BT-Drucksache 18/8755

Einhaltung der rechtlichen Vorgaben bei der Bearbeitung von Asylanträgen von Personen, die eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität geltend machen

Vom 1. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8755
18. Wahlperiode 01.06.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Luise Amtsberg, Ulle Schauws,
Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu,
Dr. Konstantin von Notz, Corinna Rüffer, Hans-Christian Ströbele und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einhaltung der rechtlichen Vorgaben bei der Bearbeitung von Asylanträgen von
Personen, die eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer sexuellen
Orientierung oder Geschlechtsidentität geltend machen

Ende April 2016 hat „Der Tagesspiegel“ darüber berichtet, dass der Asylantrag
eines Syrers abgelehnt worden sei, der geltend gemacht hatte, wegen seiner Ho-
mosexualität Verfolgung zu befürchten. Die Begründung für die Ablehnung sei,
dass er in seiner Heimat seine Sexualität nicht ausgelebt, kaum jemand von seiner
sexuellen Orientierung gewusst habe und es mithin an einer „konkreten Verfol-
gungshandlung“ fehle (www.tagesspiegel.de/politik/fehlerhafter-asylbescheid-
bundesamt-vertraute-syriens-diktator-baschar-al-assad/13520980.html). In ihrer
Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf zur Ein-
stufung der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko
und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten führt die Bundesre-
gierung aus, dass „Homosexualität [… in Algerien] für die Behörden dann straf-
rechtlich relevant [wird], wenn sie offen ausgelebt wird“ (Bundestagsdrucksa-
che 18/8039, S. 21). Daraus schlussfolgert sie, dass eine systematische Verfol-
gung homosexueller Personen in Algerien nicht stattfinde. Voraussetzung der Be-
stimmung sicherer Herkunftsstaaten ist jedoch nicht die Abwesenheit systemati-
scher Verfolgung, sondern vielmehr, dass „Sicherheit vor politischer Verfolgung
landesweit und für alle Personen- und Bevölkerungsgruppen besteh[t]“
(BVerfGE 94, 115, s. auch Stellungnahme von Rechtsanwalt Dr. Reinhard Marx
zum Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Einstufung der Demokra-
tischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen
Republik als sichere Herkunftsstaaten, Innenausschussdrucksache 18(4)546 B,
S. 5). Darüber hinaus hat der Gerichtshof der Europäischen Union bereits am
7. November 2013 entschieden, dass bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerken-
nung der Flüchtlingseigenschaft nicht erwartet werden könne, dass Asylsuchende
ihre Homosexualität in ihrem Herkunftsland geheimhalten oder Zurückhaltung
beim Ausleben ihrer sexuellen Orientierung üben, um die Gefahr einer Verfol-
gung zu vermeiden (Europäischer Gerichtshof – EuGH, Urteil vom 7. November
2013, Rs. C-199/12 bis C-201/12, Minister voor Immigratie en Asiel ./. X und Y).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Umstände haben nach Kenntnis bzw. Einschätzung der Bundesre-

gierung dazu geführt, dass der in der Vorbemerkung der Fragesteller er-
wähnte Asylantrag mit der genannten Begründung abgelehnt worden ist?

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2. Was ist der Stand der internen Ermittlungen im Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) in dieser Angelegenheit, und welche Konsequenzen hat
das BAMF diesbezüglich gezogen?

3. In wie vielen Fällen hat das BAMF seit der Entscheidung des EuGH vom
7. November 2013 Asylanträge von Menschen, die eine begründete Furcht
vor Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidenti-
tät geltend gemacht haben, sinngemäß mit dieser Begründung abgelehnt
(bitte nach Monaten und den zehn häufigsten Herkunftsstaaten aufschlüs-
seln)?

4. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass es über die in Frage 2 erfassten
Fälle hinaus weitere gleichgelagerte Fälle gab, von denen sie keine Kenntnis
hat, und wenn nein, wie hoch schätzt sie deren Anzahl ein?

