BT-Drucksache 18/10031

Verbrechen nach dem Völkerstrafrecht nicht ungesühnt lassen

Vom 19. Oktober 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10031
18. Wahlperiode 19.10.2016
Antrag
der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Franziska Brantner, Volker Beck (Köln),
Luise Amtsberg, Kai Gehring, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic,
Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verbrechen nach dem Völkerstrafrecht nicht ungesühnt lassen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Auf dem Gebiet des Irak und Syriens wurden seit 2012 sowohl von staatlichen als auch
von nichtstaatlichen Akteuren schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit began-
gen. Opfer dieser Verbrechen sind unter anderem ethnische und religiöse Minderhei-
ten, wie Christen, Jesiden, Turkmenen und andere geworden.
Die Angriffe des ISIS/Daesh auf die Jesiden wurden von der Untersuchungskommis-
sion des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen im Juni 2016 als Völkermord
eingestuft.
Mehr als 3.200 Frauen und Kinder befinden sich nach wie vor in der Gewalt von
ISIS/Daesh, v. a. in Syrien, wo sie hundertfach vergewaltigt und dutzendweise weiter-
verkauft werden; tausende Jungen und Männer werden vermisst.
Auch gegen die syrische Zivilbevölkerung wurden wiederholt Kriegsverbrechen be-
gangen. Human Rights Watch hat in 47 Fällen den Einsatz von Streumunition in vom
syrischen Regime kontrollierten Gebieten dokumentiert. Die tatsächliche Zahl liegt
vermutlich sehr viel höher. Experten von VN und der Organisation für das Verbot che-
mischer Waffen (OPCW) sind darüber hinaus zu dem Schluss gekommen, dass die
syrischen Regierungstruppen mindestens zweimal Chlorgas eingesetzt haben – im Ap-
ril 2014 und im März 2015 gegen Orte in der nordsyrischen Provinz Idlib. Bei den
Giftgasangriffen wurden mindestens 13 Menschen getötet. ISIS/Daesh setzte demsel-
ben Bericht zufolge mindestens einmal Senfgas ein: am 21. August 2015 in der Stadt
Marea in der nördlichen Provinz Aleppo. Der Einsatz von Streumunition und Giftgas
sind Kriegsverbrechen.
Amnesty International berichtet von systematischer Folter in syrischen Gefängnissen,
an deren Folgen viele Häftlinge sterben. Seit dem Ausbruch des Krieges im März 2011
bis Ende 2015 sind demnach 17.723 Menschen in Haft gestorben – das sind rund 300
im Monat. Der ehemalige syrische Militärfotograf „Caesar“ hatte bereits Anfang 2014
53.000 Fotos aus syrischen Gefängnissen veröffentlicht, darunter 28.707 Aufnahmen
von Personen, die in Haft gestorben sind und teilweise von schwerster Folter gezeich-
net waren. Systematische Folter ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

