BT-Drucksache 17/9437

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 17/8682, 17/9436 - Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union

Vom 25. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9437
17. Wahlperiode 25. 04. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Brigitte Pothmer,
Kai Gehring, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag,
Dr. Konstantin von Notz, Claudia Roth (Augsburg), Wolfgang Wieland und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 17/8682, 17/9436 –

Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie
der Europäischen Union

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Deutschland ist seit Jahren mit dem stetig wachsenden Problem des Fachkräfte-
mangels konfrontiert. Dennoch agiert die Koalition der CDU, CSU und FDP
unverändert mit nur halbherzigem Stückwerk.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der Hochqualifizier-
ten-Richtlinie der Europäischen Union bleibt hinter den Erwartungen und Er-
fordernissen an eine moderne Einwanderungsgesellschaft zurück. Er ist nicht
nur kleinteilig und bürokratisch, sondern enthält sogar Vorschriften zur Ver-
schärfung der derzeitigen Rechtslage. Das ist ein falsches Signal an diejenigen
Fachkräfte, denen man angeblich attraktive Einwanderungsbedingungen bieten
möchte. Damit verfehlt der Gesetzentwurf deutlich den Anspruch an eine neue
Willkommenskultur.

1. Die Absicht der Bundesregierung, die Möglichkeit eines sofortigen unbe-
fristeten Aufenthaltsrechts für Spezialisten und leitende Angestellte (§ 19
Absatz 2 Nummer 3 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG) zu streichen und
diesen Personenkreis nunmehr auf die Regelungen in § 19a AufenthG zu
verweisen, bedeutet eine signifikante Verschlechterung der Rechtsposition
dieser hochqualifizierten Einwanderinnen und Einwanderer. Infolgedessen
erscheint es nachvollziehbar, wenn sich diese international stark umworbene

Zielgruppe lieber andernorts niederlässt.

2. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung bzw. die Änderungsanträge der
Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und FDP (Ausschussdrucksache des
Innenausschusses des Deutschen Bundestages 17(4)471) greifen in wichti-
gen Punkten zu kurz:

a) Die Koalition beschränkt den Kreis der Begünstigten einer Blauen Karte
EU ohne Not auf Hochschulabsolventinnen und -absolventen und dies,

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obwohl Artikel 2 Buchstabe g der Richtline 2009/50/EG es ermöglicht,
auch Personen mit einer mindestens fünfjährigen Berufserfahrung, deren
Niveau mit einem Hochschulabschluss vergleichbar ist eine Blaue Karte
EU zu erteilen. Diese Schlechterstellung der beruflich Qualifizierten ist
umso erstaunlicher angesichts der Bemühungen im nationalen Bereich,
die Durchlässigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung zu
erhöhen und die Wertschätzung der beruflichen Aus-, Fort- und Weiter-
bildung zu festigen.

b) Gleiches gilt für den neu geschaffenen sechsmonatigen „Aufenthaltstitel
zur Arbeitsplatzsuche für qualifizierte Fachkräfte“ (§ 18c – neu – AufenthG).
Auch dieser wird unnötig auf Hochschulabsolventinnen und -absolventen
beschränkt.

c) Auch die Vorhaben der Koalition, die Nebenerwerbstätigkeitsmöglichkeit
für internationale Studierende auf lediglich 120 Tage bzw. 240 halbe
Tage und die Frist zur Arbeitsplatzsuche auf nur 18 Monate nach dem
Hochschulabschluss zu erhöhen, bleiben hinter den Erwartungen der
Fachöffentlichkeit zurück.

d) Schließlich will die Koalition die uneingeschränkte Zahlung einer deut-
schen Rente nur Inhaberinnen und Inhabern einer Niederlassungserlaub-
nis nach § 19 bzw. einer Blauen Karte EU nach § 19a AufenthG zugeste-
hen (§ 113 Absatz 4 – neu –, § 114 Absatz 4 – neu – des Sechsten Buches
Sozialgesetzbuch – SGB VI). Andere Fachkräfte sollen bei einem späte-
ren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland demgegenüber weiterhin auf
30 Prozent ihrer Rentenansprüche verzichten. Die dadurch bedingte Be-
nachteiligung anderweitig qualifizierter Fachkräfte ist sachlich nicht zu
rechtfertigen und somit diskriminierend.

