BT-Drucksache 18/4817

Bußgeldumgehung bei Kartellstrafen verhindern - Gesetzeslücke schließen

Vom 6. Mai 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4817
18. Wahlperiode 06.05.2015
Antrag
der Abgeordneten Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Katja Keul, Renate Künast,
Nicole Maisch, Dr. Thomas Gambke, Anja Hajduk, Dr. Tobias Lindner, Beate
Müller-Gemmeke, Dr. Konstantin von Notz, Lisa Paus, Corinna Rüffer,
Dr. Gerhard Schick und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bußgeldumgehung bei Kartellstrafen verhindern – Gesetzeslücke schließen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Unternehmen in Deutschland können sich relativ einfach ihren Kartellstrafen entzie-
hen. Ermöglicht wird dies durch eine Lücke im Gesetz. Nach Umstrukturierung oder
Verkauf des mit Bußgeld belegten Unternehmens gibt es oftmals keinen haftenden
Rechtsträger mehr, bei dem das Bundeskartellamt die Strafe eintreiben könnte. In
der vergangenen Legislaturperiode sollte diese Lücke geschlossen werden. Bundes-
kartellamt, Monopolkommission und auch die Grüne Bundestagsfraktion forderten
damals eine Regelung nach dem Vorbild des EU-Wettbewerbsrechts. Danach ist
eine effektive Kartellverfolgung bei Gesamtrechtsnachfolge und in den wichtigen
einschlägigen Konstellationen der Einzelrechtsnachfolge eines Unternehmens si-
chergestellt. Die damaligen Regierungsfraktionen der CDU/CSU und FDP lehnten
den Antrag der Grünen Bundestagsfraktion jedoch ab und beschlossen stattdessen
eine Regelung, die weiterhin Schlupflöcher zur Umgehung von Kartellstrafen beließ.
Insbesondere handelt es sich hierbei um Fälle, in denen es zu Vermögensübertragun-
gen kommt, ohne dass der übertragende Rechtsträger erlischt und eine Gesamt-
rechtsnachfolge stattfindet. Darüber hinaus ist auch die Haftung von Konzernen für
eigene Aufsichtspflichtverletzungen gegenüber ihren Tochtergesellschaften bisher
nicht eindeutig geregelt und muss sichergestellt werden.

Ein aktueller Fall veranschaulicht das bestehende Problem: Aufgrund verbotener
Preisabsprachen verhängte das Bundeskartellamt 2014 Bußgelder gegen 21 Herstel-
ler von Wurstwaren. Anfang dieses Jahres wurde bekannt, dass zwei der Kartellsün-
der durch Umstrukturierungsmaßnahmen des Mutterkonzerns ihre Geldbuße von
insgesamt 120 Millionen Euro vermutlich nicht werden zahlen müssen. Offenbar
wurden die werthaltigen Teile der beiden mit Bußgeld belegten Tochterunternehmen
in neue Gesellschaften verlagert, diese aus dem Handelsregister gelöscht und die
neuen Gesellschaften am Ende vollständig in den Mutterkonzern integriert. Zudem
wurden bei Transaktionen innerhalb des Konzerns wohl immer wieder Einzelkauf-
leute eingeschaltet. Bestehende Sanktionslücken wurden also hierbei ausgenutzt.
Aufgrund von Regelungslücken konnte kein Bescheid gegen den Mutterkonzern
festgesetzt werden.