http://www.spiegel.de/thema/opcw/
http://www.spiegel.de/thema/opcw/
http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-usa-verurteilen-chemiewaffeneinsatz-des-regimes-a-1109368.html
http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-usa-verurteilen-chemiewaffeneinsatz-des-regimes-a-1109368.html
http://www.spiegel.de/thema/aleppo/
Drucksache 18/10031 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die systematischen und weit verbreiteten
schwersten Menschenrechtsverletzungen durch ISIS/Daesh in Syrien und dem Irak un-
ter anderem durch Resolution 2249(2015) aufs Schärfste verurteilt.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord sind gemäß
der Völkermordkonvention und dem Römischen Statut international strafbar. Da we-
der Syrien noch der Irak Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind, kann sich der
Internationale Strafgerichtshof (IStGH) nur mit der dortigen Situation befassen, wenn
der VN-Sicherheitsrat ihm den Fall zur Bearbeitung überweist.
Die kurdische Regionalregierung im Nordirak kann sich auch nicht dem Statut des
IStGH auf Antrag selbst unterwerfen, das es dafür an der Staatlichkeit mangelt.
Es bleibt daher einzig und allein der Weg über die Vereinten Nationen.
Eine solche – auch von Deutschland unterstützte – Resolution zur Überweisung der
Situation in Syrien und im Irak an den IStGH ist im Mai 2014 an dem Veto von Russ-
land und China im Sicherheitsrat gescheitert. Alle anderen 13 Mitglieder des VN-Si-
cherheitsrates hatten dafür gestimmt. Seitdem ist kein ernsthafter neuer Versuch un-
ternommen worden, im Sicherheitsrat doch noch Einigkeit über eine solche Überwei-
sung zu erreichen. Die Bundesregierung zieht sich vielmehr darauf zurück, dass sie
inzwischen nicht mehr Mitglied des Sicherheitsrates sei.
Inzwischen sind mehr als zwei Jahre vergangen, die Dramatik der Situation ist aber
keineswegs geringer geworden, im Gegenteil. Angesichts des unermesslichen Leids in
Syrien und der Befürchtung, dass sich der Konflikt nicht in absehbarer Zeit lösen las-
sen wird, müssen wenigstens die Bevölkerung humanitär versorgt und schlimmste
Menschenrechtsverletzungen verhindert werden. Die Beendigung der Straflosigkeit
von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord ist dazu
ein wesentlicher Schritt.
Ob (nichtständiges) Sicherheitsratsmitglied oder nicht, die Bundesregierung muss sich
bilateral gegenüber Russland und China sowie multilateral auf allen diplomatischen
Ebenen aktiv dafür einsetzen, dass eine Überweisung durch den Sicherheitsrat an den
Internationalen Strafgerichtshof ermöglicht wird.
Die Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem von ISIS/Daesh verübten sys-
tematischen Massenmord an religiösen Minderheiten (2016/2529(RSP)) vom
04.02.2016 verurteilt die begangenen Menschenrechtsverletzungen und Verstöße ge-
gen das humanitäre Völkerrecht. Sie geht davon aus, dass genügend Nachweise vor-
gelegt wurden, die auf Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
Völkermord an religiösen Minderheiten hindeuten. Sie fordert die EU und ihre Mit-
gliedstaaten dazu auf, eine Resolution des UN-Sicherheitsrates zu beantragen, um die
Ermittlung und Strafverfolgung der besagten Verbrechen an den Internationalen Straf-
gerichtshof zu verweisen. Zudem fordert sie Syrien und den Irak dazu auf, sich der
Gerichtsbarkeit des IStGH zu unterwerfen. Weiterhin werden die Mitgliedstaaten der
UN dazu aufgefordert, ihre Rechtsordnung und Rechtsprechung anzupassen, um die
strafrechtliche Verfolgung Staatsangehöriger und Gebietsansässiger, die sich an der-
artigen Verbrechen beteiligen, zu garantieren.
Der US-Kongress hat am 15.03.2016 in der Resolution H.Con.Rs.75 die Handlungen
von ISIS/Daesh im Nordirak als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit und Völkermord verurteilt. Er hat die Zusammenarbeit der UN zur Verhinde-
rung und Bestrafung dieser Verbrechen und die Errichtung eines internationalen Tri-
bunals gefordert.
In Deutschland gibt es bereits mehrere strafrechtliche (Struktur-)ermittlungsverfahren
gegen Täterinnen und Täter des syrischen Regimes wie auch von ISIS/Daesh. Diese
Bemühungen müssen fortgesetzt und unterstützt werden. Das Völkerstrafgesetzbuch
bietet dafür eine gute rechtliche Grundlage. Nach Deutschland Geflüchtete aus Syrien
haben bereits tausende konkrete Hinweise auf Straftaten an die deutschen Behörden
weiteregegeben. 2.475 Hinweise auf völkerstrafrechtlich zu würdigende Sachverhalte

