BT-Drucksache 18/7648

Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren

Vom 24. Februar 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7648
18. Wahlperiode 24.02.2016
Antrag
der Abgeordneten Cem Özdemir, Claudia Roth (Augsburg), Peter Meiwald,
Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), Dr. Franziska Brantner,
Agnieszka Brugger, Uwe Kekeritz, Tom Koenigs, Dr. Tobias Lindner, Omid
Nouripour, Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Jürgen Trittin, Doris
Wagner, Kai Gehring, Britta Haßelmann, Renate Künast, Corinna Rüffer,
Dr. Konstantin von Notz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern vor
100 Jahren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor den Opfern der Vertreibungen und Mas-
saker an den Armeniern sowie Aramäern, Assyrern und anderen christlichen Min-
derheiten des Osmanischen Reiches, die vor 100 Jahren ihren Anfang nahmen. Er
beklagt die Taten der damaligen türkischen Regierung, die zur fast vollständigen
Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich geführt haben.
Im Auftrag des damaligen jungtürkischen Regimes begann am 24. April 1915 im
osmanischen Konstantinopel die planmäßige Vertreibung und Vernichtung von über
einer Million ethnischer Armenier. Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte
der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der
Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet
ist. Dabei wissen wir um die Einzigartigkeit des Holocaust, für den Deutschland
Schuld und Verantwortung trägt.
Der Deutsche Bundestag bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches,
das trotz eindeutiger Informationen auch durch deutsche Diplomaten und Missionare
über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht hat,
diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen. Es hat sich als enger Ver-
bündeter des Osmanischen Reiches der unterlassenen Hilfeleistung gegenüber den
verfolgten Menschen schuldig gemacht. Daraus ergibt sich die besondere Mitverant-
wortung Deutschlands für die Aufarbeitung der historischen Geschehnisse.
Das Gedenken des Deutschen Bundestages ist auch Ausdruck besonderen Respektes
vor Armeniern als der wohl ältesten christlichen Nation der Erde. Ebenso waren An-
gehörige anderer christlicher Volksgruppen, insbesondere aramäisch/assyrische und
chaldäische Christen von Deportationen und Massakern betroffen.
Der Deutsche Bundestag bekräftigt seinen Beschluss aus dem Jahr 2005 (Bundes-
tagsdrucksache 15/5689), der dem Gedenken der Opfer wie auch der historischen

Drucksache 18/7648 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Aufarbeitung der Geschehnisse gewidmet war und das Ziel verfolgte, zur Versöh-
nung zwischen Türken und Armeniern beizutragen. Am einhundertsten Gedenktag,
dem 24. April 2015, haben im Deutschen Bundestag Rednerinnen und Redner aller
Fraktionen und insbesondere der Bundespräsident am Vorabend der Debatte den
Völkermord an den Armeniern verurteilt, der Opfer gedacht und zur Versöhnung
aufgerufen.
Der Versöhnungsprozess zwischen Türken und Armeniern ist in den vergangenen
Jahren ins Stocken geraten und bedarf dringend neuer Impulse. Auch Deutschland
ist in der Pflicht, sich der eigenen Mitverantwortung zu stellen. Dazu gehört, Türken
und Armenier dabei zu unterstützen, über die Gräben der Vergangenheit hinweg
nach Wegen der Versöhnung und Verständigung zu suchen.
Der Deutsche Bundestag ehrt mit seinem Gedenken an die unvorstellbar grausamen
Verbrechen nicht nur deren Opfer, sondern auch all diejenigen im Osmanischen
Reich und im Deutschen Reich, die sich vor 100 Jahren unter schwierigen Umstän-
den und gegen den Widerstand ihrer jeweiligen Regierung in vielfältiger Weise für
die Rettung von armenischen Frauen, Kindern und Männern eingesetzt haben.
Heute kommt schulischer, universitärer und politischer Bildung in Deutschland die
Aufgabe zu, die Aufarbeitung der Vertreibung und Vernichtung der Armenier als
Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert in den
Lehrplänen und -materialien aufzugreifen und nachfolgenden Generationen zu ver-
mitteln. Dabei kommt insbesondere den Bundesländern eine wichtige Rolle zu.
Der Deutsche Bundestag ist der Ansicht, dass das Gedenken an die Opfer der Mas-
saker und Vertreibungen der Armenier unter Berücksichtigung der deutschen Rolle
einschließlich seiner Vermittlung an die Mitbürgerinnen und Mitbürger türkischer
und armenischer Herkunft auch einen Beitrag zur Integration und zum friedlichen
Miteinander darstellt.
Der Deutsche Bundestag begrüßt die Zunahme von Initiativen und Beiträgen in den
Bereichen von Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kunst und Kultur auch in der Türkei,
welche die Aufarbeitung der Verbrechen an den Armeniern und die Versöhnung
zwischen Armeniern und Türken zum Ziel haben.
Der Deutsche Bundestag ermutigt die Bundesregierung weiterhin, dem Gedenken
und der Aufarbeitung der Vertreibungen und Massaker an den Armeniern von 1915
Aufmerksamkeit zu widmen. Auch begrüßt der Deutsche Bundestag jede Initiative,
die diesem Anliegen Anschub und Unterstützung verleiht.
Die eigene historische Erfahrung Deutschlands zeigt, wie schwierig es für eine Ge-
sellschaft ist, die dunklen Kapitel der eigenen Vergangenheit aufzuarbeiten. Gleich-
zeitig ist eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte die wohl wichtigste Grundlage
für Versöhnung sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch mit anderen. Es gilt dabei
klar zu unterscheiden zwischen der Schuld der Täter und der Verantwortung der
heute Lebenden. Ebenso gemahnt das Gedenken an die Vergangenheit, wachsam zu
bleiben und zu verhindern, dass Hass und Vernichtung immer wieder Menschen und
Völker bedrohen.
Der Deutsche Bundestag nimmt die seit 2005 unternommenen Versuche von Vertre-
tern Armeniens und der Türkei wahr, in Fragen des Erinnerns und der Normalisie-
rung der zwischenstaatlichen Beziehungen aufeinander zuzugehen.
Das Verhältnis beider Staaten ist jedoch weiterhin spannungsreich und von gegen-
seitigem Misstrauen geprägt. Deutschland sollte Türken und Armenier dabei unter-
stützen, über die Gräben der Vergangenheit hinweg Wege der Versöhnung zu be-
schreiten. Eine konstruktive Aufarbeitung der Geschichte ist dabei als Basis für eine
Verständigung in Gegenwart und Zukunft unerlässlich.
Eine Entspannung und Normalisierung der Beziehungen zwischen der Republik Tür-
kei und der Republik Armenien ist auch für die Stabilisierung der Region des Kau-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/7648
kasus wichtig. Deutschland sieht sich dabei im Rahmen der EU-Nachbarschaftspo-
litik aufgrund seiner geschichtlichen Rolle in den deutsch-armenisch-türkischen Be-
ziehungen in einer besonderen Verantwortung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

