BT-Drucksache 18/6872

Strukturelle Altersarmut bei jüdischen Einwanderinnen und Einwanderern aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion

Vom 24. November 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6872
18. Wahlperiode 24.11.2015

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Luise Amtsberg, Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Irene Mihalic,
Dr. Konstantin von Notz, Corinna Rüffer, Dr. Gerhard Schick und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Strukturelle Altersarmut bei jüdischen Einwanderinnen und Einwanderern aus den
Nachfolgestaaten der Sowjetunion

Altersarmut trifft Migrantinnen und Migranten besonders. Diese Kleine Anfrage
widmet sich speziell der Altersarmut der eingewanderten Menschen jüdischer
Herkunft und ihrer Angehörigen. Seit dem Beginn der jüdischen Einwanderung
aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion im Jahre 1991 sind ca. 220 000 Jüdin-
nen und Juden sowie deren Angehörige aus diesen Ländern nach Deutschland
eingewandert.

Jüdische Einwanderinnen und Einwanderer aus dem Gebiet der ehemaligen Sow-
jetunion, denen Altersarmut droht, teilen sich in zwei Gruppen:

1. Personen, die bei der Einwanderung bereits das Rentenalter erreicht oder im
Alter von 60 und mehr Jahren kurz davor gestanden haben.

2. Personen, die im fortgeschrittenen Erwachsenenalter nach Deutschland ein-
gewandert und bis zum Erreichen des Rentenalters sozialversicherungs-
pflichtigen Beschäftigungen nachgegangen sind.

Angehörige der ersten Gruppe haben aufgrund fehlender Beitragszeiten bzw.
Wartezeit in Deutschland keinen Anspruch auf Altersrente aus der Deutschen
Rentenversicherung. Die in ihren Herkunftsländern erworbenen Beitragszeiten
werden in Deutschland nicht anerkannt, da bisher noch keine bilateralen Sozial-
versicherungsabkommen mit den Nachfolgestaaten der UdSSR existieren.

Rentenzahlungen nach dem Fremdrentengesetz erfolgen nicht, da regelmäßig an-
genommen wird, dass jüdische Einwanderinnen und Einwanderer in der Regel
nicht dem „deutschen Sprach- und Kulturkreis“ angehören und deshalb nicht in
das Fremdrentengesetz einzubeziehen seien (vgl. DIE WELT vom 12. Juli 2013,
Deutschen Juden droht Armut im Alter). Ob das Kriterium des „deutschen
Sprach- und Kulturkreises“ hier zutreffend ist, ist zudem fraglich. Die durch jah-
relange Arbeit in ihrem Herkunftsland erworbenen Rentenansprüche gehen somit
mit der Auswanderung nach Deutschland verloren.

Selbst diejenigen, die Rentenzahlungen aus ihrem Herkunftsland erhalten (Ein-
wanderinnen und Einwanderer aus der Russischen Föderation), sind dauerhaft auf
Leistungen der Grundsicherung im Alter angewiesen, da die Rentenbeträge nicht
zur Sicherung des Lebensunterhalts ausreichen.

Bei den Angehörigen der zweiten Gruppe besteht das Problem darin, dass ihre in
Deutschland zurückgelegten rentenrelevanten Zeiten zu gering sind, um ihnen

Drucksache 18/6872 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

beim Erreichen des Rentenalters eine eigenständige Sicherung des Lebensunter-
halts zu ermöglichen. Die Erwerbszeitspanne in Deutschland ist auch zu kurz, um
ausreichend Privatabsicherung zu erwerben. Da ihre in den Herkunftsländern er-
worbenen Rentenansprüche nicht anerkannt werden, sind auch diese Personen im
Alter auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen, obwohl sie oft 10 bis
20 Jahre lang Beiträge zur Deutschen Rentenversicherung gezahlt haben.

Zusätzlich erfüllen manche jüdische Einwanderinnen und Einwanderer, abhängig
vom Alter bei der Einwanderung, die Zeiten nicht und haben so trotz jahrelanger
Beitragszahlungen in die deutsche Rentenkasse keinen Rentenanspruch erwor-
ben.

Das Problem wird dadurch verschärft, dass viele jüdische Einwanderinnen und
Einwanderer unter ihrer Qualifikation beschäftigt sind oder eine ihrer Qualifika-
tion nicht entsprechende Beschäftigung ausüben müssen, weil ihre Berufsab-
schlüsse nicht oder nur teilweise anerkannt wurden.

Die Entscheidung der Bundesregierung, jüdische Einwanderung aus den Nach-
folgestaaten der Sowjetunion zu fördern, basiert auf der historischen Verantwor-
tung der Bundesrepublik Deutschland und dem Wunsch, jüdisches Leben in
Deutschland nach den Schrecken der Naziherrschaft wieder zu etablieren und
wachsen zu lassen. Dazu gehört, dass einwandernde Jüdinnen und Juden die Mög-
lichkeit erhalten, in Deutschland ein Leben aufzubauen und würdevoll führen zu
können.

