BT-Drucksache 17/9393

Pflege tatsächlich neu ausrichten - Ein Leben in Würde ermöglichen

Vom 24. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9393
17. Wahlperiode 24. 04. 2012

Antrag
der Abgeordneten Kathrin Senger-Schäfer, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Dr. Rosemarie Hein,
Katja Kipping, Jutta Krellmann, Katrin Kunert, Sabine Leidig, Cornelia Möhring,
Yvonne Ploetz, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert, Sabine Stüber, Dr. Kirsten
Tackmann, Kathrin Vogler, Harald Weinberg und der Fraktion DIE LINKE.

Pflege tatsächlich neu ausrichten – Ein Leben in Würde ermöglichen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Eine inklusive Gesellschaft ist das Leitbild der UN-Konvention über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen, die seit dem 26. März 2009 in Deutschland
gilt. Ziel der Konvention ist die volle und gleichberechtigte Teilhabe aller Men-
schen, mit oder ohne Beeinträchtigung. Auch Menschen mit Pflege- und/oder
Assistenzbedarf stehen unter dem Schutz der UN-Konvention.

Eine grundlegende und umfassende Reform der Pflegeversicherung mit dem
Ziel, volle gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung zu gewährleisten,
ist längst überfällig. Pflege und Assistenz müssen sich künftig individuell an
der Situation des betroffenen Menschen ausrichten: Alte Menschen bedürfen
einer anderen Pflege als Kinder, Frauen einer anderen als Männer. Menschen
mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz sind auf eine engmaschige
Betreuung und/oder Begleitung angewiesen. Pflege und Assistenz müssen kul-
tur- und geschlechtersensibel ausgestaltet werden.

Für eine wirkliche Neuausrichtung ist ein neues Verständnis von Pflege und/
oder Betreuung erforderlich. Der derzeitige enge, verrichtungsbezogene Pflege-
begriff, welcher der Pflegeversicherung zu Grunde liegt, ist zu überwinden. Der
geltende Pflegebegriff wird weder pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen
noch den Alltagserfordernissen der Betroffenen (und ihrer Angehörigen) ge-
recht. Er bezieht sich einseitig auf die alltäglichen „Verrichtungen“; der allge-
meine Bedarf an Beaufsichtigung und Betreuung sowie die Kommunikation
werden nicht berücksichtigt. Pflege muss sich an den Menschen in ihrer jewei-
ligen Gesamtheit und damit am Grad ihrer individuellen Selbstständigkeit und
individuellen Ressourcen orientieren und nicht an ihren jeweiligen Defiziten
sowie am Zeitfaktor der alltäglichen Verrichtungen.

Der Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs legte Anfang 2009

einen Vorschlag vor, der geeignet ist, diesen Paradigmenwechsel in der Pflege
vorzunehmen. Doch passiert ist seitdem nichts, um die daraus resultierende
„Pflege im Minutentakt“ endlich zu überwinden. Zur Umsetzung ist entschlos-
senes Regierungshandeln erforderlich, damit nicht noch mehr Zeit verloren
geht. Stückwerk und minimale Verbesserungen reichen nicht aus.

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Es ist höchste Zeit, die soziale Pflegeversicherung hin zu einer solidarischen,
bedarfsorientierten und umfassenden Absicherung des Pflegerisikos weiterzu-
entwickeln. Von Anfang an war die Pflegeversicherung nur als „Teilkaskover-
sicherung“ konzipiert. Sie billigt pflegebedürftigen Menschen nur einen Zu-
schuss zu den Pflegekosten zu, der insbesondere dazu dient, die familiäre,
nachbarschaftliche oder ehrenamtliche Pflege zu ergänzen. Um den individuel-
len Pflege- und Betreuungsbedarf abzudecken, müssen die Betroffenen und
ihre Angehörigen auf ihr Einkommen und Vermögen zurückgreifen. Doch Vie-
len ist das nicht möglich. Immer mehr pflegebedürftige Menschen werden von
der Sozialhilfe oder von der Unterstützung durch ihre Angehörigen abhängig.
Gerade die Überwindung der Sozialhilfebedürftigkeit war das erklärte Ziel der
Einführung der Pflegeversicherung 1995. Verschärft wird der „Teilkasko-
charakter“ der Pflegeversicherung dadurch, dass seither der Realwertverlust der
Pflegeleistungen nur ungenügend ausgeglichen wurde. Die Pflegeversicherung
ist chronisch unterfinanziert. Aus dieser Situation ergeben sich vielschichtige
Probleme.

Überforderung und Überlastung der pflegenden Angehörigen sind programmiert.
Zumeist sind es Frauen – Mütter, (Schwieger-)Töchter oder Ehe- und Lebens-
partnerinnen –, die die Pflege unentgeltlich und unter großen Belastungen über-
nehmen. Doch häusliche Pflege bedeutet nicht, dass pflegebedürftige Menschen
automatisch von ihren Angehörigen gepflegt werden wollen. Hinzu kommt: Die
Fähigkeit oder Bereitschaft, Angehörige mit Pflegebedarf zu versorgen, wird
zunehmend durch Veränderungen der Familienstruktur, des Familienbildes, der
Erwerbsbiographien von Frauen und den Anforderungen der Arbeitswelt ein-
geschränkt. Ein Trend zur professionellen Pflege ist bereits jetzt zu konstatieren.
Doch die Bundesregierung zieht die kostenintensive Entlastung der familiären
Pflege durch professionelle Pflegekräfte nicht in Betracht.