− im Geiste der Debatte des Deutschen Bundestags vom 24.4.2015 weiterhin zu
einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit der Vertreibung und fast voll-
ständigen Vernichtung der Armenier 1915/1916 sowie der Rolle des Deutschen
Reiches beizutragen,

− die türkische Seite zu ermutigen, sich mit den damaligen Vertreibungen und
Massakern offen auseinanderzusetzen, um damit den notwendigen Grundstein
zu einer Versöhnung mit dem armenischen Volk zu legen,

− sich weiterhin dafür einzusetzen, dass zwischen Türken und Armeniern durch
die Aufarbeitung von Vergangenheit Annäherung, Versöhnung und Verzeihen
historischer Schuld erreicht wird,

− weiterhin wissenschaftliche, zivilgesellschaftliche und kulturelle Aktivitäten in
der Türkei und in Armenien im Rahmen verfügbarer Haushaltsmittel zu fördern,
die dem Austausch und der Annäherung sowie der Aufarbeitung der Geschichte
zwischen Türken und Armeniern dienen,

− eine Aufarbeitung der historischen Ereignisse durch die Türkei und Armenien
als ersten Schritt zur Versöhnung und zur längst überfälligen Verbesserung der
türkisch-armenischen Beziehungen aktiv zu unterstützen, z. B. durch Stipendien
für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Unterstützung zivilgesell-
schaftlicher Kräfte aus beiden Ländern, die sich für Aufarbeitung und Versöh-
nung engagieren,

− türkische und armenische Regierungsvertreter zu ermutigen, den derzeit stag-
nierenden Normalisierungsprozess der zwischenstaatlichen Beziehungen beider
Länder fortzuführen,

− sich gegenüber der türkischen und der armenischen Regierung für die Ratifizie-
rung der 2009 unterzeichneten Züricher Protokolle, welche die Wiederaufnahme
diplomatischer Beziehungen und die Öffnung der gemeinsamen Grenze vorse-
hen, einzusetzen,

− dafür einzutreten, dass die in jüngster Zeit begonnene Pflege des armenischen
Kulturerbes in der Republik Türkei fortgesetzt und intensiviert wird,

− im Rahmen finanzieller Möglichkeiten auch weiterhin innerhalb Deutschlands
Initiativen und Projekte in Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Kultur zu för-
dern, die eine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen von 1915/1916 zum
Thema haben.

