BT-Drucksache 18/10857

Bleiberecht für Betroffene rechter Gewalt

Vom 13. Januar 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10857
18. Wahlperiode 13.01.2017

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Luise Amtsberg, Katja Keul,
Renate Künast, Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz,
Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bleiberecht für Betroffene rechter Gewalt

Der Landtag Brandenburg hat im April 2016 beschlossen, Betroffenen rechter
Straftaten ein vorübergehendes Bleiberecht einräumen zu wollen (Landtags-
drucksache 6/4027-B). Am 21. Dezember 2016 hat die Landesregierung einen er-
messenslenkenden Erlass herausgegeben, mit dem der Beschluss des Landtags
umgesetzt werden soll (www.bravors.brandenburg.de/verwaltungsvorschriften/
erl_nr_8_2016). Ziel dessen ist es, „auf Grundlage des geltenden Rechts alle Er-
messensspielräume [zu nutzen], um vollziehbar Ausreisepflichtigen, die Opfer
einer rechten Gewaltstraftat geworden sind, zu einem Bleiberecht zu verhelfen“.
Diese Maßnahme begründet die Landesregierung wie folgt:
 Ein Bleiberecht für Betroffene rechter Gewalt sei notwendig, um ihre Anwe-

senheit als Opferzeuginnen bzw. -zeugen sicherzustellen.
 Ein Bleiberecht solle Betroffenen rechter Gewalt in die Lage versetzen, not-

wendige medizinische bzw. psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu neh-
men.

 Ein Bleiberecht stelle eine spezifische Form der „Wiedergutmachung“ dar.
Aus Sicht der Fragesteller kann ein Bleiberecht für Betroffene rechter Gewalt zu-
dem generalpräventiv wirken, da rechte Täterinnen und Täter fortan damit rech-
nen müssen, dass die Opfer aufgrund der gegen sie verübten Straftaten die Mög-
lichkeit erhalten, in Deutschland zu bleiben.
Die Richtlinie 2012/29/EU der Europäischen Parlaments und des Rates vom
25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und
den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlus-
ses 2001/220/JI schließt eine Ungleichbehandlung von Opfern von Straftaten auf-
grund ihres Aufenthaltsstatus u. a. im Hinblick auf den Zugang zum Rechtsschutz
aus. Dieses Recht auf Gleichbehandlung ist im Zuge des 3. Opferrechtsreformge-
setzes nicht in deutsches Recht umgesetzt worden.
In Brandenburg sollen Betroffene rechter Gewalt fortan unter bestimmten Vo-
raussetzungen (Schwere der Tat und der Tatfolgen; keine Mitverursachung der
rechten Straftat durch das Tatopfer; keine vorherige Begehung spezifischer Straf-
taten durch das Tatopfer) in einem zweistufigen Verfahren ein Bleiberecht erhal-
ten:
 Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Absatz 2 Satz 3 des Aufenthaltsge-

setzes (AufenthG) für die Dauer des Ermittlungs- bzw. Strafverfahrens;

http://www.bravors.brandenburg.de/verwaltungsvorschriften/erl_nr_8_2016
http://www.bravors.brandenburg.de/verwaltungsvorschriften/erl_nr_8_2016
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 Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Absatz 5 Satz 1 AufenthG

aufgrund der Annahme, dass das erhebliche öffentliche Interesse an einem
Verbleib des Opfers einer rechten Gewalttat sowie die dringenden humanitä-
ren Gründe nach Beendigung des Strafverfahrens fortwirken und so zu einem
inlandsbezogenen Abschiebungshindernis werden.

Die Frage eines Bleiberechts für Betroffene rechter Gewalt gewinnt zunehmend
an bundespolitischer Bedeutung. Die Fraktionen DIE LINKE., SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN haben auch in Thüringen diese Forderung in ihrem Koa-
litionsvertrag verankert. Auch das Land Berlin hat angekündigt, sich dem Bran-
denburger Vorbild anschließen zu wollen (TSP, 9. Januar 2017).
Der Landtagsbeschluss sowie der Erlass der Brandenburger Landesregierung fu-
ßen auf einem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag
Brandenburg (Landtagsdrucksache 6/3928), setzen das Petitum aber nicht voll-
ständig um. Denn in dem Antrag wurde eine rechtssichere Regelung für die Be-
troffenen rechter Gewalt gefordert. Um das zu erreichen, könnte und müsste eine
Regelung gefunden werden, die (ähnlich wie auch auf Bundestagsdrucksache
18/2492 gefordert) „über das bereits bestehende Recht hinausgeht“. Der Landes-
regierung wurde hierfür eine entsprechende Bundesratsinitiative anempfohlen.
Wie sinnvoll nach Auffassung der Fragesteller ein Bleiberecht für Betroffene
rechter Gewalt – allein schon aus Gründen der Rechtspflege – ist, wird aus der
Praxis der Opferberatungsstellen deutlich. Der in Potsdam ansässige Verein „Op-
ferperspektive e. V.“ illustrierte die Folge dessen, dass Betroffene rechter Über-
fälle – wie bislang – immer wieder vor der Durchführung eines Strafverfahrens
abgeschoben werden, in einer Pressemitteilung vom 9. März 2016. Darin heißt
es: „Durch die Abschiebung fehlen nun wichtige Zeugen in einem laufenden Er-
mittlungsverfahren. Der Landkreis schützt somit im Endeffekt rassistische Ge-
walttäter vor Strafverfolgung. Dies steht im eindeutigen Widerspruch zu sämtli-
chen Versprechungen aus der Politik, rechte Straftaten mit allen zur Verfügung
stehenden Mitteln zu verfolgen. Aus unserer Beratungspraxis wissen wir, dass
viele Strafverfahren eingestellt werden oder mit einem Freispruch für die Tä-
ter_innen enden, wenn die Zeug_innen für Aussagen fehlen. Es drängt sich der
Eindruck auf, dass der Landkreis eine Abschiebung forcierte, nachdem die Be-
troffenen sich Hilfe suchend an unsere Beratungsstelle wandten.“

