BT-Drucksache 18/1469

Umsetzung der EU-Rückführungsrichtlinie in Deutschland

Vom 19. Mai 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1469
18. Wahlperiode 19.05.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Omid
Nouripour, Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu,
Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Umsetzung der EU-Rückführungsrichtlinie in Deutschland

Am 28. März 2014 hat die Europäische Kommission an den Rat und das Euro-
päische Parlament eine Mitteilung zur Rückkehrpolitik der Europäischen Union
(EU) veröffentlicht (COM(2014) 199 final).
Die Europäische Kommission erwähnt in dieser Mitteilung, dass in den Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union noch zahlreiche offene Fragen zur Umset-
zung verschiedener Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie bestünden, ins-
besondere bei der EU-weiten Wirkung von Einreiseverboten, der Definition des
Begriffs „Fluchtgefahr“, den Kriterien für die Verlängerung der Frist zur freiwil-
ligen Ausreise, den bei Rückführungsmaßnahmen auf dem Luftweg einzuhal-
tenden Regeln, der Überwachung der zwangsweisen Rückkehr, den Kriterien für
die Inhaftnahme und den Haftbedingungen. 19 Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union seien im Begriff, diesbezüglich ihre Rechtsvorschriften zu ändern
oder hätten dies angekündigt.
Wie die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung erneut hervorhebt, hat der
Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Rechtssache Arslan (EuGH, C-534/11)
entschieden, dass die Haft nach Asylantragstellung nur aufrechterhalten werden
darf „wenn sich nach einer fallspezifischen Beurteilung sämtlicher relevanter
Umstände herausstellt, dass dieser Antrag einzig und allein zu dem Zweck
gestellt wurde, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder
zu gefährden, und es objektiv erforderlich ist, die Haftmaßnahme aufrecht-
zuerhalten, um zu verhindern, dass sich der Betreffende endgültig seiner Rück-
führung entzieht“ (Rn. 63).
Es bedarf daher einer unverzüglichen Entscheidung aufgrund nationaler Rechts-
vorschriften, die Inhaftnahme im Einklang mit dem EU-Asylrecht fortzuführen
(S. 17, Ende des 1. Absatzes).
Alternativen zur Abschiebungshaft könnten den Betroffenen in vielen Fällen die
Beeinträchtigungen ersparen, die mit der Inhaftierung unweigerlich verbunden
sind. Nach einer Studie des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Deutschland aus dem
Jahr 2010 (JRS „Quälendes Warten – Wie Abschiebehaft Menschen krank
macht“) gehören dazu etwa Beeinträchtigungen der physischen und psychischen
Integrität sowie der Eindruck, stigmatisiert und kriminalisiert zu werden. Zudem
würden angesichts der immensen Kosten der Abschiebungshaft auch die staat-
lichen Kassen entlastet. In der Bundesrepublik Deutschland werden aber noch
nicht einmal die von der Europäischen Kommission in ihrer Mitteilung aufge-
führten Alternativen angewandt.

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Nach Artikel 16 Absatz 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates sind in Haft genommene Drittstaatsangehörige grund-
sätzlich getrennt von gewöhnlichen Gefangenen unterzubringen. Mindestens die
Hälfte der Bundesländer vollzieht Abschiebungshaft allerdings weiterhin in ge-
wöhnlichen Gefängnissen, ohne das in der Richtlinie vorgesehene Trennungsge-
bot zwischen Strafgefangenen und Abschiebehäftlingen konsequent einzuhal-
ten. Und dies, obwohl etwa in den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Berlin,
Brandenburg, Bayern und Schleswig-Holstein spezielle Abschiebungshaftein-
richtungen existieren.
Die Europäische Kommission erwähnt an verschiedenen Stellen in ihrem
Bericht die Bedeutung von nationalen Stellen zur Überwachung zwangsweiser
Rückführungen.
Die nachfolgenden Fragen beziehen sich auf das EU-Dokument (COM(2014)
199 final) vom 28. März 2014.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Gehört die Bundesrepublik Deutschland zu den 19 Staaten, gegen die wegen

eines Punktes oder mehrerer Punkte ein Pilotverfahren eingeleitet wurde?
2. Wenn die vorige Frage zu bejahen ist, welche Rechtsvorschriften zu welchen

in der Vorbemerkung der Fragesteller erwähnten oder weiteren Themen be-
absichtigt die Bundesregierung wie anzupassen?

3. Hält die Bundesregierung den Haftgrund des § 62 Absatz 3 Satz 1 Nummer 5
des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) für hinreichend bestimmt vor dem
Hintergrund der Anforderungen der Rückführungsrichtlinie, die – jedenfalls
nach dem Verständnis der Europäische Kommission – „objektive Kriterien“
für die Bewertung verlangt, ob Gründe für die Annahme bestehen, dass ein
irregulärer Migrant sich durch Flucht der Abschiebung entziehen wird (wenn
ja, bitte begründen)?
Wenn nein, welche objektiven Kriterien beabsichtigt die Bundesregierung
dann ins Gesetz aufzunehmen?

