BT-Drucksache 18/11722

Solidarische und gerechte Finanzierung von Gesundheit und Pflege

Vom 28. März 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/11722
18. Wahlperiode 28.03.2017
Antrag
der Abgeordneten Harald Weinberg, Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann
(Zwickau), Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij, Katja
Kipping, Jutta Krellmann, Thomas Lutze, Thomas Nord, Richard Pitterle,
Michael Schlecht, Dr. Petra Sitte, Azize Tank, Dr. Axel Troost, Kathrin
Vogler, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Solidarische und gerechte Finanzierung von Gesundheit und Pflege

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die meisten Menschen in Deutschland werden von einer Solidarischen Gesundheits-
und einer Solidarischen Pflegeversicherung profitieren. Alle in Deutschland lebenden
Menschen erhalten alle notwendigen gesundheitlichen und pflegerischen Leistungen
in einer Qualität, die dem aktuellen Stand der Medizin entspricht und alle zahlen Bei-
träge nach ihrem tatsächlichen Einkommen. Wer viel Einkommen hat, zahlt viel, wer
wenig hat, zahlt wenig und wer kein Einkommen hat, zahlt nichts. Nach einer aktuellen
Studie (Prof. Dr. Heinz Rothgang, Dominik Domhoff M.A., Beitragssatzauswirkungen
durch Einführung einer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der gesetzlichen
Krankenversicherung, Studie im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE., März
2017) kann damit der Beitragssatz in der Krankenversicherung um etwa 3,8 Prozent-
punkte auf unter 12 Prozent gesenkt werden, bei gleichzeitiger Abschaffung des Zu-
satzbeitrags. Für gesetzlich versicherte Erwerbstätige mit einem Bruttoeinkommen un-
ter 6.250 Euro wird dies eine Entlastung bedeuten.
Gleichzeitig ergeben sich Spielräume, um die Versorgung zu verbessern und Beschäf-
tigte im Gesundheitsbereich besser zu bezahlen. Versorgungslücken können durch
eine stabile und gerechte Finanzierung geschlossen werden. Das gilt für die Zuzahlun-
gen und für die Übernahme von Kosten, die daneben für die Versicherten entstehen,
z. B. für qualitativ hochwertige Inkontinenzhilfen. Zum anderen können derzeit nicht
oder nicht vollständig übernommene Leistungen wie Brillen oder Zahnersatz oder eine
bessere medizinische und pflegerische Versorgung auf dem Land und in sozial benach-
teiligten Gebieten finanziert werden.
In der Pflegeversicherung werden bei gleichbleibendem Beitragssatz rund 12 Mrd.
Euro pro Jahr mehr eingenommen. Diese Mittel können für sofortige und deutliche
Leistungsverbesserungen für die Menschen mit Pflegebedarf, zur besseren Bezahlung
der Beschäftigten und zur Aufwertung der Pflegeberufe verwendet werden (vgl. Bun-
destagsdrucksachen 18/5110 und 18/4099).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, Gesetzentwürfe vor-
zulegen, die die folgenden Maßgaben umsetzen:

1. Private Krankenvollversicherung abschaffen – Zwei-Klassen-Medizin beenden

Drucksache 18/11722 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Die private Krankenvollversicherung wird zu einem Stichtag geordnet abge-
schafft. Alle in Deutschland lebenden Menschen, auch die privat Krankenversi-
cherten, werden in die Solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung einbe-
zogen. Die PKV wird auf Zusatzversicherungen für medizinisch nicht notwen-
dige Leistungen beschränkt. Den Beschäftigten der PKV ist ein Übergang in neue
notwendig werdende Stellen in der GKV oder in andere Stellen des übrigen Ar-
beitsmarktes zu gewährleisten. Qualifizierungsmaßnahmen sind sicherzustellen.

2. Beitragsbemessungsgrenze abschaffen – hohe Einkommen gerecht einbeziehen
Die Beitragsbemessungsgrenze wird abgeschafft.

3. Alle Einkommensarten gleich behandeln – Erwerbseinkommen entlasten
Alle Einkommen aus abhängiger und selbstständiger Arbeit sowie aus allen an-
deren Einkommensarten (z. B. Einkommen aus Kapitalvermögen oder aus Ver-
mietung und Verpachtung) werden zur Finanzierung herangezogen. Dabei blei-
ben Kapitalerträge bis zur Höhe des Sparerpauschbetrags beitragsfrei.

