BT-Drucksache 18/5384

Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches zur Verbesserung des Schutzes vor sexueller Misshandlung und Vergewaltigung

Vom 1. Juli 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5384
18. Wahlperiode 01.07.2015

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Katja Keul, Ulle Schauws, Renate Künast, Luise Amtsberg,
Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin
von Notz, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches zur Verbesserung
des Schutzes vor sexueller Misshandlung und Vergewaltigung

A. Problem
In den Neunzigerjahren wurden die strafrechtlichen Vorschriften über die Verge-
waltigung und sexuelle Nötigung wesentlich umgestaltet. Den bisherigen Nöti-
gungsmitteln der Gewalt und Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib
oder Leben wurde als weitere Tatvariante in § 177 Absatz 1 Nummer 3 Strafge-
setzbuch (StGB) die Nötigung unter Ausnutzung einer Lage hinzugefügt, in der
das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist. Damit sollten
Strafbarkeitslücken für die Fälle geschlossen werden, in denen Frauen vor
Schreck starr oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt sexuelle Handlun-
gen über sich ergehen lassen. Doch die Rechtsprechung hat seitdem gezeigt, dass
die „schutzlose Lage“ in Nummer 3 nicht geeignet ist, alle strafwürdigen Kons-
tellationen zu erfassen. Von einer schutzlosen Lage ist nach der Rechtsprechung
auszugehen, wenn das Opfer bei objektiver Ex-ante-Betrachtung keine Aussicht
hat, sich den als mögliche Nötigungsmittel in Betracht zu ziehenden Gewalthand-
lungen des Täters zu widersetzen, sich seinem Zugriff durch Flucht zu entziehen
oder fremde Hilfe zu erlangen. Die Anforderungen an das Vorliegen einer schutz-
losen Lage sind derart hoch, dass § 177 Absatz 1 Nummer 3 häufig nicht im so-
zialen Nahbereich zum Tragen kommt, obwohl dort die meisten sexuellen Über-
griffe stattfinden. In zahlreichen Fällen erfolgte die Einstellung des Verfahrens
daher nicht wegen Mangels an Beweisen, sondern ausdrücklich wegen der Nicht-
erfüllung des Tatbestandes.
Das Sexualstrafrecht geht bis heute von einem idealisierten Opferverhalten aus.
Obwohl gerade im häuslichen Bereich, bzw. bei Taten die durch Verwandte oder
Bekannte begangen werden, die Opfer oft auf Grund von Überraschungssituatio-
nen, Angst oder Schock, keine Gegenwehr leisten können, setzt § 177 StGB zur
Verwirklichung des Tatbestands der sexuellen Nötigung oder der Vergewaltigung
bis heute den Einsatz eines qualifizierten Nötigungsmittels voraus. Der Täter
muss Gewalt angewandt, mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des
Opfers gedroht, oder eine objektiv schutzlose Lage des Opfers ausgenutzt haben,
um sich gemäß § 177 StGB wegen sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung straf-
bar gemacht zu haben. Aus der Formulierung „Leib oder Leben“ folgt dabei laut
Bundesgerichtshof sogar, dass nicht jede Drohung mit einer Körperverletzung ge-
nügt, um den Tatbestand zu verwirklichen. Es muss ferner eine „zweckbestimmte

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Verknüpfung zwischen dem Nötigungsmittel und dem Taterfolg vorliegen“. Die
Gewalt muss also der Herbeiführung der sexuellen Handlung dienen. Eine allge-
meine, auf frühere Gewaltanwendung gegründete Furcht des Opfers reicht meist
nicht aus. Wenn der Täter das Opfer daher zunächst aus einem anderen Grund
angreift und erst danach den Entschluss fasst mit der Verängstigten den Beischlaf
zu vollziehen, ist der Tatbestand des § 177 StGB nicht erfüllt. Genauso verhält es
sich laut Bundesgerichtshof, wenn ein Täter gegen den erklärten Willen eines Op-
fers mit ihm den Beischlaf vollzieht und dieses lediglich auf Grund der Anwesen-
heit von Kindern im Nebenraum keine Gegenwehr leistet.
Auch sogenannte „Überraschungsfälle“ werden nicht erfasst. Dringt der Täter in
das schlafende Opfer gegen dessen Willen ein, stellt das Eindringen in den Körper
laut Bundesgerichtshof noch keine Vergewaltigung im Sinne des § 177 StGB dar,
da dieser voraussetzt, dass das Opfer das sexuelle Ansinnen des Täters erkannt
sowie einen entgegenstehenden Willen gebildet hat. Daran fehlt es aber nach dem
Bundesgerichtshof, wenn der Täter die sexuelle Handlung so überraschend vor-
nimmt, dass die Angegriffene einen Abwehrwillen nicht bilden konnte.
Mit der Anknüpfung an eine aktive Widerstandsleistung seitens des Opfers, wird
die Erfüllung des Tatbestandes durch den Täter auch abhängig vom Opferverhal-
ten. Erfährt die Angegriffene, dass die Strafbarkeit wegen eines Sexualdelikts auf-
grund ihres passiven Verhaltens entfällt, kann das Opfer unter Schuldgefühlen
leiden; es findet eine erneute Viktimisierung statt.
Durch die derzeitige Ausgestaltung des § 177 StGB und die restriktive Auslegung
der Norm durch den Bundesgerichtshof wird der Schutzbereich der sexuellen
Selbstbestimmung nach wie vor in nicht hinnehmbarer Weise verkürzt.

