BT-Drucksache 17/9596

zu der Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung - Drucksachen 17/3815, 17/9504 - Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland - Altersbilder in der Gesellschaft und Stellungnahme der Bundesregierung

Vom 9. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9596
17. Wahlperiode 09. 05. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Heidrun Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina
Bunge, Klaus Ernst, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert,
Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksachen 17/3815, 17/9504 –

Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in
der Bundesrepublik Deutschland – Altersbilder in der Gesellschaft

und

Stellungnahme der Bundesregierung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der sechste Altenbericht zur Lage der älteren Generation bewertet die Alters-
bilder unter dem Aspekt ihrer ökonomischen Verwertbarkeit. Die Sachver-
ständigenkommission folgt damit dem Berichtsauftrag der Bundesregierung,
„zukunftsgerichtete und realistische Altersbilder“ zu entwerfen, um die Stärken
und Ressourcen der Älteren nutzen zu können.

Im Mittelpunkt des Berichts stehen nicht die älteren Menschen, ihre Teilhabe-
möglichkeiten und ihre Lebenssituation. Diskriminierungen und Ausgrenzun-
gen, denen ältere Menschen teilweise ausgesetzt sind, werden nicht ausreichend
bearbeitet. Der Bericht geht von einer steigenden Zahl an gesunden Lebens-
jahren für alle aus. Dass diese Entwicklung vor allem auch von der sozialen
Lage der Betroffenen abhängt, findet keine Erwähnung.

Der Altenbericht betont die Vielfalt, aber er unterscheidet nicht ausreichend
zwischen der Vielfalt der individuellen Lebensentwürfe und der sozialen Un-
gleichheit. Im Erwerbsleben benachteiligte Gruppen wie Frauen, Migrantinnen

und Migranten sowie Menschen mit Behinderung, die im Ergebnis auch im
Alter von Armut bedroht sind, werden aus dem Bericht ausgeklammert. Bei-
spielhaft dafür ist, dass der Bericht nicht von Frauen und Männern handelt,
sondern weitgehend geschlechtslos argumentiert. Damit verliert der Bericht an
Substanz.

Die Bundesregierung möchte ein Leitbild vom Alter etablieren, welches „die
Fähigkeiten und Stärken älterer Menschen betont und dazu beiträgt, dass diese

Drucksache 17/9596 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

ihren Beitrag in Wirtschaft und Gesellschaft leisten können.“ Nötig sei dies
nach Auffassung der Bundesregierung, damit „unser Land den durch Globali-
sierung, Strukturwandel und internationalen Wettbewerb gestellten Heraus-
forderungen gewachsen ist“ (Stellungnahme der Bundesregierung zum sechsten
Altenbericht). Reich, gesund und aktiv erklärt die Bundesregierung zur Norm
des Alters, obwohl diese Eigenschaften einen Sonderfall bilden und sich zur
Bildung eines verallgemeinernden Altersbildes nicht eignen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. für den nächsten Altenbericht die Frage der sozialen Ungleichheit im Alter
und ihre Konsequenzen für Teilhabe, Gesundheit und Lebenserwartung als
Berichtsauftrag festzulegen. Insbesondere sollen dabei unterschiedliche
Lebenslagen, Geschlecht, ethnische und soziale Herkunft, sexuelle Orientie-
rung, Bildungsniveau und Behinderungen berücksichtigt werden;

2. die Senioreninnen- und Seniorenpolitik als Querschnittsaufgabe zu gestalten
und ihre Arbeit danach auszurichten und

3. durch die unverzügliche Vorlage von Gesetzentwürfen folgende Maßnahmen
zur Verbesserung der Lage älterer Menschen einzuleiten:

a) Eine Politik der guten Arbeit und guten Löhne zu verwirklichen, die ins-
besondere einen gesetzlichen Mindestlohn, einen besseren Kündigungs-
schutz gerade auch für ältere Beschäftigte sowie eine aktive Arbeits-
marktpolitik, die Arbeitsplätze schafft, die eventuelle Einschränkungen
Älterer angemessen berücksichtigen, umfasst und die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf gewährleistet, indem flächendeckend eine inklusive
Ganztageskinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr und eine bedarfs-
deckende Pflegeinfrastruktur aufgebaut werden.

b) Die soziale Absicherung für Seniorinnen und Senioren dergestalt neu zu
organisieren, dass ein Absturz in das System von Hartz IV oder die
Sozialhilfe vermieden, ein sozial abgefederter Übergang aus dem Er-
werbsleben in den Ruhestand ermöglicht und jede Form der zwangs-
weisen Verrentung, wie im aktuellen Hartz-IV-System praktiziert, ab-
geschafft wird; für Personen im SGB-II-Leistungsbezug eine repressions-
freie soziale Mindestsicherung einzuführen und die Leistungen auf ein
menschenwürdiges Niveau anzuheben.

c) Die gesetzliche Rentenversicherung zur solidarischen Rentenversiche-
rung auszubauen, in der alle Erwerbstätigen pflichtversichert sind, und
dabei insbesondere das Ziel der Lebensstandardsicherung wiederherzu-
stellen und die Armutsvermeidung zu stärken, indem

– die Rente erst ab 67 Jahren zurückgenommen,

– die Niveauabsenkung in der gesetzlichen Rentenversicherung rück-
gängig gemacht,

– die Erwerbsminderungsrente, indem die Abschläge abgeschafft und
die Zurechnungszeiten auf das 63. Lebensjahr verlängert werden,
deutlich verbessert,

– der soziale Ausgleich, durch eine bessere Absicherung von Lücken in
der Erwerbsbiografie, gestärkt und

