BT-Drucksache 18/8498

Erforderliche Höhe des gesetzlichen Mindestlohns zur Armutsbekämpfung

Vom 13. Mai 2016


 

Deutscher Bundestag Drucksache 18/8498
18. Wahlperiode 13.05.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Klaus Ernst, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij, Katja Kipping, Jutta Krellmann,
Thomas Lutze, Cornelia Möhring, Thomas Nord, Richard Pitterle,
Michael Schlecht, Azize Tank, Dr. Axel Troost, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Erforderliche Höhe des gesetzlichen Mindestlohns zur Armutsbekämpfung

Nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde zum
dem 1. Januar 2015 befindet im Juni 2016 die mit dem Mindestlohngesetz instal-
lierte Mindestlohnkommission erstmals über die Höhe des Mindestlohns ab dem
1. Januar 2017 und wird sich dabei wahrscheinlich in erster Linie an der Höhe der
aktuellen Tarifabschlüsse orientieren. Gleichzeitig soll die Höhe des Mindest-
lohns geeignet sein „zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedin-
gungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden“ (§ 9 Absatz 2
des Mindestlohngesetzes).
Vor Einführung des verbindlichen Mindestlohns haben zahlreiche Wirtschafts-
wissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler heftige Kritik an der Ein-
führung des Mindestlohns geübt und einen erheblichen Anstieg der Arbeitslosig-
keit prophezeit, unter ihnen auch der „Sachverständigenrat zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, etwa in seinem Jahresgutachten
2013/2014. Aktuelle Erhebungen zeigen jedoch, dass die Zahl der sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten deutlich angestiegen ist, während gleichzeitig die
Anzahl der Minijobs zurückgegangen ist. Dennoch schützt der Mindestlohn in
seiner aktuellen Höhe nur unzureichend vor Armut. Mit gegenwärtig 8,50 Euro
pro Stunde liegt der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland bei 47,8 Prozent des
Medianlohns und damit erheblich unter der Niedriglohnschwelle von zwei Drit-
teln des Medianlohns im Jahr 2014 und sogar unter der im Sinne der relativen
Armutsbetrachtung als Armutslohn anzusehenden Schwelle von 50 Prozent des
Medianlohns. Ausweislich einer Darstellung des Wirtschafts- und Sozialwissen-
schaftlichen Instituts (WSI Report 28, 1/2016) liegt der Mindestlohn in Deutsch-
land damit im Vergleich zu anderen mitteleuropäischen Ländern im unteren Drit-
tel, jeweils gemessen am nationalen Medianlohn.
Mit dem gegenwärtigen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro ist darüber hin-
aus für die Betroffenen Altersarmut vorprogrammiert: Um über die Grundsiche-
rung im Alter in Höhe von 788 Euro monatlich zu kommen, wäre ein regelmäßi-
ger Stundenlohn von rund 11,68 Euro erforderlich, wie die Bundesregierung in
der Antwort auf die Schriftliche Frage 30 des Abgeordneten Klaus Ernst auf Bun-
destagsdrucksache 18/8191 erklärt.

Drucksache 18/8498 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

 

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Höhe dürfen nach der Kenntnis der Bundesregierung die tatsächli-

chen Kosten der Unterkunft und Heizung maximal betragen, damit bei einer
alleinstehenden Person mit einer Wochenarbeitszeit von 37,7 Stunden
(durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit) ein Stundenentgelt in Höhe
des aktuellen Mindestlohns von 8,50 Euro ausreicht, um die Bruttoschwelle
des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II) zu erreichen (Regelbedarf
plus Kosten der Unterkunft und Heizung plus Freibetrag)?

2. Wie hoch sind die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung für Be-
darfsgemeinschaften (bitte nach Single-Bedarfsgemeinschaften und anderen
– unter Nennung der Anzahl der Personen in der Bedarfsgemeinschaft –,
nach Bundesländern sowie Landkreisen und kreisfreien Städten aufschlüs-
seln und um die Differenz zum in Frage 1 abgefragten Wert ergänzen)?

