BT-Drucksache 18/7540

Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe für von Gewalt betroffene Frauen - Bundeseinheitliche Finanzierung voranbringen

Vom 16. Februar 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7540
18. Wahlperiode 16.02.2016
Antrag
der Abgeordneten Cornelia Möhring, Matthias W. Birkwald, Eva
Bulling-Schröter, Sevim Dağdelen, Nicole Gohlke, Annette Groth,
Dr. Rosemarie Hein, Inge Höger, Sigrid Hupach, Ulla Jelpke, Susanna
Karawanskij, Kerstin Kassner, Katja Kipping, Caren Lay, Sabine Leidig,
Dr. Gesine Lötzsch, Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold (Havelland),
Martina Renner, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Dr. Kirsten Tackmann,
Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Katrin Werner, Birgit Wöllert, Jörn
Wunderlich, Sabine Zimmermann (Zwickau) und der Fraktion DIE LINKE.

Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe für von Gewalt betroffene Frauen –
Bundeseinheitliche Finanzierung voranbringen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Gewalt gegenüber Frauen, allem voran im häuslichen Bereich, ist noch immer ein
großes Problem in Deutschland. 2014 veröffentlichte die Agentur der Europäischen
Union für Grundrechte (FRA) die bis dahin umfangreichste Erhebung über Gewalt
gegen Frauen („Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung“, 2014). Demnach
waren 35 % der Frauen in Deutschland seit ihrem 15. Lebensjahr von körperlicher
und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Nach einer repräsentativen Studie des
BMFSFJ („Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutsch-
land“, 2004) haben sogar rund 40 % der in Deutschland lebenden Frauen seit ihrem
16. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. Diese Studie stellt
zudem fest, dass die Gewalt dabei zum überwiegenden Teil durch aktuelle oder
frühere Partner verübt wurde und Kinder sind meist von Beginn an in das Gewalt-
geschehen gegen die Mutter involviert. Je nach Gewaltform tragen bis zu 80 % der
betroffenen Frauen psychische Folgebeschwerden davon und bei vielen erleidet das
soziale Leben langfristig einen Bruch.
Frauenhäuser bieten seit nunmehr 40 Jahren Schutz und Unterstützung für gewalt-
betroffene Frauen und deren Kinder. Nach Angaben der Bundesregierung („Bericht
der Bundesregierung zur Situation der Frauenhäuser, Fachberatungsstellen und an-
dere Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder“,
16.08.2012) gab es zum Jahreswechsel 2011/2012 genau 353 Frauenhäuser und
41 Zufluchtswohnungen mit über 6.000 Plätzen. Diese sind für die hohe Anzahl an
betroffenen Frauen und Kindern jedoch bei weitem nicht ausreichend. So sind einer
Empfehlung des Europarates („Convention on preventing and combating violence
against women and domestic violence“, Convention CETS No. 210) folgend in
Deutschland umgerechnet mindestens 11.000 Plätze in Schutzeinrichtungen ange-
messen. Der Bericht der Bundesregierung stellt daher selbst fest, dass es an Schutz-