B. Lösung
Eine Neufassung des § 177 StGB mit dem Ziel die derzeitigen Schutzlücken so-
weit wie möglich zu schließen, ohne dabei sozialadäquates sexuelles Anbah-
nungsverhalten zu kriminalisieren.
Eine Ausweitung des Schutzbereichs auf alle Sexualkontakte bei denen vorher
keine klaren Vereinbarungen getroffen wurden, erscheint nicht sachgerecht und
brächte unlösbare Abgrenzungsschwierigkeiten mit sich, was noch sozialadäquat
ist und was nicht. Daher ist eine gesonderte Regelung der Überraschungsfälle und
der Konstellationen, in denen das Opfer seinen entgegenstehenden Willen erkenn-
bar zum Ausdruck gebracht hat, der beste Lösungsansatz.

C. Alternativen
Keine.

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Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches zur Verbesserung
des Schutzes vor sexueller Misshandlung und Vergewaltigung

Vom …

Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:

Artikel 1

Änderung des Strafgesetzbuches

Das Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das
zuletzt durch … geändert worden ist, wird wie folgt geändert:
1. Die Inhaltsübersicht wird wie folgt geändert:

a) In der Angabe zu § 177 wird die Angabe „Nötigung;“ durch die Angabe „Misshandlung;“ ersetzt.
b) In der Angabe zu § 178 wird die Angabe „Nötigung“ durch die Angabe „Misshandlung“ ersetzt.

2. § 177 wird wie folgt gefasst:

㤠177
Sexuelle Misshandlung; Vergewaltigung

(1) Wer eine andere Person durch Drohung mit einem empfindlichen Übel nötigt, sexuelle Handlun-
gen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen,
wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder an sich
oder einem Dritten vornehmen lässt und dabei die Arg- oder Wehrlosigkeit des Opfers ausnutzt oder der
entgegenstehende Wille des Opfers erkennbar zum Ausdruck gebracht worden ist.

(3) Der Versuch ist strafbar.
(4) Wird die Tat durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben

begangen, beträgt die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr.
(5) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren. Ein besonders

schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn
1. der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vor-

nimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere, wenn sie
mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung), oder

2. die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird.
(6) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter

1. eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,
2. sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt

oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden, oder
3. das Opfer durch die Tat in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.

(7) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter
1. bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet oder

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2. das Opfer
a) bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder
b) durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.
(8) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 und 2 ist auf Geldstrafe, in minder schweren Fällen des

Absatzes 3 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren, in minder schweren Fällen der Absätze
5 und 6 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.“

3. In § 178 wird jeweils das Wort „Nötigung“ durch das Wort „Misshandlung“ ersetzt.
4. § 240 Absatz 4 Satz 2 Nummer 1 wird aufgehoben.
5. § 240 Absatz 4 Satz 2 Nummer 2 und 3 werden Nummer 1 und 2.
6. § 179 wird aufgehoben.

Artikel 2

Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.