– eine einkommen- und vermögensgeprüfte solidarische Mindestrente
von 900 Euro eingeführt

wird.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9596

d) Eine zukunftsweisende Reform der gesundheitlichen Versorgung ein-
zuleiten, welche insbesondere

– die Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primärprävention als
gesamtgesellschaftliche Aufgaben anerkennt und dementsprechend
ausgestaltet. Zentral sind die Einbeziehung aller Altersgruppen und die
Fokussierung auf Lebensweltansätze. Prioritär sollen die Maßnahmen
der Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primärprävention
dazu beitragen, die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheits-
chancen zu verringern (vgl. Bundestagsdrucksache 17/6304);

– gute und menschenwürdige Behandlung, Aufklärung und gesundheit-
liche Selbstbestimmung, mehr Mitsprachemöglichkeiten und Beweis-
erleichterungen für den Schadensfall sowie unbürokratische und
schnelle Entschädigungsregelungen festschreibt (vgl. Bundestagsdruck-
sache 17/6489);

– für multimorbide Menschen eine sektorübergreifende, integrierte Ver-
sorgung durch Zusammenarbeit der beteiligten Leistungserbringer zum
Standard macht;

– die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung einführt und die
private Krankenvollversicherung abschafft, um langfristig die solida-
rische Finanzierung der Krankenversicherung zu gewährleisten, die
Zwei-Klassen-Medizin zu beseitigen und Menschen im Alter vor unbe-
zahlbaren Versicherungsprämien in der privaten Krankenversicherung
bzw. vor Altersarmut durch Krankenversicherungskosten zu schützen
(vgl. Bundestagsdrucksache 17/7197) und

– Praxisgebühren und andere Zuzahlungen ganz abschafft.

e) Die solidarische Pflegeversicherung weiterzuentwickeln, was insbeson-
dere bedeutet,

– für eine Teilhabe ermöglichende, selbstbestimmte und ganzheitliche
Pflege den Vorschlag für einen neuen Pflegebegriff des Beirats zur Über-
prüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vom Januar 2009 zügig gesetz-
lich zu verankern und umzusetzen und gleichzeitig ein neues, praxis-
taugliches Begutachtungsverfahren einzuführen und starre Pflegestufen-
modelle zu überwinden;

– das Leistungsniveau der Pflegeversicherung deutlich anzuheben und
perspektivisch am individuellen Bedarf zu orientieren und als Sofort-
maßnahme den Realwertverlust der Pflegeleistungen vollständig aus-
zugleichen und die Sachleistungsbeträge für die ambulante, teilstatio-
näre und stationäre Pflege um weitere 25 Prozent zu erhöhen sowie die
Leistungen jährlich regelgebunden so zu erhöhen, dass diese ihren Wert
bewahren;

– die Rahmenbedingungen für Angehörige und Ehrenamtliche zu ver-
bessern, eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige ein-
zuführen, die der Organisation der Pflege und der ersten pflegerischen
Versorgung von Angehörigen oder nahestehenden Personen dient, und
für Personen, die die Pflege dauerhaft übernehmen wollen, Teilzeit-
vereinbarungen und flexible Arbeitszeitregelungen zu ermöglichen (vgl.
Bundestagsdrucksache 17/1754) sowie die notwendige Infrastruktur
auszubauen, um eine professionelle, unabhängige und wohnortnahe
Beratung, Anleitung, Betreuung und Supervision auf hohem Niveau
flächendeckend sicherzustellen und ergänzend alternative Wohn- und
Versorgungsformen auszubauen und

Drucksache 17/9596 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
– die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung einzuführen, um
langfristig die solidarische Finanzierung der Pflegeabsicherung zu
gewährleisten. Alle, auch die heute privat Versicherten, zahlen nach
ihrer individuellen finanziellen Leistungsfähigkeit in die solidarische
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung ein. Grundsätzlich werden alle
Einkommen aus unselbständiger und selbständiger Arbeit sowie alle
sonstigen Einkommensarten wie Kapital-, Miet- und Pachterträge bei
der Bemessung des Beitrags zu Grunde gelegt. Die Arbeitgeber zahlen
künftig bei Einkommen aus Löhnen und Gehältern die Hälfte des Bei-
trags (vgl. Bundestagsdrucksache 17/7197).

f) Eine teilhabeorientierte und barrierefreie Infrastruktur- und Wohnpolitik
flächendeckend zu etablieren, damit Seniorinnen und Senioren alternative
wohnortnahe Versorgungs- und Dienstleistungsangebote sowie Begeg-
nungszentren ermöglicht werden. Durch eine gesicherte Mobilität für
ältere Menschen sind infrastrukturelle Verbesserungen und bedarfs-
gerechte, erschwingliche Verkehrsangebote – vor allem im öffentlichen
Personennahverkehr – durch Kommunen, Städte, Gemeinden und Land-
kreise zu schaffen, damit in diesen Bedingungen vorliegen, in denen die
Menschen gern leben und die geprägt sind von Partizipationsmöglichkei-
ten, Familienfreundlichkeit, sozialem Wohlbefinden und interkultureller
Kommunikation. Soweit dies zu einer finanziellen Mehrbelastung der
Kommunen führt, hat der Bund diese durch eine entsprechende Beteili-
gung gegenüber den Ländern auszugleichen. Für ältere Menschen mit Be-
hinderung ist die Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Leben mittels
einkommens- und vermögensunabhängigen Teilhabeleistungen zu garan-
tieren – im Zentrum dieser Leistungen sollte die bedarfsgerechte persön-
liche Assistenz stehen.

Berlin, den 9. Mai 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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