BT-Drucksache 17/9582

Betreuungsgeld nicht einführen - Öffentliche Kinderbetreuung ausbauen

Vom 9. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9582
17. Wahlperiode 09. 05. 2012

Antrag
der Abgeordneten Diana Golze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, Steffen
Bockhahn, Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Katja Kipping,
Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin
Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine
Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Betreuungsgeld nicht einführen – Öffentliche Kinderbetreuung ausbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In der vergangenen Legislaturperiode hat die schwarz-rote Koalition 2008 mit
der Verabschiedung des Kinderförderungsgesetzes ein Bündel an Maßnahmen
verabschiedet, um Kinder besser zu fördern. Zu diesen Maßnahmen zählten un-
ter anderem die Einführung eines Rechtsanspruches auf einen Kinderbetreu-
ungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr, welcher zum 1. August 2013
in Kraft tritt, sowie die Einrichtung eines Sondervermögens für die Schaffung
von Plätzen zur Betreuung von Kindern unter drei Jahren (Investitionspro-
gramm „Kinderbetreuungsfinanzierung“).

Paradoxerweise hat die schwarz-rote Koalition aber gleichzeitig ein Betreuungs-
geld gesetzlich verankert, das diejenigen Eltern bekommen sollen, „die ihre Kin-
der von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder
können“ (§ 16 Absatz 5 des Achten Buches Sozialgesetzbuch – SGB VIII). Ein
Anspruch auf Betreuungsgeld soll ebenfalls ab dem 1. August 2013 bestehen.
CDU, CSU und FDP haben sich in ihrem Koalitionsvertrag auf ein Betreuungs-
geld von monatlich 150 Euro geeinigt. Nach konkretisierten Planungen soll das
Betreuungsgeld zunächst ab August 2013 monatlich 100 Euro und ab Januar
2014 monatlich 150 Euro betragen. Laut Bundesregierung werden in der Eck-
werteplanung des Haushaltes 2013 400 Mio. Euro und ab 2014 jährlich 1,2 Mrd.
Euro für das Betreuungsgeld bereitgestellt. Das Betreuungsgeld als solches wäre
ein Novum, da diese Zahlung Bürgerinnen und Bürger für die Nichtinanspruch-
nahme einer staatlichen Leistung erhalten würden.

Die Einführung eines Betreuungsgeldes wird mit einer vermeintlichen Wahlfrei-
heit gerechtfertigt. Es sollen diejenigen Eltern eine finanzielle Anerkennung er-
halten, die auf eine Förderung ihrer Kinder in einer Kindertageseinrichtung ver-
zichten und damit entschädigt werden für eine Nichtinanspruchnahme einer

staatlichen Infrastrukturleistung. Das Argument der Wahlfreiheit zwischen zwei
vermeintlichen Familienmodellen und der Anerkennung für Erziehungsleistun-
gen hinkt.

1. Vielerorts besteht kein ausreichendes und bedarfsgerechtes Angebot an Kin-
derbetreuungsplätzen. Der Ausbau der Kindertagesbetreuung verläuft vielerorts
zu schleppend, um – wie angestrebt – 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren ab

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August 2013 einen Betreuungsplatz anbieten zu können. Dies hat der Zweite
Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes bereits im Früh-
jahr 2011 betont und angemahnt, dass die Dynamik des Ausbaus massiv gestei-
gert werden müsse. Vertreter des Deutschen Städtetags erwarten einen weitaus
höheren Bedarf an Kinderbetreuungsplätzen als die prognostizierten 35 Prozent.
Trotz gesetzlichem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab 1. August
2013 werden daher zu diesem Zeitpunkt nicht genügend Betreuungsplätze zur
Verfügung stehen, um den Rechtsanspruch flächen- und bedarfsdeckend einzu-
lösen.

2. Mit dem Betreuungsgeld wird ein finanzieller Anreiz geschaffen, auf einen
staatlich verbrieften Rechtsanspruch zu verzichten. Für Familien, die knapp bei
Kasse sind, sind 150 Euro Betreuungsgeld zusätzlich zu den eingesparten Betreu-
ungsgebühren viel Geld und somit ist das Betreuungsgeld ein Anreiz, auf die
Förderung der Kinder in einer Tagesbetreuungseinrichtung zu verzichten. Das
individuelle Recht der Kinder auf Bildung gerät somit in Abhängigkeit von den
finanziellen Belangen der Eltern. Die Einführung eines Betreuungsgelds wird
dazu führen, dass eben diese Förderung der Kinder aus fiskalischen Gründen
nicht in Anspruch genommen wird.