3. Wie viele Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem Vollzeit-Beschäf-
tigten bleiben nach Kenntnis der Bundesregierung mit ihrem auf dem Min-
destlohn basierenden monatlichen Lohn unter dem in Frage 2 ermittelten
Wert (bitte bezogen auf den jeweiligen Wohnort nach Single-Bedarfsge-
meinschaften, diese differenziert nach Geschlecht, und anderen – unter Nen-
nung der Anzahl der Personen in der Bedarfsgemeinschaft –, nach Bundes-
ländern sowie Landkreisen und kreisfreien Städten sowie kumuliert nach
dem Defizit von bis zu 50, 51 bis 100, 101 bis 150 und über 151 Euro mo-
natlich aufschlüsseln)?

4. Wie viele Personen in Vollzeitanstellung haben seit Einführung des gesetz-
lichen Mindestlohns ergänzende Leistungen nach SGB II für Erwerbstätige
beantragt, wie viele Personen nach Antrag erhalten (bitte nach Landkreisen
und kreisfreien Städten sowie nach Single-Bedarfsgemeinschaften, diese dif-
ferenziert nach Geschlecht, und Bedarfsgemeinschaften mit mehreren Perso-
nen und nach der Anzahl der wöchentlichen Arbeitszeit, abgestuft nach 35 h,
38 h, 39 h, 40 h aufschlüsseln)?

5. Wie hoch sind die tatsächlichen Kosten der Unterkunft für einen Einperso-
nenhaushalt zum 1. Januar 2016 in den Städten Düsseldorf, Frankfurt (Main),
Hamburg, München und Stuttgart?

6. Wie hoch sind die finanziellen Mittel, die seit Einführung des gesetzlichen
Mindestlohns für ergänzende Leistungen für Erwerbstätige nach SGB II ge-
zahlt wurden (bitte monatlich gliedern und nach Bundesländern sowie Land-
kreisen und kreisfreien Städten aufschlüsseln und nach Teilzeit-/Vollzeitbe-
schäftigten differenzieren)?

7. Wie hoch liegt die aktuelle Niedriglohnschwelle für einen Einpersonenhaus-
halt in Deutschland gemessen an zwei Dritteln des Medianlohns, und wie
hoch müsste ein existenzsichernder Bruttostundenlohn sein, damit ein allein-
lebender, in Vollzeit tätiger Arbeitnehmer bzw. eine alleinlebende, in Voll-
zeit tätige Arbeitnehmerin einen entsprechenden monatlichen Nettolohn er-
zielt (alleinstehend, Steuerklasse I)?

8. Wie hoch liegt der aktuelle Armutslohn für einen Einpersonenhaushalt in
Deutschland gemessen am EU-Standard von 50 Prozent des Medianlohns,
und wie hoch müsste ein Bruttostundenlohn sein, damit ein alleinlebender,
in Vollzeit tätiger Arbeitnehmer bzw. eine alleinlebende, in Vollzeit tätige
Arbeitnehmerin einen entsprechenden monatlichen Lohn erzielt (alleinste-
hend, Steuerklasse I)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8498
 

 

9. Wie hoch müsste der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland bemessen sein,
wenn er sich an der von Deutschland ratifizierten Europäischen Sozialcharta
orientierte, die „gerechte Arbeitseinkommen“ für alle Unterzeichnerstaaten
festschreibt und dies bei 60 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns ver-
ortet?

10. Zu welchem Zeitpunkt strebt die Bundesregierung eine der Antwort zu
Frage 9 entsprechende Anpassung des Mindestlohns an, bzw. mit welcher
Begründung lehnt die Bundesregierung die Umsetzung der von Deutschland
ratifizierten Europäischen Sozialcharta ab?

11. Welche Funktion erfüllt nach Ansicht der Bundesregierung ein gesetzlicher
Mindestlohn, der deutlich unter der anerkannten Schwelle für relative Armut
in Deutschland liegt, und welchen Einfluss erhofft sich die Bundesregierung
auf das Lohngefüge auf dem deutschen Arbeitsmarkt und für den Lohn der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die gezwungen sind, für den Min-
destlohn zu arbeiten?