4. Paritätische Finanzierung – Beschäftigte sowie Rentnerinnen und Rentner entlas-
ten
Arbeitgeber und Rentenversicherungsträger zahlen in der Krankenversicherung
wieder den halben Beitragssatz. Der Zusatzbeitrag wird abgeschafft. Für Beam-
tinnen und Beamte wird die Beihilfe durch eine paritätische Beteiligung des
Dienstherrn ersetzt. In der Pflegeversicherung werden Maßnahmen ergriffen,
welche den Wegfall des Buß- und Bettags ausgleichen. Für Sachsen ist aufgrund
der dortigen Beibehaltung dieses Feiertages eine Sonderregelung vorzusehen.

5. Alles medizinisch Notwendige zuzahlungsfrei leisten – kranke Menschen entlas-
ten
Alle medizinisch notwendigen Leistungen – dazu gehören u. a. auch Sehhilfen,
Zahnersatz, rezeptfreie Medikamente – werden ohne Zu- und Aufzahlungen in
einer Qualität geleistet, die dem aktuellen Stand der Medizin entspricht. In der
Pflege/Assistenz gewährleistet die Solidarische Pflegeversicherung eine qualita-
tiv hochwertige individuelle Versorgung, die bestmögliche Teilhabe und Selbst-
bestimmung sichert.

6. Eigenständiger Versicherungsanspruch – bezahlbare Beiträge für alle
Alle in Deutschland lebenden Menschen erhalten ab Geburt einen eigenständigen
Kranken- und Pflegeversicherungsanspruch, so dass niemand mehr bei der Kran-
ken- und Pflegeversicherung von anderen abhängig ist. Mindestbeiträge entfal-
len, die Berechnung des Beitrags erfolgt proportional zum Einkommen. Wer kein
Einkommen hat, erhält einen beitragsfreien eigenständigen Versicherungsschutz.
Das gilt auch für die bisher beitragsfrei Mitversicherten. Versicherungsschutz er-
halten auch alle Personen, die Sozialhilfe beziehen, sowie nach Deutschland Ge-
flüchtete ohne Einkommen, die bislang in den ersten 15 Monaten Leistungen der
Sozialämter bekommen. Der Bund trägt wie bei ALG-II-Beziehenden die Kosten.
Diese Beiträge sind kostendeckend zu gestalten.

7. Leistungen in der Pflege verbessern – pflegebedürftige Menschen entlasten
Im Unterschied zur Krankenversicherung, in der ein Großteil der durch die Er-
weiterung der Beitragsbemessung verfügbaren finanziellen Mittel zur Absenkung
des Beitragssatzes genutzt wird, werden in der Pflegeversicherung diese Mittel
vorrangig zur Verbesserung der Leistungen verwendet.

Berlin, den 21. März 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/11722
Begründung