3. Mit dem Betreuungsgeld wird ein Anreiz zur Verfestigung eines veralteten
Familienbildes geschaffen. In der Regel werden nämlich die Mütter – und nicht
die Väter – die Kinder zu Hause betreuen. Mütter erhalten dann einen geringen
finanziellen Ausgleich dafür, dass sie keiner eigenen Erwerbsarbeit nachgehen,
sich um den Haushalt und die Kinder kümmern. Im Kontext mit den Gebühren,
die für einen Betreuungsplatz bezahlt werden müssen, handelt es sich, je nach
Höhe der kommunalen Betreuungsgebühren, um ein vermeintlich lukratives
Angebot, da einige 100 Euro mehr zur Verfügung stehen. Den Familien wird ein
Modell schmackhaft gemacht, das Frauen von einer eigenen sozialen Absiche-
rung abhält. Das wird zur Folge haben, dass Frauen länger aus Erwerbsarbeit
aussteigen, infolgedessen schlechtere Chancen auf einen Wiedereinstieg haben
und perspektivisch einem höheren Armutsrisiko unterliegen. Die parallelen Be-
mühungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, eine gleiche Teil-
habe von Frauen am Erwerbsleben zu fördern, werden damit konterkariert.

4. Mit dem Argument der Anerkennung von Erziehungsleistungen über ein Be-
treuungsgeld wird suggeriert, dass nur Eltern, die ihre Kinder zuhause betreuen
bzw. betreuen lassen, ihre Kinder erziehen. Dies ist aber nicht der Fall. Alle El-
tern leisten beachtliche Erziehungsarbeit und dies über einen Zeitraum, der weit
über die ersten Lebensjahre hinausgeht. Mit dem Betreuungsgeld soll aber nur
eine Erziehungsleistungsform finanziell anerkannt werden.

Gleichzeitig soll das Betreuungsgeld nicht allen Eltern zu Gute kommen: Nach
den bekannt gewordenen Plänen der Bundesregierung soll Familien im Hartz-
IV-Bezug das Betreuungsgeld als Einkommen angerechnet und somit wieder ab-
gezogen werden. So würden Familien, die auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen
sind und auf Grund des bestehenden Mangels an Betreuungsplätzen keinen Kin-
derbetreuungsplatz bekommen, sowohl ohne Kitaplatz als auch ohne Betreu-
ungsgeld dastehen und somit doppelt benachteiligt werden.

Zudem werden neben den bereits aufgeführten Fehlanreizen falsche Signale an
Länder und Kommunen gesendet, die maßgeblich für die Finanzierung von Kin-
derbetreuungsplätzen verantwortlich sind. Neben einer Unterstützung durch den
Bund tragen die Eltern durch Beiträge zur Ausfinanzierung der Betreuungs-
plätze bei. Das Betreuungsgeld hingegen wird vom Bund finanziert. Mit jedem
Kind, das keinen Betreuungsplatz in Anspruch nimmt, sparen Länder und Kom-
munen jährlich mehrere 1 000 Euro. Somit ist das Betreuungsgeld für die verant-
wortlichen Kommunen ein lukratives Angebot, Eltern mit dem Verweis auf das

Betreuungsgeld von einer Kinderbetreuung abzuraten oder gar vereinzelt
schlimmstenfalls einen Betreuungsplatz vorzuenthalten. Mit dem Betreuungs-

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geld werden Länder und Kommunen ermutigt, den wesentlich kostenaufwendi-
geren Betreuungsausbau auch in Zukunft nicht bedarfsdeckend auszugestalten.

Nach dem derzeitigen Stand geht die Bundesregierung von Kosten in Höhe von
1,2 Mrd. Euro für das Betreuungsgeld aus. Andere Kostenrechnungen gehen
von weitaus größeren Summen – bis zu 2 Mrd. Euro jährlich – aus. Für dieses
Geld könnten zahlreiche Plätze in Kinderbetreuungseinrichtungen eingerichtet
und darüber hinaus könnte die Qualität der Betreuung massiv gesteigert werden.
Kleinere Gruppen sowie besser ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher könn-
ten damit Realität werden und somit die Bedingungen für die Kinder und das in
den Kinderbetreuungseinrichtungen beschäftigte Personal verbessert werden.
Eine Umleitung der für das Betreuungsgeld eingeplanten Kosten in den quanti-
tativen und qualitativen Ausbau sowie den Betrieb der Kinderbetreuungsinfra-
struktur wäre folglich der deutlich bessere Weg, als Milliarden für ein falsches
Steuerungsinstrument einzusetzen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der die ersatzlose Streichung des § 16
Absatz 5 SGB VIII (Einführung eines Betreuungsgeldes) beinhaltet;

2. die in der Haushaltsplanung veranschlagten Kosten für das Betreuungsgeld
in Höhe von 400 Mio. Euro für 2013 und 1,2 Mrd. Euro ab 2014 jährlich in
den quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung fließen zu
lassen und langfristig eine kontinuierliche Beteiligung des Bundes an den
Betriebskosten der Kindertagesbetreuung sicherzustellen;

3. ein Spitzentreffen zwischen den verantwortlichen Akteuren aus Bund, Län-
dern und Kommunen unter Beteiligung der wissenschaftlichen Fachwelt als
Krippengipfel einzuberufen, um den tatsächlichen Stand des Betreuungsaus-
baus und des Ausbaubedarfes zu ermitteln, sowie sofortige Maßnahmen
zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu verabreden und ein regelmäßig
tagendes Gremium mit dem Auftrag einzurichten, die Umsetzung des Aus-
baus zu begleiten und im Bedarfsfall umgehend Handlungsoptionen zur
Lösung von Problemlagen zu erarbeiten.

Berlin, den 9. Mai 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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