4. Hält die Bundesregierung § 62 Absatz 3 Satz 1 Nummer 5 AufenthG für
hinreichend bestimmt im Lichte dessen, dass die neue Dublin-III-Verordnung
– die ihre nationale Umsetzung insoweit offenkundig ebenfalls in § 62
Absatz 3 AufenthG finden soll – in Artikel 28 Absatz 2 in Verbindung mit
Artikel 2 Buchstabe n ebenfalls objektiv gesetzlich festgelegte Kriterien
fordert, aus denen sich die Annahme einer Fluchtgefahr begründen lässt
(wenn ja, bitte begründen)?
Wenn nein, welche objektiven Kriterien beabsichtigt die Bundesregierung
dann ins Gesetz aufzunehmen?

5. Welche Rechtsvorschriften zur Einrichtung eines Systems zur Überwachung
der zwangsweisen Rückführung hat die Bundesrepublik Deutschland bereits
verabschiedet, und an welchen Rechtsvorschriften arbeitet sie (vgl. die Auf-
zählung auf S. 15, 5. Spiegelstrich)?

6. Sind die in den Fragen 3 bis 5 angesprochenen Punkte Gegenstand von Pilot-
verfahren, die gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet wurden?
Wenn ja, welche Stellungnahmen welchen Inhalts hat die Bundesregierung
bislang in diesen Verfahren abgegeben?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/1469
7. Hält die Bundesregierung § 14 Absatz 3 des Asylverfahrensgesetzes
(AsylVfG), der bei Asylantragstellung die Fortdauer der Abschiebungshaft
kraft Gesetzes für die Dauer von bis zu vier Wochen und im Dublin-Verfah-
ren auch darüber hinaus anordnet, mit dem Recht der Europäischen Union
für vereinbar?
a) Wenn ja, inwiefern wird nach Ansicht der Bundesregierung sicher-

gestellt, dass die Abschiebungshaft nach Stellung eines Asylantrags ent-
sprechend der Anforderungen des Europäischen Gerichtshofes nur „nach
einer fallspezifischen Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände“
(EuGH, C-534/11, Rn. 63) aufrechterhalten wird?

b) Wenn nein, wie und in welchem Zeitrahmen plant die Bundesregierung
§ 14 Absatz 3 AsylVfG an das Recht der Europäischen Union anzupas-
sen?

8. Ist der in der Frage 7 angesprochene Sachverhalt Gegenstand eines Pilot-
verfahrens, das gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet wurde?
Wenn ja, welche Stellungnahmen welchen Inhalts hat die Bundesregierung
bislang in diesem Verfahren abgegeben?

9. Plant die Bundesregierung mildere Mittel zur Verhängung von Abschie-
bungshaft, insbesondere Kautionen, gesetzlich zuzulassen?

10. Hält die Bundesregierung die elektronische Aufenthaltsüberwachung für
ein milderes Mittel im Vergleich zum Freiheitsentzug?
Wenn ja, welche rechtlichen und tatsächlichen Schritte plant sie diesbezüg-
lich, und in welchem zeitlichen Rahmen?

11. Welche weiteren Alternativen zur Abschiebungshaft erwägt die Bundes-
regierung, auch vor dem Hintergrund entsprechender Studien etwa des
UNHCR (Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte),
der International Detention Coalition und des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes
Deutschland?

12. Welche qualitativen und quantitativen Informationen hat die Bundesregie-
rung der Europäischen Kommission als Grundlage für die Einschätzung
übermittelt, dass Deutschland zu den Staaten gehöre, in denen sich in Bezug
auf die Verwendung von Haftalternativen die größten Änderungen aufgrund
der Anwendung der Richtlinie ergeben haben (Tabelle 7, S. 24)?

13. Inwiefern hält es die Bundesregierung für angemessen, dass die Abschie-
bungshaft in Deutschland bislang bis zu einer Höchstdauer von 18 Monaten
verhängt werden kann, wenn die durchschnittliche Dauer der Abschie-
bungshaft in Deutschland nach Angaben in der Mitteilung der Europäischen
Kommission (S. 20) lediglich 42 Tage beträgt?
a) Erwägt die Bundesregierung, die Höchstdauer der Abschiebungshaft

abzusenken?
Wenn ja, auf welche Dauer?

b) Wenn nein, welche praktische Notwendigkeit ergibt sich für eine gesetz-
liche Hafthöchstdauer, die auch nach der Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur
Abschiebungshaft in Deutschland (Bundestagsdrucksache 17/10596)
praktisch nicht mehr ausgenutzt wird?