3. Die Regierungskoalition versäumt es zudem, in Deutschland bereits
lebende, aber arbeitsrechtlich ausgeschlossene ausländische Arbeitskräfte in
den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das betrifft insbesondere die Arbeitsmög-
lichkeiten für subsidiär geschützte Personen (§ 25 Absatz 3 AufenthG) und
Geduldete – und hierbei insbesondere jugendliche Geduldete.

4. Die verbesserten Rahmenbedingungen für nachziehende Familienange-
hörige beschränkt die Bundesregierung ohne erkennbaren Grund auf be-
stimmte Berufsgruppen – was zu einer nicht gerechtfertigten Schlechterstel-
lung der übrigen ausländischen Arbeitskräfte und ihrer Familien führt.

Dabei wäre zur Bewältigung des Fachkräftemangels ein kohärentes und trans-
parentes Handlungskonzept unverzichtbar: Nötig ist ein kluger Mix aus
Bildung, Qualifizierung und Aktivierung zurzeit nicht genutzter Fachkräfte-
potentiale statt Fehlanreizen wie Ehegattensplitting und Betreuungsgeld.
Gleichzeitig ist die Neuregelung der Arbeitskräfteeinwanderung vonnöten (vgl.
Bundestagsdrucksache 17/3198). Grundsätzlich gilt, dass Einheimische und
Einwandernde nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.

Das Aufenthaltsgesetz dagegen ist innerhalb der letzten sechs Jahre immer un-
übersichtlicher gestaltet worden und sowohl für die Bürgerinnen und Bürger als
auch für andere am Zuzug Interessierte praktisch unlesbar geworden. Das zeigt
insbesondere das Ausmaß der unseligen Verweisungstechnik des vorliegenden
Gesetzentwurfs. Leitgedanken der notwendigen grundlegenden Reform des
deutschen Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungsrechts sollten daher Vereinfa-
chung, mehr Transparenz und weniger Bürokratie sein.

Ohnehin gilt: Deutschland braucht eine Änderung der Systematik des Aufent-
halts- und Arbeitsgenehmigungsrechts. Das Aufenthaltsgesetz muss ein deutli-
ches Signal setzen, dass die Einwanderung von Fachkräften nach Deutschland
erwünscht ist. Geregelte Einwanderung soll die Regel sein, nicht die Ausnahme

zur immer noch gültigen Anwerbestoppausnahmeverordnung aus dem Jahr 1973.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9437

Eine Neujustierung der deutschen Einwanderungspolitik für Arbeitsmigrantin-
nen und -migranten könnte durch die Schaffung eines Punktesystems sinnvoll
operationalisiert werden (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3862). Das empfehlen
nicht nur BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sondern auch SPD und FDP sowie der
Deutsche Gewerkschaftsbund, die Arbeitgeberverbände und die führenden
Wirtschaftsforschungsinstitute.

Einwanderinnen und Einwanderer erwarten zu Recht attraktive einwanderungs-
und integrationspolitische Rahmenbedingungen. Hierzu gehören u. a. eine
sichere aufenthaltsrechtliche Perspektive, eine einladende Einbürgerungspra-
xis, eine gute Unterstützung ihrer Familienangehörigen (zum Beispiel durch
Kinderbetreuungsmöglichkeiten) sowie schulische Angebote auf hohem
Niveau. Notwendig sind darüber hinaus aber auch das entschiedene und effek-
tive Eintreten des Staates und der Zivilgesellschaft gegen Rassismus und Anti-
semitismus bzw. gegen rechtliche oder alltägliche Diskriminierung. In allen
diesen Punkten gibt es in Deutschland noch deutlichen Nachholbedarf.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. das Aufenthaltsgesetz dahingehend zu erweitern, dass auch Personen, die
eine mindestens fünfjährige Berufserfahrung nachweisen, deren Niveau mit
einem Hochschulabschluss vergleichbar ist, eine Aufenthaltserlaubnis nach
§ 18c oder eine Blaue Karte nach § 19a AufenthG erhalten können;