12. Für welche Branchen gelten nach Kenntnis der Bundesregierung verbindli-
che Tarifverträge, die einen Brutto-Stundenlohn unterhalb des aktuellen ge-
setzlichen Mindestlohns vereinbaren, wie hoch sind die entsprechenden
Brutto-Stundenlöhne, bis wann gelten diese Tarifverträge, und wie viele Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden entsprechend diesen unter dem
Mindestlohn liegenden Löhnen vergütet (bitte jeweils branchenbezogen so-
wie nach Bundesländern, Landkreisen und kreisfreien Städten zum 1. Januar
2016 und, soweit zutreffend, zum 1. Januar 2017 und zum 31. Dezember
2017 – die beiden letztgenannten bitte gemessen am aktuellen Mindestlohn
von 8,50 Euro – aufschlüsseln und jeweils nach Geschlecht differenzieren)?

13. Wie viele Personen werden nach Kenntnis der Bundesregierung entspre-
chend der gesetzlichen Ausnahme vom Mindestlohn für Zeitungszustellerin-
nen und Zeitungszusteller vergütet (bitte nach Bundesländern sowie Land-
kreisen und kreisfreien Städten aufschlüsseln)?

14. Für welche Branchen sind zurzeit tarifliche Mindestlöhne vereinbart, wie
hoch sind diese Löhne, und wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sind von diesen Mindestlöhnen betroffen (bitte nach Geschlecht, Branchen
sowie Teilzeit/Vollzeit differenzieren)?

15. Welche Konsequenzen wird die Bundesregierung aus dem Umstand ziehen,
dass der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung“ mit seinen klar ablehnenden Stellungnahmen zur Einführung
eines gesetzlichen Mindestlohns offenkundig grundlegend falsche Annah-
men getroffen hat, während zahlreiche andere Wirtschaftswissenschaftlerin-
nen und Wirtschaftswissenschaftler deutliche präzisere und eher zutreffende
Voraussagen getroffen haben?

16. Welche Höhe des Mindestlohns scheint der Bundesregierung entsprechend
den Formulierungen des Mindestlohngesetzes als „angemessen“, und wa-
rum?

17. Welche Mindestlohnhöhe erfüllt nach Ansicht der Bundesregierung die An-
forderung des Gesetzes, zum „Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern“ beizutragen (§9 Absatz 2 des Mindestlohngesetzes)?

18. Welcher Zeitraum und welche Parameter in welcher Gewichtung sind nach
Ansicht der Bundesregierung nach dem Wortlaut des Mindestlohngesetzes
heranzuziehen, um den Mindestlohn entsprechend § 1 Absatz 2 des Mindest-
lohngesetzes zu ändern?

Drucksache 18/8498 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

 

19. Welche Höhe müsste der gesetzliche Mindestlohn ab dem 1. Januar 2017
haben, wenn nicht ausschließlich der Tarifindex des Statistischen Bundes-
amtes nachvollzogen würde, sondern der gesamtwirtschaftlich neutrale Ver-
teilungsspielraum, also die erzielte Produktivitätsentwicklung zuzüglich zur
angestrebten Inflationsrate (nahe, aber unter 2 Prozent) seit Einführung des
Mindestlohns am 1. Januar 2015?

20. Welchen Einfluss hätte eine solche Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns
nach Einschätzung der Bundesregierung auf die Binnennachfrage in
Deutschland und den von der Europäischen Kommission im Rahmen des Eu-
ropäischen Semesters mehrfach monierten und gegen europäisches Recht
verstoßenden Leistungsbilanzüberschuss von zuletzt mehr als 8 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts (SWD(2016) 75 final, Country Report Germany 2016
Including an In-Depth Review on the prevention and correction of macro-
economic imbalances)?

21. Wie hoch sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Mindestlöhne in den
EU-Mitgliedsländern (einschließlich Deutschland, bitte in absolut, kaufkraft-
paritätisch und nach dem Kaitz-Index, relativer Mindestlohnwert in Prozent
zum nationalen Lohngefüge, aufschlüsseln)?

Berlin, den 12. Mai 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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