BT-Drucksache 18/5370

Medizinische Versorgung für Asylsuchende und Geduldete diskriminierungsfrei sichern

Vom 30. Juni 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5370
18. Wahlperiode 30.06.2015
Antrag
der Abgeordneten Harald Weinberg, Ulla Jelpke, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Karin Binder, Matthias W. Birkwald,
Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, Dr. André Hahn, Kerstin
Kassner, Katja Kipping, Caren Lay, Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Michael
Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Birgit Menz, Martina Renner,
Dr. Petra Sitte, Dr. Kirsten Tackmann, Azize Tank, Frank Tempel, Kathrin Vogler,
Birgit Wöllert, Hubertus Zdebel, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Medizinische Versorgung für Asylsuchende und Geduldete
diskriminierungsfrei sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhalten
eine medizinische Versorgung grundsätzlich nur bei akuten Erkrankungen und
Schmerzzuständen sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft. Diese weitrei-
chende Beschränkung der Gesundheitsversorgung verletzt das Menschenrecht auf
Gesundheit, das über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und andere in-
ternationale Abkommen garantiert ist. Es widerspricht auch dem Grundrecht der
Menschenwürde sowie dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes. Denn diese
Grundsätze gelten für alle hier lebenden Menschen, ungeachtet der Nationalität oder
des Aufenthaltsstatus.

Doch in der Praxis wird nach den §§ 4 und 6 AsylbLG oft ein extrem zeit- und per-
sonalaufwändiges Antrags- und Prüfverfahren bei den Sozialämtern durchgeführt,
wenn Asylsuchende oder Geduldete einen Krankenschein, eine Facharztüberwei-
sung oder einen Krankenhausbehandlung benötigen. Dies kann zu medizinisch nicht
vertretbaren Verzögerungen der Behandlung führen und dazu, dass selbst unauf-
schiebbare Behandlungen unter Gefahr für Leib und Leben verschleppt werden. To-
desfälle, schwerste Behinderungen und Menschenrechtverletzungen durch willkür-
liche oder zu späte Entscheidungen der Behörden oder des Personals sind dokumen-
tiert, vgl. ausführlich www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/Classen_AsylbLG-
_2014_AS-Ausschuss.pdf, Seite 39 – 54.

Medizinethisch ist das diskriminierende Verfahren der eingeschränkten Gesund-
heitsversorgung nach dem AsylbLG nicht zu vertreten. In den Sozialämtern ent-
scheiden medizinische Laien, ob ein nach dem Asylbewerberleistungsgesetz anzu-
erkennender Behandlungsbedarf besteht oder nicht und ob bzw. welche amtsärztli-
che Prüfungen zur Klärung eines etwaigen Behandlungsbedarfs eingeleitet werden

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sollen. Dabei ist die Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Krankheits-
zuständen medizinisch keineswegs eindeutig definiert und der Zugang zur erforder-
lichen Behandlung insoweit oft eine auf Willkür beruhende Entscheidung.

Die Erfahrung mit der Ausgabe von Gesundheitskarten nach den §§ 4 und 6
AsylbLG auf Basis eines Vertrags mit der AOK Bremen/Bremerhaven gemäß § 264
Absatz 1 SGB V an Asylsuchende seit 2005 in Bremen und seit 2012 in Hamburg
zeigt, dass die Versorgung über eine Gesetzliche Krankenkasse im administrativen
Bereich wesentlich effektiver und kostengünstiger als bei den Sozialämtern durch-
geführt werden kann (www.zeit.de/feature/krankenversicherung-fluechtlinge-ham-
burg). Gewährt werden die allermeisten Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen,
die keinem Genehmigungsvorbehalt der Krankenkassen unterliegen.

Obwohl in Hamburg und Bremen eine Gesundheitskarte an Leistungsberechtigte
nach dem AsylbLG ausgegeben wird, bedeutet dies nicht, dass diese reguläre Mit-
glieder in der Krankenkasse werden. Die Krankenkasse übernimmt zwar die Kran-
kenbehandlung, doch die Betroffenen verbleiben im Status „nicht versichert“. Eine
reguläre Pflichtmitgliedschaft würde bedeuten, dass sie Vorversicherungszeiten für
eine spätere freiwillige Mitgliedschaft in der GKV erwerben können, also ein weite-
rer Diskriminierungstatbestand entfallen würde.