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Die aktuelle große Koalition hat bisher keinen Gesetzentwurf zur Schließung der
Gesetzeslücke vorgelegt. Dies muss dringend geschehen, um jedwede Umgehung
von Kartellbußen durch Unternehmensumstrukturierungen auszuschließen. Eine
entsprechende Regelung sollte sich am europäischen Vorbild orientieren. Die Ahn-
dung von Kartellen durch das Bundeskartellamt ist ein zentraler Mechanismus für
das Funktionieren unserer Wirtschaft. Denn Preisabsprachen schaden dem Wettbe-
werb und damit Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie den durch das Kartell
beeinträchtigten Unternehmen. Es ist wichtig, als Gesetzgeber hier ein klares Signal
zu senden und die Lücke im Gesetz zu schließen. Es wäre ein fatales Zeichen für die
Kartelle, für die ehrlichen Unternehmer, für die Verbraucherinnen und Verbraucher
und nicht zuletzt für das Bundeskartellamt, wenn die Aufdeckung von Preisabspra-
chen keine wirtschaftlichen Konsequenzen für die Kartellsünder hätte. Die Ehrlichen
dürfen nicht die Dummen sein, indem Tricksereien belohnt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, um im Falle von Kartellordnungswidrigkeiten alle
Möglichkeiten der Umgehung von Bußgeldern durch Unternehmensumstrukturie-
rungen auszuschließen, indem der Unternehmensbegriff im deutschen Kartellord-
nungswidrigkeitenrecht der weitergehenden europarechtlichen Regelung angenähert
wird, so dass
1.

a) in Fällen der Abspaltung oder der Ausgliederung (§ 123 Abs. 2 und 3
UmwG), wenn der abgespaltene oder ausgegliederte Teil einen wesentli-
chen Teil des Vermögens des übertragenden Rechtsträgers darstellt oder
der abgespaltene bzw. ausgegliederte Teil in der neuen juristischen Person
einen wesentlichen Teil des gesamten Vermögens ausmacht, oder

b) bei Einzelrechtsübertragungen, wenn das übertragende Vermögen einen
wesentlichen Teil des Vermögens des übertragenden Rechtsträger darstellt
oder das übertragende Vermögen in der neuen juristischen Person einen
wesentlichen Teil des gesamten Vermögens ausmacht,

c) ein Bußgeld gegen den Rechtsträger, auf den der wesentliche Teil des Ver-
mögens übertragen wurde, geltend gemacht werden kann,

d) in den Fällen, in denen ein sich kartellwidrig verhaltendes einzelkaufmän-
nisches Unternehmen in die Rechtsform einer juristischen Person oder Per-
sonenvereinigung wechselt oder ein bußgeldbewertes Unternehmen von ei-
nem Einzelkaufmann als Rechtsnachfolger übernommen wird, ein Bußgeld
gegen den Einzelkaufmann bzw. dessen Rechtsnachfolger festgesetzt wer-
den kann;

2. verfahrensrechtlich der Rechtsnachfolger in die Stellung des Rechtsvorgängers
eintritt, wenn Umstrukturierungsmaßnahmen nach 1. a) bis c)
a) im Zeitpunkt vor Festsetzung der Geldbuße gegen den Rechtsvorgänger als

auch nach Festsetzung, aber vor Eintritt der Rechtskraft, erfolgen,
b) durchgeführt werden, nachdem ein gegen den Rechtsvorgänger erlassener

Bußgeldbescheid rechtskräftig geworden ist, so dass der Bußgeldbescheid
auch gegen Rechtsnachfolger vollstreckt werden kann;

3. auch (gesamtschuldnerisch) gegen die Konzernmuttergesellschaft, deren Toch-
terunternehmen die Ordnungswidrigkeit begangen hat, ein Bußgeld festgesetzt
werden kann, wenn die Konzernmutter auf dieses Unternehmen einen bestim-
menden Einfluss ausgeübt hat und daher als „wirtschaftliche Einheit“ im Sinne
des europäischen Unternehmensbegriffs anzusehen ist;

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4. eine Haftung für eine eigene Aufsichtspflichtverletzung der Konzernmutterge-

sellschaft, die ihre Aufsichtspflicht in Bezug auf ein Tochterunternehmen ver-
letzt hat (§ 130 OWiG), klarstellend geregelt wird.

Berlin, den 5. Mai 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung

Werden Vermögenswerte aus der kartellbefangenen Gesellschaft abgezogen, kann die Geldbuße weiterhin we-
der gegen diese Vermögenswerte festgesetzt noch in sie vollstreckt werden. Dies gilt auch für die Fälle, in
denen die Anknüpfungstat von einem Einzelkaufmann begangen wurde, der sein Unternehmen nunmehr in der
Rechtsform einer rechtsfähigen Personengesellschaft oder juristischen Person fortführt. Dann kann gegen letz-
tere eine Verbandsgeldbuße nicht festgesetzt werden, weil die Voraussetzungen des § 30 OWiG niemals vor-
lagen. Wird umgekehrt das Unternehmen durch einen Einzelunternehmer fortgeführt, kann ebenfalls eine Sank-
tion nach § 30 OWiG nicht erfolgen.