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele politisch motivierte Gewaltdelikte wurden in den Jahren 2014 bis

2016 innerhalb des „Themenfeldkatalogs – Politisch motivierte Kriminali-
tät – (PMK)“ im Unterthema „gegen Asylbewerber/Flüchtlinge“ registriert
(bitte nach Jahren, Bundesländern sowie den vier PMK-Phänomenbereichen
PMK-rechts, PMK-links, PMK-Ausländer und PMK-Sonstige aufschlüs-
seln)?

2. Wie nimmt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang Stellung zu den
im „Jahrbuch Rechte Gewalt“ der Journalistin Andrea Röpke veröffentlich-
ten 1 000 rassistischen und flüchtlingsfeindlichen Angriffen im Jahr 2016?

3. Wie viele Tatopfer hatten einen unsicheren Aufenthaltsstatus (bspw. Aufent-
haltsgestattung, sog. Grenzübertrittsbescheinigung, Bescheinigung über die
Meldung als Asylsuchende, Ankunftsnachweis oder Duldung; bitte auf-
schlüsseln)?

4. Wie viele Betroffene rechter Gewalt wurden – nach Kenntnis der Bundesre-
gierung – in den Jahren 2014 bis 2016 vor Beendigung der Strafverfahren
gegen die Täter abgeschoben und konnten somit im Prozess nicht mehr aus-
sagen?

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5. Wie viele Betroffene des Menschenhandels (§ 232 des Strafgesetzbuches –
StGB), der Ausbeutung der Arbeitskraft (§ 233 StGB) bzw. der Ausbeutung
unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung (§ 233a StGB) haben in den Jah-
ren 2014 bis 2016 zur Sicherstellung eines Strafverfahrens eine Aufenthalts-
erlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 AufenthG erhalten (bitte nach Jahren
und den Fallgruppen §§ 232, 233 und 233a StGB aufschlüsseln)?

6. Wie vielen dieser Personen wurde gemäß § 25 Absatz 4a Satz 3 AufenthG
aufgrund humanitärer bzw. persönlicher Gründe oder aus Gründen der öf-
fentlichen Interessen ein Aufenthalt auch über das Strafverfahren hinaus er-
laubt (bitte aufschlüsseln)?

7. Haben sich die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften zum aufenthaltsrechtli-
chen Schutz von Betroffenen des Menschenhandels bzw. der Arbeitsausbeu-
tung aus Sicht der Bundesregierung bewährt, und wenn nein, warum nicht?

8. Hält es die Bundesregierung vor diesem Hintergrund – aber auch im gene-
rellen Interesse einer ordnungsmäßen Rechtspflege – für notwendig bzw.
sinnvoll, Betroffenen rechter Gewalt ein Bleiberecht zu ermöglichen, um de-
ren Anwesenheit als Opferzeuginnen bzw. Opferzeugen im Strafprozess si-
cherzustellen?
Wenn nein, warum sollen Betroffene rechter Gewalt schlechter gestellt wer-
den als Betroffene von Menschenhandel bzw. Arbeitsausbeutung?

9. Warum war und ist es aus Sicht der Bundesregierung sachgerecht und not-
wendig, das Bleiberecht für Betroffene von Menschenhandel bzw. Arbeits-
ausbeutung im Aufenthaltsrecht zu verankern – dass also bewusst nicht der
Weg beschritten wurde, ein solches Bleiberecht mithilfe eines Erlasses der
jeweils zuständigen Landesregierung zu erreichen?

