöstes Problem ist, dass Kapitäninnen und Kapitäne Gefahr
laufen, sich strafrechtlich schuldig zu machen, wenn sie Drittstaatsangehörige aus
Seenot retten und nachfolgend (auch ohne gültige Einreisepapiere) an einem Hafen
innerhalb der Europäischen Union absetzen. Die EU hat es versäumt, rechtlich klar-
zustellen, dass solche Strafverfahren wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ nicht
mehr eingeleitet werden. Eine solche rechtliche Klarstellung – also die Herstellung
von Rechtssicherheit für den privaten und zivilgesellschaftlichen Einsatz – ist daher
mehr als überfällig.
Alle Versuche, das Sterben von Geflüchteten auf dem Mittelmeer mithilfe von Ab-
schottungsmaßnahmen zu beenden, werden scheitern. Weder die Kooperation mit
der Türkei noch der anvisierte Ausbau von Kooperationen mit afrikanischen Staaten
werden die Flucht über das Mittelmeer beenden können. Menschen, die vor Krieg,
Verfolgung und Not aus ihrer Heimat fliehen müssen, werden, solange sie nicht auf
legalem Weg in die EU gelangen können, auch in Zukunft in unsichere Boote stei-
gen. Deshalb braucht es eine grundlegende Kurskorrektur – hin zu einer menschen-
rechtsorientierten europäischen Flüchtlingspolitik, die solidarisch innerhalb der EU
ist und der völkerrechtlichen Verpflichtung den Menschen gegenüber gerecht wird.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich im Europäischen Rat dafür einzusetzen, folgende Schritte gegen das Massen-
sterben von Schutzsuchenden im Mittelmeer und an den Außengrenzen der EU ein-
zuleiten:
1. alles dafür zu tun, dass das Sterben unzähliger Schutzsuchender an den Außen-

grenzen der EU beendet wird;
2. sofortige Bündelung aller vorhandenen Ressourcen in den EU-Mitgliedstaaten

um regelmäßig und systematisch Seenotrettungsmaßnahmen durchzuführen.
Mittelfristig soll der Aufbau eines zivilen europäischen Seenotrettungsdienstes
– verbunden mit einem geografischen und logistischen Ausbau der vorhandenen
zivilen Seenotrettungskapazitäten – ermöglicht werden;

3. bessere und systematische Zusammenführung sämtlicher zur Verfügung stehen-
der technischer und operativer Informationen für zielgerichtete Seenotrettungs-
maßnahmen;

4. Verbesserung der Koordination zwischen EU-Mitgliedstaaten, um einen zügige
Rettung Schiffbrüchiger sowie die schnelle Identifizierung eines sicheren Ha-
fens zu erleichtern, in dem die Flüchtlinge aufgenommen werden können;

5. Schaffung eines Systems zur solidarischen Verteilung innerhalb der EU von aus
Seenot geretteten Flüchtlingen;

6. Klarstellungen bei der geplanten Verordnung zur Einrichtung einer Europäi-
schen Grenz- und Küstenwache dahingehend, dass
– die Seenotrettung explizit im Aufgabenprofil der geplanten Europäischen

Grenz- und Küstenwache verankert wird und diese eng mit der europäischen
Seenotrettungsmission kooperiert, mit klarem Vorrang der Rechte Schiffbrü-
chiger und Geflüchteter;

– die geplante Europäische Grenz- und Küstenwache auf den Grundsatz der
Nichtzurückweisung aus der Genfer Flüchtlingskonvention explizit ver-
pflichtet wird;

– ein individuelles Beschwerderecht für solche Personen verankert wird, die
durch Eingriffshandlungen der Europäischen Grenz- und Küstenwache be-
troffen wurden;

Drucksache 18/8875 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

– die Erweiterung des Mandats und der Aufgabenbereich der neuen Europäi-
schen Grenz- und Küstenwache mit einer Erweiterung und Stärkung der par-
lamentarischen Kontrolle durch das Europäische Parlament einhergehen (im
Vergleich zu den derzeit ja nur eingeschränkten parlamentarischen Kontroll-
möglichkeiten der europäischen Außengrenzagentur Frontex); hierzu muss
auch das Handeln der Beamten und Beamtinnen durch die EU-Grundrechte-
Agentur regelmäßig kontrolliert werden und bestehende Strukturen wie der
Grundrechtsbeauftragte von Frontex und das Frontex-Konsultationsforum
müssen rechtsverbindlich gestärkt werden;

7. Schaffung eines finanziellen Ausgleichs auf europäischer Ebene für entstandene
Verluste von Handels- und Kreuzfahrtschiffen, Fähren und Fischereifahrzeugen
durch Seenotrettungen;

8. europarechtliche Klarstellung, damit Kapitäninnen und Kapitäne, die Dritt-
staatsangehörige aus Seenot retten und nachfolgend (auch ohne gültige Einrei-
sepapiere) in einem Hafen innerhalb der Europäischen Union absetzen, diesbe-
züglich nicht mehr strafrechtlich belangt werden dürfen.

Berlin, den 21. Juni 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung

Dieser Antrag ergänzt den Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Flüchtlingsschutz und faire Ver-
antwortungsteilung in einer geeinten Europäischen Union“ (Bundestagsdrucksache 18/8244).

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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