BT-Drucksache 18/6774

Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan

Vom 24. November 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6774
18. Wahlperiode 24.11.2015

Antrag
der Abgeordneten Luise Amtsberg, Omid Nouripour, Tom Koenigs, Volker
Beck (Köln), Claudia Roth (Augsburg), Agnieszka Brugger, Kai Gehring,
Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu,
Dr. Konstantin von Notz, Corinna Rüffer, Hans-Christian Ströbele
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bundesregierung will Flüchtlinge aus Afghanistan künftig wieder verstärkt dort-
hin abschieben und die Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) für afghanische Asylsuchende überarbeiten. Bislang werden
zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan nur in Einzelfällen durchgeführt.
Die Gesamtschutzquote für das Herkunftsland Afghanistan lag im 2. Quartal 2015
bei 78 Prozent (s. Bundestagsdrucksache 18/5785).
Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière erklärte in der Regierungspressekon-
ferenz vom 28.10.2015, dass er die Tatsache, dass Afghanistan weiterhin auf Platz
zwei der Liste der Herkunftsländer liegt, für inakzeptabel halte. „Wir sind uns mit
der afghanischen Regierung einig, dass die Jugend Afghanistans und die Mittel-
schichtfamilien in ihrem Land verbleiben sollen und dort das Land aufbauen. […]
Viele, viele Summen an Entwicklungshilfe sind nach Afghanistan geflossen, da kann
man erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben.“
Im Beschluss der Parteivorsitzenden von CDU und CSU und SPD vom 5. Novem-
ber 2015 heißt es: „Außerdem halten wir den Abschluss eines Rückübernahmeab-
kommens durch die EU sowie den Schutz und die Schaffung innerstaatlicher Flucht-
alternativen (Schutzzonen) und die Konzentration der Entwicklungszusammenarbeit
für dringlich. Vor diesem Hintergrund werden wir die Entscheidungsgrundlagen des
BAMF für Afghanistan überarbeiten und anpassen.“
Diese Vorhaben stehen in massivem Gegensatz zur Sicherheitslage in Afghanistan,
die instabiler denn je in den letzten Jahren ist. In der Fragestunde der Bundesregie-
rung am 04.11.2015 (Plenarprotokoll 18/132) nennt die Staatsministerin im AA,
Prof. Dr. Maria Böhmer, Kabul, Bamiyan und Mazar-i-Sharif als vergleichsweise
sichere Regionen in Afghanistan. Mazar-i-Sharif ist die Hauptstadt der Provinz
Balkh – aus der in den letzten Wochen die deutschen Kräfte der GIZ wegen der
Sicherheitslage abgezogen wurden und Ortskräfte sich nicht aus dem Haus trauen.
Zudem ist die Lage der Paschtunen in Balkh dramatisch. Auch in Bamiyan sind
Paschtunen nicht willkommen. In Kabul führt die prekäre Sicherheitslage zu einer
massiven Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen vor Ort. Deshalb

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sind die von der Bundesregierung genannten Provinzen keine sicheren sogenannten
„inländischen Fluchtalternativen.“
Von den geplanten Abschiebungen könnten 7000 afghanische Schutzsuchende be-
troffen sein. Viele von ihnen sind in Deutschland seit längerem nur geduldet, weil
die Rechtsprechungspraxis insbesondere die Abschiebung alleinstehender junger
Männer für möglich hält – mit dem Tenor, diese hätten in Kabul die Möglichkeit,
wieder im Land Fuß zu fassen.
Die Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) hat sich in den
vergangenen Jahren immer wieder mit der Frage von zwangsweisen Rückführungen
nach Afghanistan beschäftigt. Derzeit besteht eine zurückhaltende Abschiebepraxis.
Abgeschoben hatte man nämlich nur wenige afghanische Staatsangehörige, in der
Regel Straftäter.
Diese zurückhaltende Praxis bei Abschiebungen will die Bundesregierung offenbar
jetzt beenden – zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Missbraucht werden soll die
Debatte um das aufenthaltsrechtliche Schicksal der bereits hier Lebenden zur Ab-
schreckung derer, die sich aktuell in Afghanistan zur Flucht entschließen.
Der Konflikt hat in diesem Jahr mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert als
in den Vorjahren, berichtet die UN-Afghanistan-Mission (UNAMA). Zwischen Ja-
nuar und Juni 2015 sind demnach 1592 Zivilisten getötet und 3329 weitere verletzt
worden. Inzwischen gibt es mehr Opfer durch Kampfhandlungen am Boden als
durch Attentate, Sprengsätze und Ähnliches.
Die „FAZ“ berichtete am 06.10.2015, wie das Land seit zwei Jahren dem Abgrund
entgegenschlittere. Die Eroberung und mehrtägige Besetzung von Kundus sei ein
Wendepunkt für Afghanistan, galten doch die größeren Städte den modernen Eliten
trotz regelmäßiger Bombenanschläge noch immer als relativ sicher vor dem Zugriff
der Taliban. Damit sei es vorbei.
Bei einem Treffen des Politischen Direktors des Auswärtigen Amts, Andreas Mi-
chaelis, mit Außenpolitikern der Unionsfraktionen habe dieser bei einem Treffen mit
auf die prekäre Sicherheitslage hingewiesen
(www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-rueckfuehrung-nach-afghanistan-
kaum-moeglich-a-1062500.html).
Dabei berief er sich auf einen internen Lagebericht der Botschaft in Kabul. Die „Aus-
dehnung der Taliban“ sei heute größer als zu Beginn des militärischen Eingreifens
der NATO 2011, heiße es darin. Die Bedrohung habe sich dramatisch erhöht. Die
Gefahr für Leib und Leben sei in jedem zweiten afghanischen Distrikt hoch oder
extrem. Selbst in Landesteilen, die bisher als relativ sicher galten, wachse die Be-
drohung rasant.
Die Situation werde auf absehbare Zeit weiter echte Gründe für Asyl hervorbringen,
heiße es im Botschaftsbericht.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Abschiebungen von
afghanischen Staatsangehörigen gemäß § 60a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) einzusetzen;

2. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, gegenüber den Bundesländern
sein Einvernehmen zu einer Aufenthaltsgewährung nach § 23 Absatz 1 AufenthG
für afghanische Staatsangehörige zu erklären und sich für entsprechende Rege-
lungen einzusetzen;

3. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge anzuweisen, bei afghanischen Staatsangehörigen die Anerkennung
als Asylberechtigter, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewäh-
rung subsidiären Schutzes und die Feststellung von Abschiebungsverboten ge-
mäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nicht zu widerrufen;

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4. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge anzuweisen, das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerken-
nung der Flüchtlingseigenschaft, insbesondere geschlechtsspezifischer Verfol-
gung, bei der Entscheidung über Asylanträge von afghanischen Staatsangehöri-
gen besonders sorgfältig zu prüfen und afghanischen Asylbewerberinnen und
Asylbewerbern zumindest subsidiären Schutz zu gewähren.

Berlin, den 23. November 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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