In seinen Grundsätzen ist das Gesundheitssystem in Deutschland solidarisch und gerecht organisiert. In der ge-
setzlichen Krankenversicherung (GKV) zahlen die Versicherten Beiträge, die sich nach ihrem Einkommen be-
messen, und erhalten die Leistungen, die sie benötigen. Diese Grundsätze genießen hohes Ansehen in allen Be-
völkerungsgruppen.
Doch in der Realität wurden und werden diese Grundsätze in vielen Fällen verletzt. Kranke Menschen erhalten
notwendige Gesundheitsleistungen oft nur mit Zuzahlungen, zum Beispiel für Arzneimittel, Krankenhausaufent-
halte, Hilfsmittel oder Physiotherapie. Einige medizinisch notwendige Leistungen, wie Zahnersatz, zahlen Ver-
sicherte zum Teil und immer öfter aus eigener Tasche. Andere Leistungen, wie Brillen oder rezeptfreie Medika-
mente, zahlen Krankenkassen gar nicht mehr oder nur teilweise. Besonders benachteiligt sind chronisch kranke,
ältere und pflegebedürftige Patientinnen und Patienten.
Die Pflegeversicherung trägt aufgrund der Teilkostendeckung weniger als die Hälfte der anfallenden Pflegekos-
ten. Versicherte mit geringem Einkommen und sogar Durchschnittsverdienende können oft ihre Eigenanteile
nicht zahlen und sind immer häufiger auf Sozialhilfe (Hilfe zur Pflege) und häusliche Pflege durch ihre Angehö-
rigen angewiesen. Wird Pflege nötig, ist das für die Betroffenen oft ein Ticket in die Altersarmut. Der private,
gewinnorientierte Pflegemarkt führt zu einem Kostenwettbewerb zulasten der Menschen mit Pflegebedarf, ihrer
Familien und der Pflegekräfte. Nötig sind deutliche Leistungsausweitungen bis hin zur Pflegevollversicherung
und mehr Pflegequalität durch mehr Pflegefachkräfte. Der Wertverlust der Pflegeleistungen durch fehlende Dy-
namisierung führt zu immer weiter steigenden Eigenanteilen. Angehörige brauchen Entlastung, um weiterhin
berufstätig und gesund bleiben zu können sowie vor Altersarmut geschützt zu sein. Das alles erfordert mehr
Pflegekräfte, gute Entlohnung und attraktive Arbeitsbedingungen. Pflege muss endlich als Menschenrecht ver-
standen, öffentlich organisiert und solidarisch finanziert werden.
Die Beitragsbemessungsgrenze sorgt derzeit dafür, dass Menschen mit hohem Einkommen einen geringeren Bei-
tragssatz zahlen als Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen. Das ist das Gegenteil von Solidarität.
Pflichtversicherte zahlen momentan Beiträge nur auf Erwerbseinkommen. Das führt dazu, dass Beschäftigte mit
4.000 Euro Lohn einen viermal so hohen Beitrag zahlen müssen wie Beschäftigte mit 1.000 Euro Lohn und 3.000
Euro Zinsen oder Dividenden aus Kapitalanlagen. Einkommen aus Erwerbsarbeit darf nicht schlechter gestellt
werden als Vermögenseinkommen.
Selbstständige und andere freiwillig Versicherte müssen derzeit in der gesetzlichen Krankenversicherung Min-
destbeiträge zahlen, auch wenn sie nur ein geringes Einkommen haben. So kommen Beitragssätze von teils über
30 Prozent des Einkommens zustande. Gerade in diesen Gruppen gibt es viele Versicherte, die ihre Beiträge nicht
zahlen können und so Schulden bei der Krankenkasse anhäufen – oft ohne Perspektive, diese jemals begleichen
zu können. Bis die Schulden getilgt sind, erhalten diese Versicherten nur Minimalleistungen bei akuten Krank-
heiten, Schmerzen und Schwangerschaft. Viele meiden aus Angst vor überfordernden Beiträgen und Schulden
den Abschluss einer Krankenversicherung und bleiben ohne Schutz. Ohne die private Krankenversicherung
(PKV) gäbe es diese Probleme nicht.
Alle Regierungsparteien seit der Einführung des Sonderbeitrags im Jahr 2005 (CDU, CSU, SPD, BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN und FDP) sind verantwortlich dafür, dass Versicherte in der GKV heute höhere Beiträge
zahlen müssen als ihre Arbeitgeber. Durch die Einführung des Sonderbeitrags und die spätere Umwandlung in
kassenindividuelle Zusatzbeiträge durch die Große Koalition zahlen die Beschäftigten heute je nach Kranken-
kasse bis zu 9,0 Prozent Beitragssatz, die Arbeitgeber aber nur 7,3 Prozent. Die Große Koalition hat bekräftigt,
dass die Versicherten alle künftigen Beitragssteigerungen allein tragen müssen. Arbeitgeber zahlen immer gerin-
gere, Versicherte immer höhere Anteile des Beitrags. So darf es nicht weitergehen. In der Pflegeversicherung
besteht von Beginn an keine Parität zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil. Denn 1995 wurde außer in
Sachsen der Buß- und Bettag als bundesweiter gesetzlicher Feiertag gestrichen, um die Lasten durch die Pflege-
versicherung einseitig auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verteilen.
Schließlich ist ein Teil der Bevölkerung überhaupt nicht in die Solidarität der gesetzlichen Krankenversicherung
eingebunden. Gut verdienende Angestellte, Beamtinnen und Beamte, Abgeordnete sowie Selbstständige können
ihr Krankheitsrisiko in der privaten Krankenversicherung absichern. Tendenziell versichern sich insbesondere
junge und gesunde Menschen mit hohem Einkommen und ohne Kinder privat, die anderen gesetzlich. Beamtin-
nen, Beamte und andere Beihilfeberechtigte versichern sich deshalb zum überwiegenden Teil in der privaten