Damit ist unvereinbar, dass die meisten jüdischen Einwanderinnen und Einwan-
derer, trotz lebenslanger Erwerbstätigkeit, im Vergleich mit Spätaussiedlerinnen
und Spätaussiedlern systematisch entweder von Beginn an oder später im Ren-
tenalter schlechter gestellt sind.

In der 17. Wahlperiode hat die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen Ge-
setzentwurf eingebracht, der jüdische Einwanderer aus den Nachfolgestaaten der
Sowjetunion rentenrechtlich mit den Spätaussiedlern gleichstellt (Bundestags-
drucksache 17/14107). Berufsjahre, die sie in ihren Herkunftsländern zurückge-
legt haben, werden nach dem Fremdrentengesetz in die Berechnung der Rente
einbezogen. In den Herkunftsländern erworbene Berufsabschlüsse und -erfahrun-
gen der jüdischen Einwanderer werden vollumfassend anerkannt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele der in den Jahren 1991 bis 2014 eingereisten jüdischen Einwan-
derinnen und Einwanderer hatten zum Zeitpunkt der Einwanderung bereits
das 60. Lebensjahr erreicht?

2. Wie viele der in den Jahren 1991 bis 2014 eingereisten jüdischen Einwan-
derinnen und Einwanderer waren zum Zeitpunkt der Einwanderung zwi-
schen 40 und 60 Jahre alt?

3. Wie vielen Personen aus der in der Frage 2 erfragten Gruppe wurden ihre in
den Herkunftsländern erworbenen Berufsabschlüsse nicht oder nur teilweise
anerkannt?

4. Wie viele Personen aus der in der Frage 2 erfragten Gruppe sind bzw. waren
sozialversicherungspflichtig beschäftigt (bitte nach Beschäftigungsdauer
aufschlüsseln)?

5. Wie viele Personen aus der in der Frage 4 erfragten Gruppe sind bzw. waren
nach Kenntnis der Bundesregierung unter ihrer Qualifikation beschäftigt o-
der müssen bzw. mussten eine ihrer Qualifikation nicht entsprechende Be-
schäftigung ausüben, weil ihre Berufsabschlüsse nicht oder nur teilweise an-
erkannt wurden?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6872
 

6. Wie viele der in der Frage 4 erfragten Personen sind bzw. waren nach Errei-
chen des Rentenalters auf Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetz-
buch (SGB XII) angewiesen?

7. Sind der Bundesregierung zu den Fragen 3 bis 6 sozialwissenschaftliche Stu-
dien bekannt, und wenn nein, plant sie solche in Auftrag zu geben?

8. Warum konnte die Bundesregierung die Verhandlungen mit den Nachfolge-
staaten der Sowjetunion über den Abschluss von Sozialversicherungsabkom-
men immer noch nicht abschließen?

Wann rechnet die Bundesregierung mit dem Abschluss der diesbezüglichen
Verhandlungen (bitte nach den Herkunftsstaaten aufführen)?

9. Hat die Bundesregierung Maßnahmen ergriffen, um die Anerkennung von
Berufsabschlüssen aus der ehemaligen Sowjetunion bzw. ihrer Nachfolge-
staaten zu verbessern?

Wenn ja, welche?

Wenn nein, warum nicht?

10. Sieht die Bundesregierung in einer Einbeziehung der jüdischen Einwande-
rinnen und Einwanderer in das Fremdrentengesetz ein geeignetes Mittel, um
das Problem der Altersarmut bei diesem Personenkreis zu lösen, und wenn
nein, warum nicht?

11. Welche Maßnahmen zur Lösung des Problems der Altersarmut bei jüdischen
Einwanderinnen und Einwanderern plant die Bundesregierung?

12. Wie begründet die Bundesregierung die bisherige unterschiedliche Behand-
lung von jüdischen Einwanderinnen und Einwanderern und Spätaussiedle-
rinnen und Spätaussiedlern, vor dem Hintergrund der historischen Verant-
wortung und der Tatsache, dass die Vorfahren der aschkenasischen Juden aus
der ehemaligen Sowjetunion zum überwiegenden Teil aus den Gebieten des
„Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ nach Osteuropa ausgewan-
dert sind und das Jiddisch als Sprache aus dem Mittelhochdeutschen hervor-
gegangen ist?

13. Sieht die Bundesregierung in der Ungleichbehandlung zwischen den Jüdi-
schen Einwanderinnen und Einwanderern sowie den Spätaussiedlerinnen
und Spätaussiedlern bzw. des Umgangs mit ihren ähnlich angesammelten Er-
werbszeiten, einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Ar-
tikels 3 des Grundgesetzes, und wenn nicht, worin sieht sie den sachlichen
Grund für die Ungleichbehandlung identischer arbeitsbiographischer Sach-
verhalte?

Kann in der Vorstellung der Bundesregierung die angeblich unterschiedliche
ethnische Abstammung einen ausreichenden sachlichen Grund darstellen?

Berlin, den 24. November 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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