Berlin, den 30. Juni 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/5384
Begründung

A. Allgemeiner Teil

I. Wesentlicher Inhalt des Entwurfs
Der neu gefasste § 177 StGB überführt im Wesentlichen die bisher in § 240 Absatz 4 Satz 2 Nummer 1 StGB
geregelte sexuelle Nötigung in den § 177 Absatz 1 StGB und führt einen inhaltlich neuen Absatz 2 ein, der künftig
Taten, bei denen die Arg- oder Wehrlosigkeit des Opfers ausgenutzt oder gegen den erkennbar zum Ausdruck
gebrachten Willen des Opfers gehandelt wird, unter Strafe stellt.
Nach dem neuen Absatz 1 entfällt das Erfordernis des Einsatzes eines qualifizierten Nötigungsmittels (Gewalt
oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben), indem die Drohung mit einem empfindlichen Übel
zur Tatbestandserfüllung der sexuellen Misshandlung genügt. Dies entspricht dem bisherigen § 240 Absatz 4 Satz
2 Nummer 1 StGB, der aufgehoben wird.
Absatz 2 soll die Fallkonstellationen erfassen, in denen die Gewalt nicht im unmittelbaren Kontext mit dem Tat-
geschehen angedroht wurde sowie die sogenannten Überraschungsfälle. Dazu ist es erforderlich, diese Fallkons-
tellationen aus dem Nötigungstatbestand des § 177 Absatz 1 StGB herauszulösen.
Absatz 3 regelt die Strafbarkeit des Versuchs der sexuellen Misshandlung. Nach Absatz 4 gilt in Fällen der An-
wendung von Gewalt der höhere Strafrahmen von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe fort.
Die bisherigen Absätze 2 bis 5 bleiben im Wesentlichen unverändert und werden zu Absätzen 5 bis 8.
§ 179 StGB ist mit der Neufassung des § 177 StGB überflüssig, da widerstandsunfähige Personen künftig auch
von § 177 Absatz 2 StGB geschützt sind. Dieser wegen seiner diskriminierenden Wirkung ohnehin umstrittene
Straftatbestand des § 179 StGB ist daher ersatzlos zu streichen.

II. Völkerrechtlicher Anpassungsbedarf des § 177 StGB
Der Entwurf setzt Artikel 36 Absatz 1 der Istanbul-Konvention um. Demnach müssen nicht einverständlich vor-
genommene sexuelle Handlungen von den Mitgliedstaaten pönalisiert werden. Da dies nach der derzeitigen
Rechtslage in Deutschland nicht gegeben ist, ist die Anpassung völkerrechtlich zwingend.

B. Besonderer Teil

Zu Nummer 1:
Anpassung der Inhaltsübersicht.

Zu Nummer 2:
Absatz 1:
Der abgewandelte § 240 Absatz 4 Nummer 1 StGB bildet künftig den Absatz 1 des § 177 StGB. Der bisherige
§ 240 Absatz 4 Nummer 1 StGB umfasst die aktive Nötigung einer anderen Person zu einer sexuellen Handlung
mit Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel. Das Tatbestandsmerkmal „Gewalt“ wird aus dem Ab-
satz gestrichen und in den neuen § 177 Absatz 3 überführt; die Strafandrohung bei Gewaltanwendung entspricht
insoweit der des bisherigen § 177 Absatz 1 StGB. Damit geht der § 240 Absatz 4 Nummer 1 StGB insgesamt in
§ 177 StGB auf.
Darüber hinaus ist mit dem neuen Absatz 1 die Nötigung zur Duldung einer sexuellen Handlung strafbar, auch
wenn der Täter kein qualifiziertes Nötigungsmittel gegen das Opfer einsetzt. Gänzlich straflos war bisher bei-
spielsweise der Fall, in dem der Sporttrainer einem Mädchen drohte, seine Teilnahme am Turnier wäre gefährdet,
wenn es keinen sexuellen Kontakt seines Trainers an sich duldete. Mit dem neuen Tatbestand wird diese bisher

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bestehende Strafbarkeitslücke geschlossen, sodass Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung effektiv ver-
folgt werden und angemessen sanktioniert werden können.

Absatz 2:
Das deutsche Recht erfasst nicht alle strafwürdigen Sachverhalte (vergl. Prof. Dr. Tatjana Hörnle, Warum § 177
Abs. 1 StGB durch einen neuen Tatbestand ergänzt werden sollte, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdog-
matik 2015, S. 210 ff.). Der neue Absatz 2 soll Fälle erfassen, die bisher weder § 177 Absatz 1 Nummer 1 oder 2
StGB (Gewaltanwendung oder -androhung), noch den Auffangtatbestand des § 177 Absatz 1 Nummer 3 StGB
(Ausnutzung einer schutzlosen Lage) erfüllten:
a) Alternative 1: Das Opfer ist arglos und der Täter nutzt diesen Umstand zur Tatbegehung aus. In der typischen

Fallkonstellation der Arglosigkeit wird das Opfer vom Täter mit der sexuellen Handlung überrascht und
konnte daher keinen Abwehrwillen bilden.

b) Alternative 2: Das Opfer ist wehrlos und der Täter nutzt diesen Umstand zur Tatbegehung aus. Typisches
Beispiel für die Wehrlosigkeit ist die Widerstandunfähigkeit des Opfers.

c) Alternative 3: Das Opfer bringt erkennbar einen den sexuellen Handlungen entgegenstehen Willen zum Aus-
druck. Ausschlaggebend für die Erkennbarkeit ist, dass die Erklärung nach außen hin sichtbar ist, indem das
Opfer sich entweder verbal äußert oder die Ablehnung im Verhalten des Opfers objektiv deutlich wird.

