BT-Drucksache 17/9674

Auswirkungen der EU-Krisenbewältigung auf soziale Standards und Armut in Europa

Vom 14. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9674
17. Wahlperiode 14. 05. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze,
Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Sevim Dag˘delen,
Dr. Diether Dehm, Klaus Ernst, Annette Groth, Andrej Hunko, Katja Kipping,
Harald Koch, Ulla Lötzer, Yvonne Ploetz, Michael Schlecht, Dr. Axel Troost,
Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich und
der Fraktion DIE LINKE.

Auswirkungen der EU-Krisenbewältigung auf soziale Standards und Armut
in Europa

Die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007/2008 hat sich aufgrund von Milliar-
denpaketen zur Stabilisierung von Banken- und Finanzinstituten sowie (in gerin-
gerem Maße) durch Konjunkturprogramme sowie aufgrund der ausgebliebenen
Beteiligung des privaten Finanzsektors an den Krisenfolgen in den letzten Jah-
ren zu einer Staatsschuldenkrise verlagert. EU-weit und insbesondere in der
Eurozone sind die öffentlichen Schuldenstände drastisch angestiegen.

Die Bewältigung des Schuldenabbaus wird von den Regierungen der EU-Staaten
vielerorts durch drastische Kürzungen der öffentlichen Ausgaben angegangen.
Auch EU-Politiken, wie beispielsweise im Rahmen des sogenannten Six-Pack,
mit dem die Bedingungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts für Haushalts-
konsolidierung und Schuldenabbau deutlich verschärft wurden, fokussieren
primär auf die Senkung der staatlichen Ausgaben. In einer Modellrechnung
prognostizierten Ökonomen des Instituts für Makroökonomie und Konjunktur-
forschung (Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Report 71,
„Fiskalpakt belastet Euroraum“, März 2012), dass die Umsetzung der Vorgaben
zur Budgetkonsolidierung in EU-Staaten zu rund 70 Prozent über Ausgabenkür-
zungen erfolgen wird.

Der Sozialstaat und seine Errungenschaften geraten dabei unter erheblichen
Druck. Betroffen von dieser Austeritätspolitik sind insbesondere diejenigen, die
abhängig von den Leistungen des Sozialstaates sind.

Materialien und Dokumente der EU – u. a. die Berichte des „Social Protection
Committee“ zu den sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der Haus-
haltskonsolidierung – zeigen in aller Deutlichkeit die Zunahme sozialer Pro-
bleme; diese Berichte bleiben aber folgenlos für die praktische Politik.
Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie haben sich die Zahl der armutsgefährdeten Personen nach Sozialleistun-
gen (definiert gemäß EU-Konvention als weniger als 60 Prozent des Median-
einkommens) und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in der EU und den
einzelnen Mitgliedstaaten seit 2005 entwickelt (bitte jährlich ausweisen und
falls möglich nach Geschlecht und Alter differenzieren)?

Drucksache 17/9674 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Wie haben sich die Zahl der armutsgefährdeten Personen von Sozialleistun-
gen (definiert gemäß EU-Konvention als weniger als 60 Prozent des Median-
einkommens) und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in der EU und den
einzelnen Mitgliedstaaten seit 2005 entwickelt (bitte jährlich ausweisen und
falls möglich nach Geschlecht und Alter differenzieren)?

3. Wie haben sich die Zahl der Personen in „materieller Deprivation“ und ihr
Anteil an der Gesamtbevölkerung in der EU und den einzelnen Mitglied-
staaten seit 2005 entwickelt (bitte jährlich ausweisen und falls möglich nach
Geschlecht und Alter differenzieren)?

4. Wie haben sich die Zahl der Personen in „Erwerbslosenhaushalten“ und ihr
Anteil an der Gesamtbevölkerung in der EU und den einzelnen Mitglied-
staaten seit 2005 entwickelt (bitte jährlich ausweisen und falls möglich nach
Geschlecht und Alter differenzieren)?

5. Welche Schlussfolgerung zieht die Bundesregierung aus der Aussage des
Ausschusses für Sozialschutz (Ratsdokument 17050/11), dass die in der
Krise zunächst gegebene relative Stabilität des Anteils der Bevölkerung, die
von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist „zu einem Großteil auf
eine Verringerung des medianen Haushaltseinkommens zurückzuführen“
sei und „weniger auf eine Stabilisierung der Einkommen und der Lebens-
bedingungen“?

6. Wie entwickelten sich die Ausgaben für Sozialleistungen seit 2005 in der
EU und in den Mitgliedstaaten (bitte jährlich ausweisen)?

7. Wie entwickelten sich die Ausgaben für Sozialleistungen in den verschie-
denen Funktionsbereichen (Gesundheitsfürsorge, Krankheit, Mutterschaft,
Invalidität, Alter, Hinterbliebene, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten,
Familie, Arbeitslosigkeit, Mindestsicherung, Pflege) in der EU und in den
Mitgliedsländern seit 2005 (bitte in absoluten Zahlen nach EU-Mitglied-
staaten aufschlüsseln)?