Die Gefahr einer solchen Bußgeldumgehung wurde dabei bereits im Gesetzgebungsverfahren zur 8. GWB-
Novelle 2012 gesehen. Bundeskartellamt, Monopolkommission und auch die antragstellende Bundestagsfrak-
tion mahnten genannte Schutzlücken an (Drs. 17/9956, II. 3. b)) und forderten die Verantwortlichkeit im deut-
schen Kartellordnungswidrigkeitenrecht der weitergehenden europarechtlichen Regelung anzunähern. Dieser
liegt ein weiter Unternehmensbegriff nach Art. 101 AEUV und Art. 23 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 zugrunde,
der sich auf „wirtschaftliche Einheiten“ bezieht. Hiernach ist maßgeblich, welches Unternehmen wirtschaftlich
und funktionell mit dem „alten“ Unternehmen identisch ist oder sich als Fortsetzung dieses Unternehmens
darstellt. Der Begriff des Unternehmens deckt sich nach Auffassung von Kommission und EuGH nicht mit der
Rechtspersönlichkeit nach dem innerstaatlichen Recht. Kommission und EuGH sprechen daher von Unterneh-
mensidentität und nicht von Rechtsnachfolge. Ein Unternehmen kann nach einer Umstrukturierung trotz der
Übernahme durch ein anderes Unternehmen weiter existieren. Wird ein gegen das Kartellrecht verstoßendes
Unternehmen nach Verstoß verkauft und vom übernehmenden Unternehmen als unselbständige Einheit in den
Betrieb eingegliedert, kann die Verantwortlichkeit auf die neue oder fusionierte Einheit übergehen. Zur Fest-
stellung der wirtschaftlichen und funktionellen Identität wird auf die Fortführung der wirtschaftlichen Tätigkeit
der übernommenen Einheit und die Beibehaltung der wesentlichen Funktionen abgestellt (wirtschaftlicher Un-
ternehmensbegriff und Kriterium der wirtschaftlichen Kontinuität).

Die Formel „wirtschaftliche Einheit“ erfasst neben den Konzernen auch nicht rechtsfähige Betriebe und Ge-
schäftszweige sowie Einzelunternehmer. Auch eine Tochtergesellschaft bildet mit ihrer Muttergesellschaft un-
ter bestimmten Voraussetzungen eine wirtschaftliche Einheit.

Die Einführung des europarechtlichen wirtschaftlichen Unternehmensbegriffs und der Konzernhaftung im
deutschen Kartellordnungswidrigkeitenrecht führt zudem zu einem Gleichlauf von europäischem und deut-
schem Kartellrecht. Denn es ist zumeist eine Frage der Zuständigkeitseinigung zwischen der Europäischen
Kommission und dem Bundeskartellamt, ob ein Unternehmen wegen Verletzung deutschen oder europäischen
Kartellrechts zur Verantwortung gezogen wird. Art. 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB sind in ihrem Anwen-
dungsbereich nur abgegrenzt durch das Tatbestandsmerkmal der „Auswirkung auf den Handel zwischen den
Mitgliedstaaten“ und dieses konturlose Kriterium hat kaum eine die Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane
begrenzende Wirkung.

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Die effektive Verhinderung, Aufklärung und Verfolgung von als sozialschädlich eingestuftem Verhalten ver-
langt, jegliche Sanktionsvermeidungsstrategien einzudämmen. Wegen der weiterhin bestehenden Umgehungs-
möglichkeiten ist die Regelung des § 30 Abs. 2a OWiG nicht ausreichend, für das Kartellrecht wird sie den
Anforderungen des EuGH an ein Mindestmaß an Effektivität nicht gerecht.

Zu 1.