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Krankenversicherung, weil das Sondersystem der Beihilfe keinen Arbeitgeberanteil in der gesetzlichen Kranken-
versicherung übernimmt.
Gleichzeitig ist die Existenz der privaten Krankenversicherung die Hauptursache für die Zwei-Klassen-Medizin.
Je nach Versicherungsstatus vergeben Arztpraxen Termine und steuern Wartezeiten, kümmert sich ein Chefarzt
oder eine Chefärztin im Krankenhaus um die Patientinnen und Patienten. Hierbei geht es nicht um medizinische
Gründe, sondern um wirtschaftliche. Auch bei Verordnungen von Medikamenten oder Heilmitteln wie Physio-
therapie werden Privatversicherte großzügiger behandelt. Eine Privatversicherung hat aber nicht nur Vorteile,
denn neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden werden hier zuerst ausprobiert, eine Qualitätssicherung
findet kaum statt. Außerdem sind in vielen Verträgen wichtige Leistungen ausgeschlossen, wie etwa Psychothe-
rapie. Und schließlich siedeln sich Arztpraxen bevorzugt dort an, wo viele Privatversicherte leben, nicht dort, wo
sie gebraucht werden. Die daraus entstehende Über-, Unter- und Fehlversorgung kann den Gesundheitszustand
negativ beeinflussen.
Im Alter haben Privatversicherte oft Nachteile. Denn während bei gesetzlich Versicherten die Beiträge mit dem
häufig eintretenden Einkommensverlust zu Rentenbeginn gleichfalls sinken, kennen die Beiträge in der privaten
Krankenversicherung mit zunehmendem Alter nur eine Richtung: nach oben. Auch Alterungsrückstellungen kön-
nen das nicht auffangen.
Die Existenz der privaten Pflegeversicherung gefährdet langfristig die Finanzierbarkeit der sozialen Pflegeversi-
cherung, denn dem Solidarsystem werden Beiträge Gutverdienender mit niedrigem Kostenrisiko entzogen. Die
private Pflegeversicherung konnte so in gut 20 Jahren Rückstellungen von über 33 Mrd. Euro (2016) bilden, die
ihre derzeitigen Ausgaben über 30 Jahre lang decken könnten.
Viele dieser Fehlentwicklungen und Ungerechtigkeiten sind nicht sachlich oder logisch zu erklären, sondern sind
lediglich in den historisch gewachsenen Strukturen des Gesundheitssystems begründet. Es ist daher Aufgabe des
Gesetzgebers, diese gewachsenen und oft starren Strukturen aufzubrechen und im Sinne von mehr Solidarität
und Gerechtigkeit weiterzuentwickeln.
Die beabsichtigte Einbeziehung von hohen Einkommen, Einkommen der Privatversicherten und anderen Ein-
kommensarten wird die Beitragssätze senken und gleichzeitig notwendige Leistungsausweitungen ermöglichen.
Die absehbar steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung werden solide und zukunftsfest finanziert. Denn das
gesamte Volkseinkommen wird in die Beitragsbemessung einbezogen und nicht nur der langsamer wachsende
Anteil der Erwerbseinkommen.
Die Solidarische Gesundheitsversicherung wird zu deutlich geringeren Beitragszahlungen für Versicherte mit
geringen und mittleren Einkommen führen. Ein hoher Anteil der Einsparungen dieser Haushalte wird in den
privaten Konsum fließen, was dauerhaft über eine halbe Million Arbeitsplätze schaffen würde. Diese positiven
Effekte auf den Arbeitsmarkt übersteigen die negativen Effekte, die aus dem Wegfall von einigen zehntausend
Arbeitsplätzen im Umfeld der privaten Krankenversicherung resultieren, bei Weitem.

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