Die Bundesregierung plant bisher keine grundlegenden Verbesserungen bei der Ge-
sundheitsversorgung und dem Gesundheitsschutz im Rahmen des AsylbLG. Bei der
Umsetzung der EU-Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU soll vor allem die spezielle
Situation von besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden Berücksichtigung finden.
Darüber hinaus ist die Bundesregierung der Auffassung, das AsylbLG erlaube be-
reits eine „angemessene gesundheitliche Versorgung“ (vgl. Antwort der Bundesre-
gierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache
18/4758). Eine menschenrechtskonforme und medizinethisch nicht zu beanstan-
dende Gesundheitsversorgung erfordert die gleichberechtigte generelle Versiche-
rungspflicht aller Menschen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, ihrer Her-
kunft oder ihrem Vermögen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

geeignete Maßnahmen zu ergreifen und einen Gesetzeentwurf auf den Weg zu brin-
gen, um sicherzustellen, dass

1. alle Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG in die Versicherungspflicht nach
§ 5 Absatz 1 SGB V und § 20 ff. des SGB XI einbezogen werden. Die in § 5
Absatz 8a Satz 2 und 3 SGB V und in § 5 Absatz 11 SGB V für Empfängerinnen
und Empfänger von Leistungen nach dem AsylbLG und dem SGB XII vorgese-
henen Ausschlüsse von der GKV sind zu streichen. Die für Ausländerinnen und
Ausländer in § 5 Absatz 11 SGB V vorgesehenen Ausschlüsse sind ebenfalls zu
streichen, soweit der erlaubte Aufenthalt über einen dreimonatigen Kurzaufent-
halt hinausgeht. Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG sind von Zuzahlungen
gemäß den §§ 61, 62 SGB V zu befreien. Der Beitrag ist entsprechend der Re-
gelung für Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und -Bezieher festzusetzen (§ 246
SGB V). Die Beiträge für die Krankenversicherung trägt der Bund;

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2. übergangsweise und kurzfristig die seit 2004 für Leistungsberechtigte nach § 2

AsylbLG geltende Ausgabe von Gesundheitskarten nach § 264 Absatz 2 bis 7
SGB V auf alle Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG ausgeweitet wird. Die
Leistungsbeschränkungen in § 4 Abs. 1 AsylbLG auf die Behandlung akuter
Erkrankungen und Schmerzzustände sind ersatzlos zu streichen.

Berlin, den 30. Juni 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Grundsätzlich ist die Abschaffung des AsylbLG als diskriminierendes Sondergesetz und die Überführung der
bislang von diesem Gesetz umfassten Personen in das allgemeine System der sozialen Sicherung nach den
Sozialgesetzbüchern einschließlich der Gesundheitsversorgung geboten, um einen menschenrechtskonformen
Zugang zur sozialen Sicherung zu schaffen. Einen diesbezüglichen Antrag der Fraktion DIE LINKE. (Bundes-
tagsdrucksache 18/2871) hat der Deutsche Bundestag am 6.11.2014 allerdings abgelehnt. Bis zu Abschaffung
des AsylbLG sind den Kommunen etwaige Leistungen zur erstatten.

Das Grund- und Menschenrecht auf Gesundheit ist in Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
(AEMR), Art. 12 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Pakt),
Art. 6 des Internationalen Paktes über politische und bürgerliche Rechte, Art. 11 der Europäischen Sozialcharta
sowie Art. 35 der Europäischen Grundrechtecharta garantiert. In der Präambel zur 1946 verabschiedeten WHO-
Erklärung heißt es: „Sich des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu erfreuen, ist eines der Grundrechte jedes
Menschen“. Art. 25 AEMR bestimmt: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der ihm und seiner Fa-
milie Gesundheit und Wohlergehen ausreichend sichert, insbesondere Nahrung, Kleidung, Unterkunft und me-
dizinische Versorgung sowie die erforderlichen Sozialleistungen“.

In Art. 12 des von Deutschland 1973 ratifizierten WSK-Pakts heißt es: „Die Vertragsstaaten erkennen das
Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an.“ Nach
den Hinweisen des WSK-Ausschusses (General Comment Nr. 20) gilt dies „für alle Menschen, einschließlich
Nichtstaatenangehöriger, beispielsweise Flüchtlinge, Asylsuchende, Staatenlose, ungeachtet dessen, welche
Rechtstellung sie besitzen“. Jegliche Diskriminierung bei der Gesundheitsfürsorge und den Gesundheitsdiens-
ten ist nach dem WSK-Pakt verboten.

Das Recht auf Gesundheit ist Teil des in den Urteilen des BVerfG anerkannten und auch für ausländische
Staatsangehörige, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, anerkannten Grundrechts auf Gewähr-
leistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG (vgl. Urteil vom
18.07.2012, AZ: 1 BvL 10/10 u. a.). Das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 zum AsylbLG hält die gesetzliche
Festlegung eines gruppenspezifischen Minderbedarfs bei dem auch die physische Existenz umfassenden men-
schenwürdigen Existenzminimum nur für zulässig, wenn ein solcher Minderbedarf empirisch ermittelt und
objektiv belegbar ist. Die in vden §§ 4 und 6 AsylbLG enthaltenen Einschränkungen der medizinischen Ver-
sorgung gegenüber der lediglich den notwendigen Bedarf an medizinsicher Versorgung abdeckenden gesetzli-
chen Krankenversicherung (§ 12 Abs. 1 SGB V) wären demnach nur gerechtfertigt, wenn empirisch erwiesen
wäre, dass die Beschränkung des Behandlungsbedarfs auf Symptombehandlungen und Akuterkrankungen aus
den besonderen Eigenheiten der im AsylbLG erfassten Personengruppe zu erklären ist. Es ist aber gerade nicht
belegt, dass ein Asylsuchender in geringerem Maße der ärztlichen Hilfe bedarf als andere Menschen.