Nach § 81 GWB handelt unter anderem ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig gegen das Kartellver-
bot des Art. 101 AEUV bzw. § 1 GWB verstößt. Die bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Perso-
nen für Taten ihrer Mitarbeiter bestimmt sich dabei nach § 30 OWiG. Danach kann gegen eine juristische
Person oder Personenvereinigung ein Bußgeld festgesetzt werden, wenn ein Organ oder leitender Mitarbeiter
unter Verletzung der jener juristischen Person obliegenden Pflichten eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit
begangen hat. Um zu verhindern, dass juristische Personen, deren Organe oder Mitarbeiter eine Kartellord-
nungswidrigkeit begangen haben, dem Bußgeld entgehen können, beispielsweise indem werthaltige Teile ab-
gespalten und der ursprüngliche Rechtsträger danach aufgelöst wird, so dass es zum Zeitpunkt der Bußgeldent-
scheidung oder vor Rechtskraft des Bußgeldbescheids nicht mehr existiert, bedarf es einer effektiven gesetzli-
chen Regelung, welche alle Schlupflöcher schließt.

Zu 1 a)

Bei der Abspaltung und bei der Ausgliederung werden Teile des Vermögens eines Unternehmens auf ein an-
deres oder andere Unternehmen übertragen. Der übertragende Rechtsträger bleibt bestehen. Diese Fälle werden
von § 30 Abs. 2a OWiG nicht erfasst mit der Argumentation, dass der übertragende Rechtsträger nach wie vor
in Haftung genommen werden könne. Von den Unternehmen wird dies jedoch dahingehend ausgenutzt, dass
alle werthaltigen Teile auf ein anderes Unternehmen abgespalten oder ausgegliedert werden, so dass lediglich
eine fast wertlose Hülle übrigbleibt. Oftmals wird diese Hülle im Verlaufe des Bußgeldverfahrens aufgelöst.
Der werthaltige abgespaltene oder ausgegliederte Teil des Unternehmens wird nach jetziger Gesetzeslage nicht
als Rechtsnachfolger des bußgeldbewehrten Unternehmens anerkannt. Das Bußgeld kann nicht eingetrieben
werden. Um diese Gesetzeslücke zu schließen, muss eine Regelung vorsehen, dass auch abgespaltene oder
ausgegliederte Unternehmen als Rechtsnachfolger anzusehen sind, wenn sie einen wesentlichen Teil des Ver-
mögens des übertragenden Rechtsträger darstellen oder der abgespaltene bzw. ausgegliederte Teil in der neuen
juristischen Person einen wesentlichen Teil des gesamten Vermögens ausmacht.

Das übertragende Unternehmen und die abgespaltenen bzw. ausgegliederten Unternehmen sollen als Gesamt-
schuldner haften.

Zu 1 b)

Auch die Einzelrechtsübertragung wird von § 30 Abs. 2a OWiG nicht erfasst. Hierbei werden keine Gesell-
schaftsanteile erworben, sondern es werden einzelne Wirtschaftsgüter gekauft. Bei dem Kauf der Gesamtheit
der einzelnen Wirtschaftsgüter (Vermögenserwerb) spricht man vom sog. asset deal.

Hier gelten die zu 1. a) gemachten Ausführungen. Die zu erstellende Regelung soll verhindern, dass Unterneh-
men sich eines Bußgeldes durch Einzelrechtsübertragung entledigen, indem sie werthaltige Teile des Unter-
nehmens veräußern.

Zu 1 c)

Der europäische Kartellrechtsbegriff des Unternehmens als wirtschaftlicher Einheit umfasst jede eine wirt-
schaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. In-
sofern unterfällt dem Unternehmensbegriff jede natürliche und juristische Person sowie jede Personenmehrheit,
die nach dem Gesetz wie eine Person behandelt wird. Ausgeklammert aus dem Unternehmensbegriff sind nur
solche natürlichen und juristischen Personen, die nur gelegentlich oder nur vorübergehend selbständig wirt-
schaftlich tätig werden. Auch die Tätigkeit natürlicher Personen in der Rechtsform eines Einzelkaufmanns,
eines Handelsvertreters, eines Kommissionärs oder eines Handwerkers wird nach der Entscheidungspraxis der
EU-Kommission als Unternehmenstätigkeit angesehen.