5. In wie vielen Fällen hat das BAMF vor bzw. nach Erhebung einer Klage seit
dem 7. November 2013 derartige Bescheide wieder aufgehoben und die
Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (bitte nach Monaten und den zehn häufigs-
ten Herkunftsstaaten aufschlüsseln)?
Aufgrund welcher Erwägungen und infolge welcher internen Maßnahmen
und Überlegungen kam es dazu?

6. In wie vielen Fällen wurde seit der Entscheidung des EuGH vom
7. November 2013 gegen die Ablehnung von Asylanträgen von Menschen,
die eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientie-
rung geltend gemacht haben, geklagt, und in wie vielen Fällen wurden die
ablehnenden Bescheide rechtskräftig aufgehoben (bitte nach Monaten und
den zehn häufigsten Herkunftsstaaten aufschlüsseln), und wie begründeten
die Gerichte die entsprechenden Urteile?

7. Inwiefern teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung des ehemaligen
Präsidenten des BAMF, Dr. Manfred Schmidt, wonach in Übereinstimmung
mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union „eine be-
sondere sexuelle Ausrichtung in Abgrenzung zu Heterosexuellen, wie die
Homosexualität, […] in der Regel ein Verfolgungsgrund [ist], der schwer-
punktmäßig im Rahmen des Flüchtlingsschutzes und hierbei insbesondere
wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu prüfen ist“
(vgl. www.lsvd.de/fileadmin/pics/Dokumente/Recht/BAMF-121227.pdf)?

8. Inwiefern teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung, die das BAMF in
seiner Handlungsanweisung zur Entscheidungspraxis von 2012 vertritt, wo-
nach es Antragstellerinnen und Antragstellern in Übereinstimmung mit der
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Ur-
teil vom 5. September 2012, Rs. C-71/11 und C-99/11, BRD ./. Y und Z)
grundsätzlich nicht zuzumuten ist, gefahrenträchtige Verhaltensweisen zu
vermeiden, um einer Verfolgung auszuweichen, die ihnen andernfalls, z. B.
wegen ihrer sexuellen Ausrichtung, drohen würde?

9. Welche internen Vorgaben (Dienstanweisungen, Leitsätze u. Ä.) macht die
Leitung des BAMF hinsichtlich der Bearbeitung von Asylanträgen von Men-
schen, die eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer sexuellen Ori-
entierung oder Geschlechtsidentität geltend gemacht haben, um die Anwen-
dung der einschlägigen rechtlichen Vorgaben zu gewährleisten, und inwie-
fern werden diese Vorgaben öffentlich zugänglich gemacht?

10. Welche Maßnahmen zur Qualitätssicherung hat die Leitung des BAMF hin-
sichtlich der Bearbeitung von Asylanträgen von Menschen, die eine begrün-
dete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Ge-
schlechtsidentität geltend gemacht haben, um die Anwendung der in Frage 9
erfragten internen Vorgaben zu gewährleisten, implementiert?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8755

11. Inwiefern und auf welche Weise wird die Einhaltung der in Frage 9 erfragten

Vorgaben im Rahmen des Qualitätsmanagements des BAMF kontrolliert und
Verstöße gegen diese Vorgaben sanktioniert, und in wie vielen Fällen kam
es seit der Entscheidung des EuGH vom 7. November 2013 zu solchen Sank-
tionen (bitte nach Monaten aufschlüsseln)?

12. Wie gewährleistet die Bundesregierung die Beachtung der Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union vom 7. November 2013 (EuGH, Urteil
vom 7. November 2013, Rs. C-199/12 bis C-201/12, Minister voor Immi-
gratie en Asiel ./. X und Y), wonach bei der Prüfung eines Antrags auf Zuer-
kennung der Flüchtlingseigenschaft die zuständigen Behörden von Asylbe-
werberinnen und Asylbewerbern nicht erwarten können, dass sie ihre Homo-
sexualität in ihrem Herkunftsland geheimhalten oder Zurückhaltung beim
Ausleben ihrer sexuellen Orientierung üben, um die Gefahr einer Verfolgung
zu vermeiden?