2. wie im ursprünglichen Gesetzentwurf (Bundestagsdrucksache 17/8682) vor-
gesehen, den Inhaberinnen und Inhabern der Blauen Karte einen Anspruch
auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach zwei und nicht erst nach drei
Jahren einzuräumen. In Einklang mit der Regelung zur Niederlassungser-
laubnis für Hochqualifizierte gemäß § 19 AufenthG sollte darüber hinaus die
Niederlassungserlaubnis für Inhaber der Blauen Karte nach § 19a Absatz 6
AufenthG nicht von Deutschkenntnissen abhängig gemacht werden. Denn
auch dieser Personenkreis hat keinen Anspruch auf Teilnahme an einem In-
tegrationskurs;

3. § 19 Absatz 2 Nummer 3 AufenthG nicht – wie beabsichtigt – zu streichen,
sondern beizubehalten und in Einklang mit den Nummern 1 und 2 des § 19
Absatz 2 AufenthG die erforderliche Mindestgehaltsschwelle zu streichen;

4. die unzähligen und inzwischen auch für Fachleute völlig unübersichtlichen
Aufenthaltserlaubnisse, Arbeitsgenehmigungen und Zustimmungspflichten
im Aufenthaltsgesetz bzw. der Beschäftigungs- und der Beschäftigungsver-
fahrensverordnung systematisch zu vereinfachen und zu entbürokratisieren;

5. einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Auswahlverfahrens mit Punkte-
system zur Fachkräfteeinwanderung vorzulegen (vgl. Bundestagsdrucksa-
che 17/3862);

6. Aufenthalt von Studenten

a) die Erlaubnis zur Nebenerwerbstätigkeit für internationale Studierende auf
180 Tage bzw. 360 halbe Tage zu erweitern (§ 16 Absatz 3 AufenthG);

b) in § 16 Absatz 4 AufenthG die Angemessenheit des Arbeitsplatzes fol-
gendermaßen zu konkretisieren: „Angemessen im Sinne des Satzes 1 ist
die angestrebte Tätigkeit, wenn sie unabhängig von der Fachrichtung der
Hochschulausbildung üblicherweise einen akademischen Abschluss vo-
raussetzt und die mit der Hochschulausbildung erworbenen Kenntnisse
zumindest teilweise oder mittelbar benötigt werden.“;

c) die Frist zur Suche eines Arbeitsplatzes nach dem Studium auf 24 Mo-

nate zu erhöhen;

Drucksache 17/9437 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

d) gemeinsam mit den Ländern die Informationsangebote für internationale
Studierende über die Möglichkeiten, ihren Aufenthalt in Deutschland
nach dem Hochschulabschluss fortzusetzen bzw. zu verfestigen, zu ver-
bessern;

e) § 9 Absatz 4 Nummer 3 AufenthG und die vorläufigen Anwendungshin-
weise zu § 10 Absatz 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes so zu än-
dern, dass sich Personen ihren studienbedingten Aufenthalt bei der Bean-
tragung einer Niederlassungserlaubnis bzw. bei einem Antrag auf Einbür-
gerung vollständig anrechnen lassen können;

7. Arbeitserlaubnis für Geduldete und subsidiär Geschützte

a) jugendliche Geduldete mit deutschem Schulabschluss von der Regelung
des § 11 der Beschäftigungsverfahrensverordnung zu befreien, damit sie
eine berufliche Ausbildung bzw. eine Beschäftigung aufnehmen können;

b) im Aufenthaltsgesetz eine stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung zu
verankern (wie in Bundestagsdrucksachen 17/7463 und 17/7933 vorge-
schlagen), um die Erwerbsmöglichkeiten Geduldeter zu verbessern und
die sozialen Sicherungssysteme zu entlasten;

c) zur richtigen Umsetzung von Artikel 26 Absatz 3 der Richtlinie 2004/83/
EG (Qualifikationsrichtlinie) subsidiär Geschützten die Ausübung der
Erwerbstätigkeit durch Änderung des § 25 Absatz 3 AufenthG zu gestat-
ten;