Berlin, den 23. Februar 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Drucksache 18/7648 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Begründung

Die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges war die größte und
folgenschwerste Katastrophe in der mehrtausendjährigen Geschichte des armenischen Volkes. Den Deportati-
onen und Massenmorden fielen nach unabhängigen Berechnungen über einer Million Armenier zum Opfer.
Zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen bezeichnen die Vertreibung
und Vernichtung der Armenier als Völkermord. Das Gedenken an diese Vertreibungen und Massaker ist deshalb
neben Religion und Sprache von zentraler Bedeutung für die Identität dieses Volkes.
Der Deutsche Bundestag gedenkt der Ereignisse auch im Zusammenhang des aktuellen Erinnerns an den Ersten
Weltkrieg. Das Deutsche Reich war militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches. Die damalige
deutsche Reichsregierung, die über die Verfolgung und Ermordung der Armenier informiert war, blieb dennoch
untätig. Die Bundesrepublik Deutschland sieht sich in der Verantwortung, die Aufarbeitung dieses Verbrechens
zu fördern und die Erinnerung daran wachzuhalten.
Bis heute bestreitet die Türkei entgegen der Faktenlage, dass der Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der
Armenier eine Planmäßigkeit zugrunde gelegen hätte bzw. dass das Massensterben während der Umsiedlungs-
trecks und die verübten Massaker von der osmanischen Regierung gewollt waren.
Insgesamt wird das Ausmaß der Massaker und Deportationen in der Türkei immer noch angezweifelt. Aller-
dings gibt es auch gegenläufige Tendenzen. Im Jahr 2008 gab es Anlass zur Hoffnung auf eine türkisch-arme-
nische Annäherung, als die Staatspräsidenten beider Länder gemeinsam ein Fußballländerspiel besuchten und
damit ihren Willen für weitere Gespräche demonstriert hatten. 2009 wurde zwischen den Außenministern beider
Länder ein gemeinsames Protokoll unterzeichnet, in dem u. a. die Gründung einer Kommission vorgesehen war,
welche die Geschichte wissenschaftlich untersuchen sollte. Dieses Protokoll wurde aber bis heute in keinem der
Parlamente beider Länder verabschiedet.
Eine Versöhnung der beiden Völker ist nur dann denkbar, wenn die Ereignisse vor 100 Jahren grundlegend
aufgeklärt und die Fakten nicht weiter bestritten werden. Dazu ist es erforderlich, dass Wissenschaftler und
Journalisten in der Türkei bei der Aufarbeitung der Geschichte der Vertreibung und Ermordung von Armeniern
frei und ohne Angst vor Repressionen arbeiten können. Es gibt bereits zahlreiche Initiativen in der Türkei, die
die Aufarbeitung der Massaker zum Thema haben. Das Thema wird seit einigen Jahren in der türkischen Öf-
fentlichkeit vermehrt kontrovers diskutiert. Diese Entwicklungen sind genauso zu begrüßen, wie grenzüber-
schreitende zivilgesellschaftliche Projekte, die vom Auswärtigen Amt seit vielen Jahren finanziell unterstützt
werden.
Das Deutsche Reich war als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches ebenfalls tief in diese
Vorgänge involviert. Sowohl die politische als auch die militärische Führung des Deutschen Reichs war von
Anfang an über die Verfolgung und Ermordung der Armenier informiert. Als der evangelische Theologe Dr. Jo-
hannes Lepsius am 5. Oktober 1915 im Deutschen Reichstag die Ergebnisse seiner im Juli/August 1915 in Kon-
stantinopel durchgeführten Recherchen vortrug, wurde das gesamte Thema von der deutschen Reichsregierung
unter Zensur gestellt. Ebenso wurde sein „Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei“, den
er direkt an die Reichstagsabgeordneten geschickt hatte, 1916 von der deutschen Militärzensur verboten und
beschlagnahmt und den Abgeordneten erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1919 ausgehändigt. Trotz
dringender Eingaben vieler deutscher Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und den Kirchen, darunter
Politiker wie Philipp Scheidemann, Karl Liebknecht oder Matthias Erzberger und bedeutende Persönlichkeiten
aus der evangelischen und katholischen Kirche wie z. B. Adolf von Harnack und Lorenz Werthmann, unterließ
es die deutsche Reichsregierung, auf ihren osmanischen Verbündeten wirksamen Druck auszuüben.
Auch die Akten des Auswärtigen Amts, die auf Berichten der deutschen Botschafter und Konsuln im Osmani-
schen Reich beruhen, dokumentieren die planmäßige Durchführung der Massaker und Vertreibungen. Sie stel-
len die wichtigste staatliche Überlieferung zu den damaligen Geschehnissen dar. Das Auswärtige Amt hat diese
Akten bereits vor vielen Jahren zugänglich gemacht. Bereits 1998 wurde Armenien ein kompletter Satz dieser
Akten auf Mikrofiche übergeben. Die Türkei hat anschließend ebenfalls einen Satz erworben.

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.