BT-Drucksache 18/12834

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 18/11277, 18/12785 - Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens

Vom 21. Juni 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/12834

18. Wahlperiode 21.06.2017

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Dr. Konstantin von Notz, Luise
Amtsberg, Volker Beck (Köln), Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar,
Irene Mihalic, Özcan Mutlu und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung

– Drucksachen 18/11277, 18/12785 –

Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren

Ausgestaltung des Strafverfahrens

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Strafprozessordnung (StPO) ist reformbedürftig. Die Verteidigung der Rechtsord-
nung durch eine funktionsfähige Strafrechtspflege verlangt in allen Stadien des Straf-
verfahrens – auch und gerade mit Blick auf die hohe Arbeitsbelastung der Justiz und
vielfach lange Dauer der Verfahren – eine Modernisierung, allerdings unter strikter
Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten der Verfahrensbeteiligten wie al-
ler Bürgerinnen und Bürger. Nur auf dieser Grundlage sind Effektivität und Pra-
xistauglichkeit und eine Anpassung an technische Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts
Maßstäbe der Reform. Das Strafverfahrensrecht wirkt als Seismograph der Staatsver-
fassung. Spätere Generationen müssen die Frage bejahen können, ob wir bei dem
Kampf gegen Verbrechen die Freiheit erhalten und gestärkt haben, für die dieser
Kampf geführt wird.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

ihren Gesetzentwurf auf Drucksache 18/11277 zurückzuziehen und unter Beachtung
nachstehender Maßgaben in verfassungskonformer Form neu einzubringen:

1. Der Einsatz von Überwachungsprogrammen („Staatstrojanern“) durch die Straf-
verfolgungsbehörden in Form einer Online-Durchsuchung, bei der u. a. Mikro-
fon- und Fotofunktionen aktiviert, die Tastaturbedienung mitgelesen und alle Da-
tenspeicher von Rechnern und mobilelektronischen Geräten ausgelesen werden
können, führt zu nahezu vollständigem Wissen über die Zielperson, geht weit

Drucksache 18/12834 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

über die deshalb als Vergleichsmaßstab untaugliche akustische Wohnraumüber-
wachung hinaus und bedeutet eine völlig neue Tiefe des Grundrechtseingriffs.
Eine dafür vorgesehene Rechtsgrundlage müsste den Vorgaben des Bundesver-
fassungsgerichts entsprechen und, wenn überhaupt, dann auf schwerste Straftaten
begrenzt bleiben.

a) Der Einsatz von Überwachungsprogrammen in Form einer Quellen-Tele-
kommunikationsüberwachung muss sich entsprechend der Vorgabe des
Bundesverfassungsgerichts auf die Überwachung der laufenden Kommuni-
kation beschränken, anderenfalls handelt es sich um eine verfassungswid-
rige Online-Durchsuchung.

b) Der Einsatz von Überwachungsprogrammen muss sich sicher befristen las-
sen, sie müssen nachweisbar wieder abgeschaltet bzw. entfernt werden kön-
nen.

c) Die rechtlichen und technischen Anforderungen an Überwachungspro-
gramme und eine obligatorische und unabhängige Überprüfung der Einhal-
tung dieser Anforderungen müssen für alle Einsatzversionen gewährleistet
sein.

d) Die Ausnutzung von bisher unbekannten Sicherheitslücken eines informati-
onstechnischen Systems zum Einsatz von Überwachungsprogrammen muss
zum Schutz der Cybersicherheit verboten werden.

e) Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung muss gewährleistet
sein.

f) Der Schutz von Berufsgeheimnisträgern (wie z. B. Rechtsanwälten, Ärzten,
Journalisten) und ihren Berufshelfern einschließlich externer Dienstleister
muss gewährleistet sein.

2. Der ausnahmsweise Einsatz von Vertrauensleuten im Ermittlungsverfahren und
die Bedingungen dafür müssen mindestens wie bei verdeckten Ermittlern verge-
setzlicht werden. Tatprovokation ist zu verbieten.

3. Der Gang der Hauptverhandlung, Zeugen und Beschuldigtenvernehmungen, auch
im vorbereitenden Verfahren, muss entsprechend modernen technischen Mög-
lichkeiten mindestens als Audio-Wortprotokoll generell dokumentiert werden
und den Verfahrensbeteiligten zugänglich sein. Nur bei minderschweren Tatvor-
würfen kann davon abgesehen werden. Die Verwendung ist auf Zwecke der Straf-
verfolgung zu beschränken.