8. Familiennachzug

a) die Nachweispflicht von Deutschkenntnissen vor der Einreise beim Ehe-
gattennachzug aufzuheben (vgl. Bundestagsdrucksache 17/1626). Dies
entspricht bereits der geltenden Gesetzeslage für die Ehegatten von
Hochqualifizierten, Forschern und Selbständigen;

b) einen Anspruch auf Ehegattennachzug auch bei Arbeitsaufenthalten unter
einem Jahr zu gewähren sowie unabhängig davon, ob die Ehe vor oder
nach Einwanderung der/des Stammberechtigten geschlossen wurde (§ 32
Absatz 1 Buchstabe d und e AufenthG);

c) Ehegatten sowie Lebenspartnerinnen und Lebenspartnern von Studieren-
den die sofortige Erlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung einzuräu-
men;

d) § 3 der Beschäftigtenverfahrensverordnung dahin gehend zu erweitern,
dass nicht nur die Ehegatten bestimmter Fachkräfte, sondern die Ehegat-
ten sowie Lebenspartnerinnen und Lebenspartner aller Fachkräfte eine
Beschäftigung ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit ausüben
dürfen;

e) minderjährigen Kindern einen Anspruch auf Nachzug unabhängig von
Deutschkenntnissen oder einer positiven Integrationsprognose einzuräu-
men, und zwar auch dann, wenn sie einem alleinerziehenden, aber nicht
allein personensorgeberechtigten Elternteil nachziehen wollen;

9. Regelungen gemäß den §§ 113, 114 SGB VI so zu erweitern, dass allen Per-
sonen, die in Deutschland Rentenansprüche erworben haben, die Rentenan-
sprüche bei einem späteren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland in voller
Höhe erhalten bleiben, und zwar unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel und
ihrer Staatsangehörigkeit.

Berlin, den 25. April 2012
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9437

Begründung

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung folgt einer inzwischen überholten
Politik, die den in § 1 AufenthG enthaltenen Grundsatz der Begrenzung der
Einwanderung in den Vordergrund stellt. Anstatt die Systematik des Aufent-
halts- und Arbeitsgenehmigungsrechts grundlegend zu ändern, beschränkt sich
die Bundesregierung darauf, weitere Ausnahmen zum geltenden restriktiven
Einwanderungsrecht einzuführen. Die Vielzahl der bestehenden Zugangsvor-
aussetzungen – mit jeweils unterschiedlichen Bedingungen und Rechtsfolgen –
ist nicht nur für die potentiellen Einwanderinnen und Einwanderer, sondern
auch für mittlere und kleinere Betriebe kaum nachvollziehbar. Die Unüber-
sichtlichkeit der Regelungen stellt daher faktisch ein wesentliches Hinderns für
die Einwanderung dar.

Das Gesetz zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen
Union darf erstens nicht zur Verschlechterung der Rechtslage führen. Zweitens
sollte es die in der Richtlinie enthaltenen Verbesserungsmöglichkeiten umset-
zen, um den Zuzug auch von erfahrenen Fachkräften ohne Hochschulabschluss
zu ermöglichen– dies entspricht auch dem Anliegen des Bundesrates. Schließ-
lich darf die Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie nicht zu Diskrimi-
nierungen im nationalen Recht führen.

Die Vorschläge zur Verbesserung der Aufenthaltsbedingungen bzw. zur verbes-
serten Aufenthaltsverfestigung für internationale Studierende entsprechen den
Forderungen des Abschlussberichts der unabhängigen und parteiübergreifen-
den Hochrangigen Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung vom
Dezember 2011.

Der Vorschlag zur systematischen Vereinfachung und Entbürokratisierung des
Aufenthaltsgesetzes bzw. der Beschäftigungs- und der Beschäftigungsverfah-
rensverordnung war ebenfalls Kernanliegen der o. g. Konsensgruppe.

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