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10031
bis Ende März 2016 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an die zustän-
dige Stelle beim Bundeskriminalamt (Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegs-
verbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch) weitergeleitet.
Um diese zeitnah und umfassend bearbeiten zu können, müssen die personellen und
finanziellen Rahmenbedingungen der Zentralstelle sowie der für Völkerstraftaten zu-
ständigen Abteilung beim Generalbundesanwalt verbessert werden.
Die Schwierigkeiten in der Praxis bei der Verfolgung und Verurteilung von Völker-
straftaten in Deutschland wurden in dem ersten abgeschlossenen Verfahren nach dem
deutschen Völkerstrafrecht gegen die Ruander Dr. Ignace Murwanashyaka und Straton
Musoni in erster Instanz vor dem OLG Stuttgart deutlich.
In einer Expertenanhörung vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages am
25.04.2016 haben die Experten einvernehmlich für die Einrichtung einer Arbeits-
gruppe Völkerstrafrechtspraxis plädiert, um etwaigen gesetzgeberischen Handlungs-
bedarf in Bezug auf die Strafprozessordnung zu prüfen.
Zivilgesellschaftliche Initiativen sowie Untersuchungskommissionen der Vereinten
Nationen wie die vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eingesetzte „Com-
mission of Inquiry“, die bereits heute Beweismittel für spätere Strafprozesse sammeln,
sollen noch stärker als bisher mit politischer, personeller und finanzieller Hilfe unter-
stützt werden. Whistleblowern wie „Caesar“, die zur Beweissicherung beigetragen ha-
ben, muss umfassender Schutz gewährt werden.
Die Beendigung der Straflosigkeit trägt mittelbar zur Verhinderung von weiteren
schwersten Menschenrechtsverletzungen bei. Dass Täterinnen und Täter aller Kon-
fliktparteien für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völker-
mord strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, ist aber auch für einen – spä-
teren – Versöhnungsprozess von entscheidender Bedeutung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich innerhalb der Vereinten Nationen und auf allen diplomatischen Ebenen er-
neut für eine Überweisung der Völkerrechtsverbrechen in Syrien und im Irak
durch den VN-Sicherheitsrat an den Internationalen Strafgerichtshof einzusetzen;

2. falls die Überweisung an den Internationalen Strafgerichtshof nicht gelingen
sollte, alternativ die Einrichtung eines Sondertribunals zur strafrechtlichen Auf-
arbeitung der Völkerrechtsverbrechen in Syrien und im Irak einzufordern;

3. sich gegenüber der Regionalregierung im Nordirak dafür einzusetzen, dass die
Berichte über die von kurdischen Kämpfern und Peschmergas begangenen Miss-
handlungen, Vertreibungen und Plünderungen in manchen von ISIS/Daesh be-
freiten Dörfern transparent und nachhaltig aufgeklärt werden;

4. sowohl die Regionalregierung im Nordirak als auch die Zentralregierung des Irak
bei Aufbau und Ausbildung juristischer Kapazitäten zur Aufarbeitung von Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit aktiv zu unterstützen;

5. den Generalbundesanwalt und die zuständigen Stellen beim Bundeskriminalamt
weiterhin mit personellen und sachlichen Mitteln so zu verstärken, wie es die ef-
fektive Verfolgung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien und im
Irak erfordern;

6. eine Arbeitsgruppe Völkerstrafrechtspraxis beim Bundesjustizministerium einzu-
richten;

7. Initiativen der Vereinten Nationen wie der Zivilgesellschaft, die sich mit der Si-
cherung von Beweismitteln befassen, politisch, personell und finanziell, aktiv zu
unterstützen;

Drucksache 18/10031 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
8. Whistleblowern, die zur Beweissicherung beigetragen haben, in Deutschland

Schutz und Hilfe anzubieten.

Berlin, den 18. Oktober 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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