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und Unterstützungseinrichtungen sowohl im ländlichen Raum als auch in städtischen
Ballungsgebieten fehlt. Ebenso gesteht er ein, dass auch die finanzielle und perso-
nelle Ausstattung völlig unzureichend ist.
Die mangelnde Versorgung liegt an den bisher ungeklärten Zuständigkeiten und den
daraus folgenden regional sehr unterschiedlichen Finanzierungsregelungen. Nur
rund 30 % der bestehenden Frauenhäuser sind pauschal finanziert (ZIF, April 2015)
und können daher Frauen, die gerade einer Gewaltsituation entflohen sind, schnell
und unbürokratisch aufnehmen – allerdings nur dann, wenn freie Plätze vorhanden
sind. In der Praxis zeigt sich, dass das viel zu oft nicht der Fall ist. Der weit größere
Anteil der Frauenhäuser wird durch freiwillige Leistungen von Ländern und Kom-
munen (abhängig von der jeweiligen Regierung und Haushaltslage), Eigenmittel der
Träger (z. B. Spenden) und – teils auch ausschließlich – aus sogenannten Tagessät-
zen finanziert. Bei der Tagessatzfinanzierung werden die Kosten auf die Bewohne-
rinnen umgelegt: Frauen mit eigenem Einkommen müssen selbst für den Aufenthalt
im Frauenhaus aufkommen, für sozialleistungsberechtigte Frauen werden je nach
Bundesland Tagessätze auf Grundlage des SGB II oder SGB XII gezahlt. Diese Art
der Finanzierung führt zu einer Überforderung der Kommunen und einer großen Un-
sicherheit für die Frauenhäuser selbst. Die Finanzierung sollte daher zwischen Bund,
Ländern und Kommunen sachgerecht aufgeteilt und dauerhaft gesichert werden.
Die Tagesfinanzierung sollte dabei nicht weitergeführt werden. Sie ist nicht nur
zweckentfremdet, sondern schließt auch eine Vielzahl an gewaltbetroffenen Frauen
aus. Denn nur Frauen mit Anspruch auf Leistungen nach dem entsprechenden Sozi-
algesetzbuch werden in der Regel in tagesfinanzierten Frauenhäusern aufgenommen.
Zu den von diesem System ausgeschlossenen Frauen gehören daher beispielsweise
Auszubildende, Studentinnen oder Frauen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus. An-
gesichts der steigenden Zahl an geflüchteten Frauen wächst auch der Bedarf an Frau-
enhausplätzen für diese Gruppe. Neben der Tagessatzfinanzierung und einem allge-
meinen Mangel an Plätzen bestehen jedoch noch weitere faktische Zugangsbe-
schränkungen, die angegangen werden müssen. Für geflüchtete Frauen ergeben sie
sich über die Residenzpflicht (Bundestagsdrucksache 18/6693) oder fehlende Dol-
metscherdienste. Für Frauen mit Behinderung wiederum, die zudem zu einer beson-
ders vulnerablen Gruppe gehören, gibt es nur sehr wenige ausreichend ausgestattete
Einrichtungen. So sind etwa nur 62 Häuser in ganz Deutschland überhaupt roll-
stuhlgerecht, davon nur drei in Baden-Württemberg (www.frauenhauskoordinie-
rung.de/frauenhaussuche.html, letzter Abruf: 21. Januar 2016).
Da Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes die körperliche Unversehrtheit zusichert, ist es
Aufgabe des Staates, die desolate Lage beim Schutz von gewaltbetroffenen Frauen
– gleich welcher Herkunft – endlich zu beenden. Dazu gehört es, den Aufbau der
notwendigen Infrastruktur gezielter zu fördern. Ein gesetzlich verankerter Rechtsan-
spruch auf Schutz bei häuslicher Gewalt würde diesen Ausbau forcieren. Der Bund
ist für eine solche Regelung zuständig, da hier gleichwertige Lebensverhältnisse ge-
schaffen werden müssen. Eine betroffene Frau muss selbst entscheiden können, wie-
viel Abstand sie zum Täter benötigt.
Ein Rechtsanspruch ist allerdings zwingend so unbürokratisch und niedrigschwellig
wie möglich zu regeln, da sich die betroffenen Frauen und ihre Kinder in einer psy-
chisch und sozial sehr schwierigen Lage befinden. Hinzu kommt, dass noch immer
eine gesellschaftliche Situation herrscht, in der den betroffenen Frauen oft kein
Glaube geschenkt wird. Die parteiliche Unterstützung in den Frauenhäusern ist für
sie ein erster wichtiger Schritt auf ihrem Weg zur Selbständigkeit. Harte Nachweis-
pflichten bei Behörden sind in dieser Situation nicht angebracht. Bei der Ausgestal-
tung eines Rechtsanspruchs wird daher unbedingt darauf geachtet werden müssen,
dass Nachweispflichten die betroffenen Frauen und ihre Kinder nicht zusätzlich be-
lasten oder gar gefährden. Der Zugang zum Frauenhaus muss sicher, schnell, unbü-
rokratisch und bedarfsgerecht sein.

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Zum erweiterten Hilfesystem bei Gewalt gegen Frauen gehören zudem ambulante
Unterstützungseinrichtungen wie Frauenberatungsstellen, Frauennotrufe, verschie-
dene zielgruppenspezifisch oder auf bestimmte Gewaltformen spezialisierte Bera-
tungsstellen sowie Interventionsstellen, die nach einem Polizeieinsatz wegen häus-
licher Gewalt aktiv mit den Betroffenen Kontakt aufnehmen und ihnen Informatio-
nen und Unterstützung anbieten („Bericht der Bundesregierung zur Situation der
Frauenhäuser, Fachberatungsstellen und andere Unterstützungsangebote für gewalt-
betroffene Frauen und deren Kinder“, 16.08.2012). Sie sorgen häufig dafür, dass
stationäre Unterbringungen verhindert oder verkürzt werden können. Sie können da-
her den Bedarf an Frauenhausplätzen und damit die finanzielle Belastung reduzieren.
Dafür müssen jedoch auch diese Einrichtungen in eine bundeseinheitliche und be-
darfsgerechte Finanzierung einbezogen werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. in dieser Wahlperiode ein eigenes Gesetz vorzulegen, in welchem der Rechts-
anspruch auf sofortigen Schutz und umfassende Hilfe für von Gewalt be-
troffene Frauen und deren Kinder geregelt ist. Dieser muss zwingend so gestal-
tet sein, dass er unabhängig von Einkommen, Aufenthaltstitel, Herkunftsort,
gesundheitlicher Einschränkungen oder Behinderungen für die betroffenen
Frauen und deren Kinder gilt und keine Nachweispflichten enthält, die die be-
troffenen Frauen zusätzlich belasten oder ihre Sicherheit gefährden;

2. die Finanzierung des gesamten Schutz- und Hilfesystems (ambulante wie stati-
onäre Dienste) dauerhaft und verbindlich sicherzustellen und die finanzielle
Verantwortung dafür zwischen Bund und Ländern so zu regeln, dass eine be-
darfsgerechte Infrastruktur entwickelt werden kann;

3. Rechtsvorschriften, die dem Rechtsanspruch auf Schutz entgegenstehen – bei-
spielsweise im Sozial-, Umgangs- und Aufenthaltsrecht – mit Inkrafttreten des
Gesetzes durch anspruchskonforme Regelungen zu ersetzen;

4. das vorgelegte Gesetz und die Behördenpraxis nach drei Jahren gemeinsam mit
Vertreterinnen der Frauenhäuser zu evaluieren und ggf. weiterzuentwickeln.

Berlin, den 16. Februar 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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