Weint das Opfer, macht sich steif oder sagt ausdrücklich, dass es keine sexuellen Handlungen wünscht, leistet
aber keine körperliche Gegenwehr, die eine Gewaltanwendung seitens des Täters hervorrufen würde, so ist der
Tatbestand der sexuellen Nötigung bisher nicht erfüllt, obwohl das geschützte Rechtsgut der sexuellen Selbstbe-
stimmung betroffen ist.
In der folgenden Fallgestaltung entschied der Bundesgerichtshof, dass nicht belegt ist, dass der Täter unter Aus-
nutzung einer Lage, in der das Mädchen seiner Einwirkung schutzlos ausgeliefert gewesen ist, genötigt hat, die
Vollziehung des Beischlafs zu dulden: Der Beschuldigte gab vor, das Opfer, ein 14-jähriges Mädchen, als Modell
zeichnen zu wollen. Nachdem das Mädchen sein Einverständnis zur Zeichnung erklärt hatte, forderte er es auf,
„sich mit auseinander gestellten Beinen und an der Wand abgestützten Armen mit dem Gesicht zur Wand zu
stellen.” Als das Mädchen dieser Aufforderung nachkam, trat der Mann von ihm unbemerkt hinter es, zog ihm
plötzlich und für es völlig unerwartet die Jogginghose und den Slip herunter; er drang von hinten mit seinem
erigierten Penis ohne Kondom in seine Scheide ein und führte den Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss
durch. Er wusste, dass dies gegen den Willen des „paralysierten Mädchens” geschah. Hierbei nutzte er plangemäß
den Umstand, dass beide in dem Haus allein waren sowie das Überraschungsmoment aus (BGH, Beschluss vom
08.11.2011 – 4 StR 445/11). Im Ergebnis lehnte der Bundesgerichtshof die Erfüllung des Tatbestands des § 177
StGB ab.
Der engen Definition der „schutzlosen Lage“ folgend entschied der Bundesgerichtshof in einem Fall, dass die
Tatsache, dass sich das Opfer allein mit dem Beschuldigten im Wohnzimmer der Familienwohnung befand und
von den schlafenden Kindern keine Hilfe erwarten konnte, für sich genommen noch nicht belegte, dass es ihr
nicht möglich war, sich der Tat durch Flucht zu entziehen, da keine Feststellungen zu den räumlichen Gegeben-
heiten der Wohnung vorlagen, insbesondere ob die Wohnungstür abgeschlossen war. Eine schutzlose Lage läge
nicht vor, wenn es dem Opfer zuzumuten war, durch Schreie oder andere Geräusche fremde Hilfe zu erlangen
(BGH, Beschluss vom 20.03.2012 – 4 StR 561/11). Auch hier sah der Bundesgerichtshof den Tatbestand des
§ 177 StGB nicht als erfüllt an.
Ebenfalls nicht umfassend von § 177 StGB erfasst ist das Ausnutzen von vorausgegangener Gewalt, die der Täter
ursprünglich aus anderen Gründen, nicht zum Zweck der konkreten sexuellen Handlung, angewendet hatte. Es
genügt nach der Rechtsprechung nicht, dass das Opfer aufgrund der früher zu anderen Zwecken angewendeten
Gewalt oder ausgesprochenen Drohung noch Angst empfindet, der Täter dies erkennt und zur Umsetzung seiner
nunmehr gefassten Absichten ausnutzt, ohne indes ausdrücklich oder konkludent unter Bezugnahme auf die ur-
sprüngliche Gewalt oder Drohung eine neue Drohung zum Ausdruck zu bringen. So genügte es nicht für eine
Strafbarkeit nach § 177 StGB wegen Vergewaltigung, dass der Mann nach einem Streit zu der von ihm getrennt
lebenden Ehefrau fuhr, dort ihren Freund erschoss, anschließend die Pistole auf sie richtete, um sie dazu zu brin-
gen, ihn zu begleiten. Aus Furcht davor, ebenfalls erschossen zu werden, begleitete die Frau ihn in ein Hotelzim-
mer und vollzog aus Angst den Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann, während die Pistole auf den zuvor ausgezo-
genen den Kleidern lag (BGH, Beschluss vom 16.10.2012 – 3 StR 385/12).