13. Wie gewährleistet die Bundesregierung die Beachtung der Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union vom 2. Dezember 2014 (EuGH, Urteil
vom 2. Dezember 2014, Rs. C-148/13 bis C-150/13, A, B und C ./. Staatsse-
cretaris van Veiligheid en Justitie), wonach die zuständigen nationalen Be-
hörden im Rahmen ihrer Prüfung der Ereignisse und Umstände, die die be-
hauptete sexuelle Orientierung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern
betreffen, deren Anträge auf die Furcht vor Verfolgung wegen dieser Aus-
richtung gestützt ist, deren Aussagen und die zur Stützung ihrer Anträge vor-
gelegten Unterlagen oder sonstigen Beweise nicht anhand von Befragungen
beurteilen dürfen, die allein auf stereotypen Vorstellungen von Homosexu-
ellen beruhen?

14. Wie gewährleistet die Bundesregierung die Beachtung der Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union vom 2. Dezember 2014 (EuGH, Urteil
vom 2. Dezember 2014, Rs. C-148/13 bis C-150/13, A, B und C ./. Staatsse-
cretaris van Veiligheid en Justitie), wonach die zuständigen nationalen Be-
hörden im Rahmen ihrer Prüfung keine detaillierten Befragungen zu den se-
xuellen Praktiken von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern durchführen
dürfen?

15. Wie gewährleistet die Bundesregierung die Beachtung der Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union vom 2. Dezember 2014 (EuGH, Urteil
vom 2. Dezember 2014, Rs. C-148/13 bis C-150/13, A, B und C ./. Staatsse-
cretaris van Veiligheid en Justitie), wonach die zuständigen nationalen Be-
hörden im Rahmen ihrer Prüfung keine Beweise der Art akzeptieren dürfen,
dass betreffende Asylbewerberinnen und Asylbewerber homosexuelle Hand-
lungen vornehmen, sich „Tests“ zum Nachweis ihrer Homosexualität unter-
ziehen oder auch Videoaufnahmen solcher Handlungen vorlegen?

16. Wie gewährleistet die Bundesregierung die Beachtung der Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union vom 2. Dezember 2014 (EuGH, Urteil
vom 2. Dezember 2014, Rs. C-148/13 bis C-150/13, A, B und C ./. Staatsse-
cretaris van Veiligheid en Justitie), wonach die zuständigen nationalen Be-
hörden im Rahmen ihrer Prüfung nicht allein deshalb zu dem Ergebnis ge-
langen dürfen, dass die Aussagen der betreffenden Asylbewerberinnen und
Asylbewerber nicht glaubhaft sind, weil sie ihre behauptete sexuelle Aus-
richtung nicht bei der ersten ihnen gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der
Verfolgungsgründe geltend gemacht haben?

Drucksache 18/8755 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

17. Inwiefern ist die Vermittlung von Kenntnissen über die rechtlichen Vorga-

ben bei der Bearbeitung von Asylanträgen von Personen, die eine begründete
Furcht vor Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechts-
identität geltend machen, Gegenstand der Aus- und Fortbildung der Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter des BAMF?
Welchen zeitlichen Umfang nimmt die Vermittlung der entsprechenden
Kenntnisse im Rahmen der Grundschulungen neuer Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter ein?

18. Inwiefern ist die Vermittlung von Kenntnissen über die tatsächliche Bedro-
hungslage von Personen, die eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen
ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität geltend machen, Ge-
genstand der Aus- und Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des
BAMF?
Welchen zeitlichen Umfang nimmt die Vermittlung der entsprechenden
Kenntnisse im Rahmen der Grundschulungen neuer Mitarbeitenden ein?

19. Inwiefern bestehen gesonderte Fortbildungsangebote für Anhörer und Ent-
scheider zum Umgang mit begründeter Furcht vor Verfolgung wegen der se-
xuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität?
Wie viele derartige Fortbildungen wurden im Jahr 2015 und im Jahr 2016
ggf. angeboten, und wie viele Anhörer und Entscheider haben daran teilge-
nommen (bitte nach Monaten aufschlüsseln)?

Berlin, den 1. Juni 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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