8. Wie viele Personen bezogen Sozialleistungen in den verschiedenen Funk-
tionsbereichen in der EU und den Mitgliedsländern seit 2005?

9. Wie entwickelten sich seit 2005 die Sozialleistungsquoten (Anteil der Sozi-
alausgaben am Bruttoinlandsprodukt) in der EU und in den Mitgliedslän-
dern (bitte jährlich sowie Zähler und Nenner bei der Ermittlung der Sozial-
leistungsquote zusätzlich ausweisen)?

10. Wie entwickelten sich bei den Menschen im erwerbsfähigen Alter seit 2005
die Anzahl der Bezieher und Bezieherinnen von Arbeitslosenunterstützung
und Sozialhilfe bzw. entsprechende Grundsicherungsleistungen in der EU
und in den EU-Mitgliedsländern?

11. In welchen EU-Mitgliedstaaten wurden seit 2007 Leistungen der Arbeits-
losenunterstützung, der Sozialhilfe bzw. entsprechende Grundsicherungs-
leistungen sowie Renten abgesenkt (bitte die einzelnen betroffenen Sozial-
leistungen aufführen und die nominale und prozentuale Höhe der Kürzungen
angeben)?

12. In welchen Ländern wurden seit 2007 Zugangsbedingungen oder Dauer von
Systemen der Arbeitslosenunterstützung und der Sozialhilfe bzw. entspre-
chende Grundsicherungsleistungen restriktiver gestaltet?

Wie viele Berechtigte fielen durch diese Änderung aus den sozialen Siche-
rungssystemen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9674

13. In welchen EU-Mitgliedstaaten wurden seit 2007 Leistungen in der Ge-
sundheitsversorgung und Pflege gekürzt und/oder private Beiträge oder
Zuzahlungen für Gesundheitsversorgung und Pflege eingeführt oder erhöht
(bitte bei Einführung die nominale Höhe und bei Absenkungen und Erhö-
hungen die nominale und prozentuale Differenz angeben)?

14. Wie hat sich die verdeckte Armut in Europa entwickelt?

15. Inwiefern wird in den Statistiken zur Armutsgefährdung in Europa auch der
Grad bzw. die Art der Behinderung erfasst?

16. Wie entwickelten sich die staatlichen Leistungen für Menschen mit Behin-
derung in den Mitgliedsländern der EU?

17. In welchen EU-Mitgliedstaaten wurden seit 2007 private Beiträge für Bil-
dung und Ausbildung eingeführt oder erhöht (bitte bei Einführung die
nominale Höhe und bei Erhöhungen die nominale und prozentuale Diffe-
renz angeben)?

18. In welchen EU-Mitgliedstaaten wurden seit 2007 Leistungen aktiver und
passiver Arbeitsförderung gekürzt (bitte die einzelnen Leistungen auflisten
und bei Kürzungen die nominale und prozentuale Differenz angeben)?

19. Wie hat sich die Suizidrate in der EU und in den einzelnen EU-Staaten seit
2007 entwickelt (bitte jährlich ausweisen und nach Geschlecht und Alter
differenzieren)?

20. Wie hat sich die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen in der
EU und in den einzelnen EU-Staaten seit 2007 entwickelt (bitte jährlich
ausweisen und nach Geschlecht und Alter differenzieren)?

21. Wie hat sich die Zahl der obdachlosen Menschen in der EU und in den ein-
zelnen EU-Staaten seit 2007 entwickelt?

22. Wie haben sich in den sogenannten Programm-Ländern, die Kredite aus
dem European Financial Stability Facility (EFSF) beziehen, die Löhne

a) im öffentlichen Dienst und

b) auf dem gesamten Arbeitsmarkt

entwickelt?

23. Wie bewertet die Bundesregierung die Entwicklung der sozialen Situation,
speziell der Armutsentwicklung, in den betroffenen EU-Staaten und insbe-
sondere in Griechenland?

24. Welche Initiativen hat bzw. will die Bundesregierung auf europäischer
Ebene anstoßen, um koordiniert Armut zu bekämpfen?

25. Welche Aktivitäten unternimmt die Bundesregierung, um die Forderung
des Europäischen Parlaments nach Ausbau von Mindesteinkommensyste-
men nachzukommen, die ein Einkommen oberhalb der jeweiligen Armuts-
risikogrenze sichern, in Europa voranzubringen (vgl. Bericht über die Be-
deutung des Mindesteinkommens für die Bekämpfung der Armut und die
Förderung einer integrativen Gesellschaft in Europa 2010/2039 (INI))?

Berlin, den 14. Mai 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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