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Durch die Einführung des neuen § 177 Absatz 2 StGB hängt die Strafbarkeit der nicht einverständlichen sexuellen
Handlung nicht mehr von der Gewaltanwendung des Täters oder vom objektiven Vorliegen einer schutzlosen
Lage ab, sondern vom Ausnutzen der Arg- oder Wehrlosigkeit des Opfers oder dessen erkennbar zum Ausdruck
gebrachten entgegenstehenden Willen. Nicht nur die konkreten Strafbarkeitslücken, die die Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs aufzeigt, sind dadurch geschlossen. Darüber hinaus soll der neue Absatz 2 die Fälle einer
„Gewaltbeziehung“ erfassen, in denen das Opfer gegen seinen Willen die sexuellen Wünsche des Partners erfüllt,
aus der Erfahrung heraus, dass bei einer Verweigerung der Partner Gewalt anwendet. Ebenso soll der Fall strafbar
sein, wenn das Opfer „Nein“ zur sexuellen Handlung sagt, aber den Sex ohne Gegenwehr über sich ergehen lässt,
damit er schneller vorbei ist, in der Annahme, der Täter würde auch bei Gegenwehr sein Ziel erreichen. Zusätzlich
sind die Fälle umfasst, in denen die Frau nur verbal ihre Ablehnung zum Ausdruck bringt, aber aus Angst, der
Täter könnte ihren Kindern oder anderen dritten Personen Schaden zufügen, keine Gegenwehr leistet. Außerdem
ist die Strafbarkeitslücke für die Fälle geschlossen, in denen das Opfer zwar dem Täter gegenüber seinen Wider-
spruch zur sexuellen Handlung klar äußert, aber aus Scham und Angst vor der Offenbarung der Situation gegen-
über Dritten auf Hilferufe oder Gegenwehr verzichtet. Unter die Alternative der Ausnutzung der Arg- oder Wehr-
losigkeit soll auch der Sachverhalt fallen, wenn der Täter im Gedränge öffentlicher Verkehrsmittel oder in Men-
schenansammlungen unter Ausnutzung der ablenkenden Situation plötzlich sexuellen Körperkontakt zum Opfer
aufnimmt.
Im Rahmen der Strafzumessung soll der besondere Unwertgehalt bei Ausnutzung der Wehrlosigkeit des Opfers
berücksichtigt werden, wenn sich die Tat gegen ein widerstandsunfähiges Opfer richtet, weil diese Menschen
besonders schutzbedürftig sind.
Darüber hinaus ist mit § 177 Absatz 2 StGB das völkerrechtliche Erfordernis der Umsetzung des Artikels 36
Absatz 1 der Istanbul-Konvention erfüllt.

Absatz 3:
Die neuen Absätze 1 und 2 übernehmen den Strafrahmen des § 240 Absatz 4 StGB. Die ausdrückliche Bestim-
mung der Strafbarkeit des Versuchs ist daher erforderlich.

Absatz 4:
Der Strafrahmen von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe wird für die Fälle der Anwendung von Gewalt oder
Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben beibehalten.

Absätze 5 bis 7:
Identisch mit den bisherigen Absätzen 2 bis 4 des § 177 StGB.

Absatz 8:
Die Regelung der minder schweren Fälle wird an die neuen Absätze 1 und 2 angepasst.

Zu Nummer 3:
Redaktionelle Anpassungen.

Zu Nummer 4:
Der bisherige § 240 Absatz 4 Satz 2 Nummer 1 ist im neuen § 177 StGB aufgegangen und wird aufgehoben.

Zu Nummer 5:
Redaktionelle Anpassungen.

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Drucksache 18/5384 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Zu Nummer 6:
Widerstand ist keine Tatbestandsvoraussetzung mehr für die sexuelle Misshandlung nach § 177 StGB.
Auch widerstandsunfähige Personen werden künftig durch § 177 Absatz 2 StGB geschützt, sodass ein gesonderter
Straftatbestand nicht mehr erforderlich ist. Das bisher bestehende Problem der Differenzierung der Strafrahmen
bei den Sexualdelikten – der Strafrahmen des § 179 Absatz 1 StGB betrug nur die Hälfte des in § 177 Absatz 1
StGB angelegten Strafrahmens – erledigt sich damit und die Diskriminierung der als widerstandunfähig einge-
stuften Opfer, häufig Frauen und Mädchen mit Behinderung, wird aufgehoben.

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