Drucksache 18/1469 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
14. Gehört die Bundesrepublik Deutschland zu den Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union, gegen die von der Europäischen Kommission in diesem
Punkt Pilotverfahren eingeleitet wurden?
Wenn ja, welche Stellungnahmen welchen Inhalts hat die Bundesregierung
diesbezüglich bereits abgegeben?

15. Wie rechtfertigt es die Bundesregierung, dass der Wortlaut von § 62a
Absatz 1 Satz 2 AufenthG insoweit vom Wortlaut des Artikels 16 Absatz 1
Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG abweicht, als darin die Prüfung des
Nichtvorhandenseins von speziellen Hafteinrichtungen von der Mitglied-
staatsebene der Europäischen Union auf die Bundesebene verlagert wird,
vor dem Hintergrund, dass
a) ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische

Union (EUV) festgeschriebenen Achtung der Europäischen Union vor
den grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen der
Mitgliedstaaten in Artikel 4 Absatz 3 EUV geregelt ist, dass die Mit-
gliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, um ihre Verpflich-
tungen zu erfüllen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der
Organe der Europäischen Union ergeben,

b) in der mündlichen Verhandlung der in der Mitteilung der Europäischen
Kommission aufgeführten Vorabentscheidungsverfahren vor dem Euro-
päischen Gerichtshof am 8. April 2014 sowohl die Anwälte der Be-
troffenen als auch die Richter der Großen Kammer wiederholt darauf
hingewiesen haben, dass in der Praxis in deutschen Justizvollzugsanstal-
ten weder die von Artikel 16 Absatz 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG
explizit geforderte vollständige Trennung von Strafgefangenen durch-
gehalten wird, noch die von der Richtlinie geforderten deutlich gelocker-
ten Vollzugsbedingungen eingeräumt werden können (etwa das Tragen
von Zivilkleidung, der Besitz privater Mobiltelefone und weitreichende
Aufschluss- und Besuchszeiten)?

16. Beabsichtigt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund die Vorschrift
des § 62a Absatz 1 Satz 2 AufenthG zu ändern?
Wenn ja, wie?

17. Gehört die Bundesrepublik Deutschland nach Kenntnis der Bundesregie-
rung zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in denen nach Auffas-
sung der Europäischen Kommission nationalen, internationalen und regie-
rungsunabhängigen Organisationen der uneingeschränkte Zugang zu Haft-
einrichtungen nicht hinreichend gewährt wird?
Wenn ja, welche konkreten Schritte wird die Bundesregierung unternehmen,
um einen hinreichenden Zugang zu gewährleisten?

18. Wie erklärt die Bundesregierung, dass sie weder eine eigene nationale Stelle
zur Beobachtung von Abschiebungen geschaffen hat, noch die existierenden
Beobachtungsstellen als solche offiziell der Europäischen Kommission be-
nannt hat?

19. Ist zu dieser Thematik seitens der Europäischen Kommission ein EU-Pilot-
verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet worden?
Wenn ja, welche Stellungnahmen welchen Inhalts hat die Bundesregierung
in diesem Verfahren abgegeben?

20. Welche Vertreter welcher Institutionen oder Organisationen waren an
FRONTEX-Sammelabschiebungen (FRONTEX = Europäische Agentur für
die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten
der Europäischen Union) beteiligt und sind anlässlich welcher Rückfüh-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/1469
rungsaktionen gemäß Artikel 8 Absatz 6 der Richtlinie 2008/115/EG tätig
geworden?

21. Beteiligt sich die Bundesrepublik Deutschland an dem von der Europä-
ischen Kommission benannten ICMPD-Projekt (ICMPD = International
Centre for Migration Policy Development), das „objektive, transparente
Kriterien und gemeinsame Regeln für die Überwachung“ entwickeln soll
(s. S. 7, vorletzter Absatz)?

22. Welche Kriterien und Regeln für die Überwachung von Rückführungen hält
die Bundesregierung für sinnvoll, und aufgrund welcher Erwägungen?

23. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass sie aufgrund der Existenz
kirchlicher Beobachtungsprojekte (Abschiebemonitoring an den Flughäfen
Frankfurt/Main, Hamburg, Düsseldorf und Berlin-Schönefeld) ihrer Pflicht
zur Umsetzung von Artikel 8 Absatz 6 der Richtlinie 2008/115/EG, wonach
sie ein wirksames System zur Überwachung von Abschiebungen schaffen
muss, nachgekommen ist?
Wenn ja, auf welche Weise trägt sie dann dafür Sorge, dass die Sicht der
kirchlichen Träger angemessen in diesem Beratungsprozess berücksichtigt
wird?
Wenn nein, wie, und in welchem Zeitrahmen beabsichtigt sie, dann ihrer
Pflicht zur Umsetzung von Artikel 8 Absatz 6 der Richtlinie 2008/115/EG
nachzukommen?

Berlin, den 19. Mai 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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