4. Die Regelung zur Vernehmung durch die Polizei ist dahingehend zu konkretisie-
ren, dass die Erscheinens- und Aussagepflicht von Zeugen bei der Polizei sich auf
einen auf den Einzelfall bezogenen Vernehmungsauftrag der Staatsanwaltschaft
beziehen (und damit nicht der Regelfall gemeint ist), sowie zu ergänzen, dass der
Zeuge mit der Ladung darüber zu belehren ist, dass er sich bei seiner Vernehmung
eines anwaltlichen Beistands bedienen und er beantragen kann, ihm einen solchen
beizuordnen, wenn Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass er seine Be-
fugnisse bei der Vernehmung nicht selbst wahrnehmen kann.

5. In der Regelung zur Beschuldigtenvernehmung ist zu verankern, dass dem Ver-
teidiger die Anwesenheit auch bei der polizeilichen Vernehmung zu gestatten und
er – soweit bekannt – von dem Termin vorab zu unterrichten ist.

6. Es ist zu verankern, dass der Verteidiger auf Antrag generell (und nicht nur in
Umfangsverfahren) die Gelegenheit erhält, vor der Vernehmung des Angeklagten
für diesen eine Erklärung abzugeben („opening statement“).

7. Dem Beschuldigten ist grundsätzlich das Recht einzuräumen, vor der Auswahl
eines Sachverständigen durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft gehört zu
werden, um so seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gerecht zu werden.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/12834

8. Anbahnungsgespräche zwischen inhaftierten Beschuldigten und Verteidigern
müssen unüberwacht geführt werden können.

9. Bei der Beistandsbestellung eines Rechtsbeistandes bei Nebenklage ist zu veran-
kern, dass bei Verfahren großen Umfangs mit zahlreichen Nebenklageberechtig-
ten (Opfer, Verletzte, Geschädigte) ausnahmsweise Nebenklagegruppen gebildet
werden können, denen ein Gruppenbeistand beigeordnet wird.

10. Die in diesem Gesetz enthaltenen Änderungen des Strafgesetzbuches und des Ju-
gendgerichtsgesetzes zur Ausweitung der Nebenstrafe Fahrverbot über Verkehrs-
delikte hinaus auf alle Straftaten ist kriminalpolitisch verfehlt und führt zu ver-
fassungsrechtlich bedenklichen Ungleichbehandlungen je nach Wohnsitz, Ver-
kehrsanbindung, wirtschaftlichen und beruflichen Verhältnissen sowie Führer-
scheinbesitz.

Berlin, den 20. Juni 2017

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung

Bereits im Jahr 2014 hatte der Bundesjustizminister eine Kommission zur effektiveren und praxistauglicheren
Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens eingesetzt mit vielen
Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis. Im Oktober 2015 hat die Kommission einen 200-seitigen Bericht vor-
gelegt – mit den zugehörigen Gutachten fast 1000 Seiten – mit eingehend begründeten Empfehlungen unter an-
derem zu Zeugenpflichten im Ermittlungsverfahren, zum Einsatz sogenannter Trojaner und Verbot von Lockspit-
zeln sowie zur audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung. Der erst mit Datum vom 22. Februar 2017
beim Bundestag eingebrachte vorliegende Gesetzentwurf lässt einen Großteil dieser Empfehlungen außer Acht
und beschränkt sich überwiegend darauf, in der Praxis bereits gängige Verfahrensweisen zu normieren. Die im
Hinblick auf das „IT-Grundrecht“ auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer
Systeme besonders komplexen und verfassungsrechtlich kritischen Bestimmungen zur Online-Telekommunika-
tionsüberwachung (TKÜ) und zur Online-Durchsuchung sind erst per Änderungsantrag (Formulierungshilfe der
Bundesregierung) vom 15. Mai 2017 in die Ausschussberatungen eingebracht worden. Eine Auswertung der dazu
durchgeführten durchaus kritischen Anhörung von Sachverständigen findet sich in dem abschließenden Ände-
rungsantrag der Koalitionsfraktionen nicht – sondern lediglich ergänzende Ausführungen zur Ausdehnung der
Nebenstrafe Fahrverbot. Diese Vorgehensweise gewährleistete keine zureichende Beratung. Deshalb ist dieser
Gesetzentwurf insgesamt zurückzuziehen. Gerade bei der Online-TKÜ und der Online-Durchsuchung besteht
auch keinerlei Zeitdruck.

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