Eine solche Annahme wäre auch im Hinblick auf die Bedeutung der Gesundheit als Grundlage aller anderen
Grundrechte und der Menschenwürde nicht zu rechtfertigen. Es ist mit den Menschenrechten und dem Grund-
gesetz nicht vereinbar, den Gesundheitsschutz auf Akutfälle und Schmerzbehandlungen zu beschränken und
eine fachgerechte Behandlung chronischer Krankheiten zu versagen. Eine Aufhebung der §§ 4 und 6 AsylbLG
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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ist notwendig: „Das Urteil des BVerfG vom 18.7.2012 muss für den Gesetzgeber deshalb auch ein Anlass sein,
die Reichweite des Gesundheitsschutzes für Flüchtlinge und Asylsuchende zu überprüfen. Die Beschränkung
des Anspruchs auf eine Akutbehandlung und die Versagung einer nachhaltigen Krankenbehandlung verletzt
das Menschenrecht auf Gesundheit und widerspricht auch einem das Sozialleistungsrecht umfassenden Ver-
ständnis des Art. 2 Abs. 2 GG. Danach ist der Staat nicht nur gefordert, sich sämtlicher Eingriffe in das Leben
und die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit der Inlandsbewohner zu enthalten, sondern auch zum akti-
ven Schutz der kranken Menschen durch medizinische Hilfe verpflichtet. Deren Versagung stellte auch die
Diskriminierung behinderter Menschen dar, die sowohl international- und europarechtlich wie nach Art. 3 Abs.
3 Satz 2 GG untersagt ist.“ (www.zar.nomos.de/fileadmin/zar/doc/Aufsatz_ZAR_13_5-6.pdf).

Kurzfristig ist die Ausgabe von Krankenversicherungskarten an AsylbLG-Berechtigte bundesweit zu ermög-
lichen. In Bremen und Hamburg erhalten sie bei der ambulanten und stationären Krankenbehandlung weitge-
hend den gleichen Leistungsumfang wie gesetzlich Versicherte. Auf den Krankenversichertenkarten nach §§ 4
und 6 AsylbLG sind keine Hinweise auf Leistungseinschränkungen vermerkt. Marginale Einschränkungen sind
im Vertrag mit der AOK Bremen/Bremerhaven konkret definiert. Die Genehmigungspflicht beschränkt sich
dabei auf solche Fälle, für die dies auch für GKV-Versicherte gilt. Nur auf Antrag gewährt werden in Hamburg
bzw. Bremen Psychotherapien, Vorsorgekuren und Reha-Maßnahmen, Zahnersatz und kieferorthopädische
Behandlung, sowie Hilfsmittel die teurer als 2 000 Euro sind (vgl. auch Anlage 1 zur Vereinbarung nach § 264
Absatz 1 SGB V mit der AOK Bremen/Bremerhaven, S. 13). Die AOK prüft die Anträge ggf. über den Medi-
zinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), und bezieht nur in Ausnahmefällen die Sozialbehörde in die Ge-
nehmigung ein, in Hamburg z. B. bei Langzeitpsychotherapien. Ausgeschlossen sind Leistungen im Rahmen
der Disease-Management-Programme (DMP), Künstliche Befruchtung, Leistungen im Ausland sowie freiwil-
lige Zusatzleistungen der AOK.

Trotz dieses in vergleichsweise großzügiger Auslegung der §§ 4 und 6 AsylbLG definierten, mit Ausnahme
des Zahnersatzes weitgehend dem GKV-Standard entsprechenden Leistungsumfangs waren in Hamburg die
Gesundheitsausgaben nach §§ 4 und 6 AsylbLG nach Einführung der GKV-Karte gleichbleibend. Aufgrund
der wesentlich geringeren Administrationskosten waren im Ergebnis deutliche Einsparungen zu verzeichnen,
vgl. dazu Burmester, Medizinische Versorgung der Leistungsberechtigten nach §§ 4 und 6 AsylbLG über eine
Krankenkasse, NDV 2015, 109. Für Bremen liegen keine belastbaren Daten zu den Ausgaben vor.

Durch die Ausgabe von Gesundheitskarten und das in § 264 Absatz 2 SGB V geregelte Erstattungsverfahren
würde also ein weniger Bürokratie verursachendes, einheitliches System der Krankenversicherung für alle
AsylbLG-Berechtigten gleichermaßen geschaffen. Die derzeit diskutierten Krankenkassenverträge auf Landes-
ebene gemäß § 264 Abs. 1 SGB V würden überflüssig. Das seit 2004 für § 2 AsylbLG-Berechtigte geltende
Kostenerstattungssystem nach § 264 Absatz 2 bis 7 SGB V würde dann bundesweit gleichermaßen den Zugang
für alle AsylbLG-Berechtigten zu einer gesetzlichen Krankenversicherung nach Wahl sicherstellen. Vgl. dazu
auch den Antrag Hamburgs (Bundesratsdrucksache 392/2/14 (neu) vom 10. Oktober 2014).

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