10. Wäre es für Betroffene rechter Gewalt – vor dem Hintergrund der Regelung
in § 25 Absatz 4a AufenthG – nicht die rechtssichere und bundeseinheitliche
Lösung, ein Bleiberecht für Opfer rechter Gewalt im Aufenthaltsgesetz zu
verankern?
Wenn nein, warum nicht?

11. Stellt die derzeitige Ungleichbehandlung nichtdeutscher Betroffener rechter
Gewaltstraftaten (z. B. gegenüber Betroffenen von Menschenhandel und Ar-
beitsausbeutung) nach Ansicht der Bundesregierung mit Blick auf den 9. Er-
wägungsgrund der Richtlinie 2012/29/EU eine Benachteiligung aufgrund
des Aufenthaltsstatus und damit eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung
dar?
Wenn ja, wann gedenkt die Bundesregierung die Gleichbehandlung aller
nichtdeutschen Betroffenen rechter Gewaltstraftaten im deutschen Recht si-
cherzustellen und damit das 3. Opferrechtsreformgesetz, mit dem die Richt-
linie 2012/29/EU eigentlich hätte vollständig umgesetzt werden sollen, zu
ergänzen?
Wenn nein, warum nicht?

12. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass nichtdeutsche Betroffene rechter
Gewaltstraftaten als besonders schutzbedürftige Personen im Sinne der
Richtlinie 2012/29/EU (38. Erwägungsgrund) anzusehen sind und dass sie
infolgedessen Anspruch auf spezialisierte Unterstützung (zur „Erholung und
Überwindung von einer etwaigen Schädigung oder einem etwaigen Trauma“
bzw. Rechtsberatung) sowie Gewährung rechtlichen Schutzes haben?
Wenn ja, wann gedenkt die Bundesregierung diese Rechte im deutschen
Recht zu verankern?
Wenn nein, warum nicht?

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13. Inwiefern wäre ein Bleiberecht für Betroffene rechter Gewalt aus Sicht der

Bundesregierung hilfreich bzw. notwendig, um Betroffene rechter Gewalt in
die Lage zu versetzen, ggf. notwendige medizinische bzw. psychotherapeu-
tische Hilfe ohne den Stress eines unsicheren Aufenthaltsstatus und ohne die
Einschränkungen des § 6 Asylbewerberleistungsgesetzes in Anspruch neh-
men zu können?

Wenn nein, warum nicht?
14. Hält es die Bundesregierung für sachgerecht, Betroffenen rechter Gewalt –

über die Angebote des Bundesamtes für Justiz hinaus (vgl. Bundestagsdruck-
sache 18/1938) – ein Angebot zur Wiedergutmachung zu machen?
Wenn ja, könnte ein Bleiberecht für Betroffene rechter Gewalt die aufent-
haltsrechtliche Form einer solchen Wiedergutmachung sein?
Wenn nein, warum nicht?

15. Welche rechtlichen und tatsächlichen Erkenntnisse hat die Bundesregierung
darüber, dass Betroffene rechter Gewalt keine Härteleistungen des Bundes-
amtes für Justiz bzw. Leistungen des Opferentschädigungsgesetzes in An-
spruch nehmen, weil Strafverfahren eingestellt wurden oder in einem Frei-
spruch mündeten, weil das Tatopfer zuvor abgeschoben wurde?

16. Spricht aus Sicht der Bundesregierung etwas gegen die Annahme, dass ein
Bleiberecht für Betroffene rechter Gewalt eine generalpräventive Wirkung
entfalten könnte bzw. würden rechte Täterinnen und Täter möglicherweise
dann von der Begehung von Straftaten abgehalten werden, wenn sie damit
rechnen müssten, dass die Betroffenen infolge der Tat die Möglichkeit er-
hielten, in Deutschland zu bleiben?

17. Sind aus Sicht der Bundesregierung – jenseits der Frage des Bleiberechts –
andere Hilfestellungen für nichtdeutsche Betroffene rechter Gewalt sinnvoll
(z. B. Ausnahmen von der aufenthalts- oder asylrechtlichen Verteilung, die
dem Tatopfer den Umzug ermöglichen würden, um sich von den Täterinnen
und Tätern zu entfernen bzw. um geeignete medizinische oder therapeutische
Hilfe in Anspruch zu nehmen)?

Wenn ja, welche?
Wenn nein, warum nicht?

18. Hält die Bundesregierung die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für ein
Bleiberecht für Opfer rechter Gewalt sowie die Schaffung weiterer aufent-
halts- oder asylrechtlicher Regelungen zugunsten nichtdeutscher Betroffener
rechter Gewalt für sinnvoll bzw. erforderlich, um die Wahrnehmung straf-
prozessualer Rechte von Menschen mit unsicherem Aufenthalt zu gewähr-
leisten und Diskriminierung zu verhindern?
Wenn ja, wird sie einen solchen Gesetzentwurf noch in dieser Wahlperiode
in den Deutschen Bundestag einbringen?
Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 13. Januar 2017

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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