Durch die Beteiligung eines Einzelkaufmanns an einer Umstrukturierungsmaßnahme im Falle einer drohenden
oder bereits erlassenen Geldbuße – beispielsweise durch Verschmelzung des nach § 30 OWiG für den Kartell-
verstoß verantwortlichen Rechtsträgers auf einen Einzelkaufmann – ist die Umgehung der Bußgeldzahlung

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bislang möglich, diese Fälle sind durch das OWiG derzeit nicht erfasst. Durch die geforderte Regelung soll
diese Gesetzeslücke geschlossen werden.

Zu 2.

Durch die hier geforderte Regelung sollen alle Umgehungsmöglichkeiten auch verfahrensrechtlich verhindert
werden. Unternehmen sollen sich nicht durch einen geschickt gewählten Zeitpunkt für ihre Umstrukturierungen
vor, während oder nach dem Bußgeld- oder Vollstreckungsverfahren der Zahlung entziehen können.

Zu 2 a)

Durch die geforderte gesetzliche Regelung soll sichergestellt werden, dass, sollte dem Rechtsvorgänger ein
Bußgeld drohen bzw. ein Bußgeld gegen ihn festgesetzt, aber die Entscheidung noch nicht rechtskräftig sein,
das Verfahren gegen den Rechtsnachfolger fortgeführt wird, der in die verfahrensrechtliche Stellung des
Rechtsvorgängers eintritt, wenn in diesem Zeitraum eine Unternehmensumstrukturierung durchgeführt wird.

Zu 2 b)

Nach der hier geforderten Regelung soll die Vollstreckung einer rechtskräftigen Bußgeldentscheidung gegen
den Rechtsnachfolger auch dann möglich sein, wenn eine Unternehmensumstrukturierung erfolgt, nachdem
der Bußgeldbescheid gegen den Rechtsvorgänger in Rechtskraft erwachsen ist.

Zu 3.

Das deutsche Konzernrecht basiert auf der rechtlichen Selbständigkeit der einzelnen Konzerngesellschaften.
Demzufolge bleiben auch allein die einzelnen Konzerngesellschaften und nicht der Konzern als solcher Adres-
sat der sie treffenden Pflichten und Schuldner etwaiger sie treffender Verbindlichkeiten. Eine wechselseitige
Zurechnung von Pflichtverletzungen innerhalb des Konzerns findet nicht statt. Ebenso wenig kennt das deut-
sche Konzernrecht eine generelle Außenhaftung der Mutter für Verbindlichkeiten ihrer Tochterunternehmen.
Eine Ausnahme bildet allein die Eingliederung, § 322 AktG. Eine allgemeine Durchgriffshaftung kennt das
deutsche Konzernrecht nicht. Das gilt selbst dann, wenn die von dem Mutterunternehmen ausgeübte Leitungs-
macht eine Intensität erreicht, dass das Tochterunternehmen wie eine unselbständige Betriebsabteilung der
Mutter geführt wird.

Anders als der BGH geht die europarechtliche Rechtsprechung grundsätzlich von der konzernweiten Zurech-
nung von Kartellverstößen und damit kartellrechtlicher Verantwortlichkeit aus. Eine Tochtergesellschaft bildet
mit ihrer Muttergesellschaft trotz unterschiedlicher Rechtspersönlichkeit eine wirtschaftliche Einheit, also ein
Unternehmen im Sinne des Art. 101 AEUV, wenn erstere auf Grund der Zugehörigkeit zu einer zentral geführ-
ten Unternehmensgruppe oder aufgrund von personellen Verflechtungen ihr eigenes Marktverhalten nicht mehr
autonom steuern kann. Die Muttergesellschaft übt so einen „bestimmenden Einfluss“ auf die Tochter aus. Geld-
bußen können dann nicht nur gegen die Gesellschaft, deren Mitarbeiter gehandelt hat, verhängt werden, son-
dern gesamtschuldnerisch auch gegen deren Konzernmuttergesellschaft, ohne dass deren persönliche Beteili-
gung an der Zuwiderhandlung nachgewiesen werden muss. Die Mutter ist dann für das Marktverhalten des
Unternehmens in seiner Gesamtheit verantwortlich und muss für etwaige Kartellvergehen gerade stehen (stän-
dige Rspr: EuGH, Rs. C-97/08 P (Akzo Nobel), EuZW 2009, 816, 821; BeckRS 2004, 73172 Rn 132 und 133
(ICI); BeckRS 2004, 73395 Rn 15 (Europemballage und Continental); Rs. C-286/98 P (Stora Kopparbergs
Bergslags), Slg. 2000, I-9925 Rn 26; BeckRS 2009, 71074 Rn 59 (Höchst); Rs. 107/82 (AEG), Slg. 1983, 3155
Rn. 49f.).

Durch die geforderte Regelung können Lücken im Gesetz, die zu einer Bußgeldumgehung aufgrund von Um-
strukturierungen in einem Konzern führen, verhindert werden. Durch diese Regelung kann auch die Konzern-
mutter, wenn sie zum Zeitpunkt der Begehung der Ordnungswidrigkeit ihrer Tochtergesellschaft einen bestim-
menden Einfluss auf sie ausgeübt hat, für diese Ordnungswidrigkeit zur Verantwortung gezogen und für dieses
Bußgeld (gesamtschuldnerisch) haftbar gemacht werden.

Die Einführung des europarechtlichen wirtschaftlichen Unternehmensbegriffs und der Konzernhaftung im
deutschen Kartellordnungswidrigkeitenrecht ist möglich und sachgerecht. Das kartellrechtliche Verständnis
des Unternehmens als wirtschaftlicher Einheit ist dem Konzernrecht keineswegs fremd, wie am Beispiel der
Konzernrechnungslegung zu sehen ist. Die deutsche Rechtsprechung hat zudem über die Rechtsfigur des qua-

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lifiziert faktischen Konzerns eine Zeit lang eine (mittelbare) Haftung der Muttergesellschaft für Verbindlich-
keiten der Tochter analog §§ 302, 303 AktG zu begründen versucht, wenn das Mutterunternehmen seine Toch-
ter mit einer hohen Intensität leitete.

Zu 4.

Nach § 130 OWiG ist die Verletzung von Aufsichtspflichten in Betrieben und Unternehmen bußgeldbewehrt,
wenn es in dem Betrieb oder Unternehmen zur Begehung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten gekom-
men ist, die durch eine ordnungsgemäße Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wären. Die
bußgeldbewehrten Zuwiderhandlungen müssen sich dabei auf Pflichten beziehen, die den Inhaber des Betriebs
oder Unternehmens treffen. Ein Verstoß gegen die Aufsichtspflicht ist eine betriebsbezogene Ordnungswidrig-
keit im Sinne von § 30 OWiG, das heißt, auch das Unternehmen haftet über diese Vorschrift für eine Verletzung
von Aufsichtspflichten.

Konzernobergesellschaften sind kartellrechtlich zur Aufsicht über die Konzernunternehmen verpflichtet. Die
geforderte Regelung muss § 130 OWiG bei der Verletzung konzernweiter Organisationspflichten auf die Mut-
tergesellschaft erstrecken. Die Verletzung konzernorganisationsrechtlicher Aufsichtspflichten stellt eine Ord-
nungswidrigkeit der Organmitglieder des Mutterunternehmens nach § 130 OWiG dar, die bei Kartellverstößen
durch das Tochterunternehmen wiederum nach § 30 OWiG zur Verhängung einer Geldbuße gegen die Mutter
führen kann. Die geforderte Bestimmung sollte dies für Fälle regeln, in denen die Muttergesellschaft Einwir-
kungsmöglichkeiten im Konzern hat bzw. eine einheitliche Leitung im Konzern ausgeübt wird bzw. die herr-
schende Gesellschaft eine Konzernaufsicht einführt.

Dies ist sachgerecht, da den Vorstand bzw. die Geschäftsführung der Obergesellschaft konzernweite Organi-
sations- und Kontrollpflichten treffen. Ähnliche Regelungen gibt es bereits in § 25a Abs. 3 KWG für die Ober-
gesellschaft eines Bankkonzerns, auch für Versicherungskonzerne existieren entsprechende Regelungen.
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