Angehörige versuchen, die Lücke zwischen tatsächlichem Bedarf und den real
verfügbaren und bezahlbaren Pflegefachkräften und Betreuungskräften zu
schließen, indem sie Migrantinnen und Migranten – meist aus Osteuropa – für
die häusliche Versorgung rekrutieren und beschäftigen. Dieser Weg ist nicht
geeignet, die Versorgungsprobleme zu lösen. Meist als Haushaltshilfen beschäf-
tigt, treffen die Migrantinnen und Migranten auf komplexe Anforderungen und
undurchsichtige rechtliche Arrangements. Arbeitsschutz und menschenwürdige
Beschäftigungsbedingungen bleiben auf der Strecke. Entstanden ist ein „grauer
Pflegemarkt“, in dem private Leistungsanbieter und Vermittler/-innen aus der
Not der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen ebenso Profit schlagen wie
von der Not in den Herkunftsländern der „Haushaltshilfen“.

Die Leistungen der Pflegeabsicherung sind so auszugestalten, dass es allen
Menschen tatsächlich ermöglicht wird, selbstbestimmt zu entscheiden, ob sie
ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflege- oder Assistenzleistungen in An-
spruch nehmen wollen. Gute Pflege darf nicht von den eigenen finanziellen
Möglichkeiten abhängig sein. Damit eine solche Neuausrichtung gelingt, muss
das Leistungsniveau der Pflegeversicherung deutlich angehoben werden. Das
eröffnet die Möglichkeit, in der häuslichen Umgebung bedarfsgerecht gepflegt
zu werden und stärker auf professionelle Pflege zurückzugreifen.

Der Alltag von Pflegekräften ist von Arbeitsverdichtung, starren Zeitvorgaben
und schlechter Bezahlung geprägt. Darunter leiden alle Beteiligten: das Pflege-
personal und die zu pflegenden Menschen sowie deren Angehörige. Pflege ist
eine schwere und anspruchsvolle Arbeit, die gesellschaftlich anerkannt werden
muss. Für eine qualitativ hochwertige Pflege brauchen wir dringend mehr qua-
lifizierte Pflegekräfte, bessere Arbeitsbedingungen und eine höhere Bezahlung
der Pflege(-fach)kräfte. Die Pflegeberufe und deren Berufsausbildung müssen

insgesamt attraktiver werden. Nur so kann auch dem sich bereits abzeichnen-
den Fachkräftemangel entgegengewirkt werden.

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Damit die Pflegeabsicherung zukunftssicher wird, sind die wirklichen Ursachen
der Probleme zu beseitigen. Die Umlagefinanzierung hat sich bewährt. Das
Hauptproblem bei der Finanzierung liegt in den Umbrüchen der Erwerbsarbeit:
Zunehmende Erwerbslosigkeit und gebrochene Erwerbsbiographien, ein sich
ausweitender Niedriglohnsektor und ausbleibende Lohnzuwächse haben gerin-
gere Einnahmen der beitragsfinanzierten Pflegeversicherung zur Folge. Zu-
gleich wächst die Bedeutung anderer Einkommensarten. Auf die relativ schnell
wachsenden Kapitalerträge müssen bislang fast keine Beiträge gezahlt werden.
Mit der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege ließen
sich die Probleme lösen und die Finanzierung sozial gerecht und zukunftsfest
gestalten.

Keine Lösung bietet eine kapitalgedeckte private Zusatzversicherung. Die
anvisierte Pflegezusatzversicherung im Rahmen der Riesterförderung wäre
jeder politischen Kontrolle entzogen und der Kapitalstock den Risiken der
Finanzmärkte ausgesetzt. Begründet wird der Einstieg in die Kapitaldeckung
mit der demographischen Entwicklung. Richtig ist: Es gibt immer mehr ältere
Menschen. Falsch ist, daraus zu schließen, dass die Pflege- und Assistenz-
bedarfe im gleichen Umfang zunehmen müssen. Mit der gestiegenen Lebens-
erwartung geht auch eine Verbesserung des Gesundheitszustands älterer Men-
schen einher. Das Risiko, pflegebedürftig zu werden, sinkt in den jeweiligen
Alterskohorten. Das bedeutet, Menschen werden gesund älter und später
pflegebedürftig. Ein besonderes Augenmerk sollte vielmehr auf die Auswir-
kungen sozialer Ungleichheit gelegt werden. Personen mit niedrigem Sozial-
status sterben in der Regel nicht nur früher als Personen mit hohem Sozial-
status, sie werden auch deutlich eher pflegebedürftig.

Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege würde für
soziale Gerechtigkeit und eine stabil finanzierte Pflegeabsicherung sorgen. Mit
einer wissenschaftlichen Studie* konnte nachgewiesen werden, dass der Bei-
tragssatz trotz eingerechnetem Ausgleich des Realwertverlusts und einer sofor-
tigen Erhöhung der Sachleistungen um 25 Prozent dauerhaft unter 2 Prozent
gehalten werden kann. Finanzielle Sicherheit und die Grundlage für eine wei-
terreichende Pflegereform sind also nachweislich solidarisch gerecht zu errei-
chen.

Mit einer solchen Reform wird der finanzielle Spielraum dafür geschaffen, die
großen Herausforderungen auf der Leistungsseite zu bewältigen und die Pflege-
absicherung zukunftsfest zu machen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Gesundheitsförderung und nichtmedi-
zinische Primärprävention mittels eines Präventionsgesetzes umfassend
stärkt, um das Risiko von Pflegebedürftigkeit zu verringern und die Gesund-
heit der Pflegebedürftigen zu stärken. Gesundheitsförderung und nichtmedi-
zinische Primärprävention müssen in erster Linie darauf zielen, die sozial
bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen zu verringern (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 17/6304). Ebenso sind Sekundärprävention und Rehabilita-
tion so auszuweiten, dass sie ihrem Ziel der Verbesserung oder Wiederher-
stellung der Gesundheit in vollem Umfang gerecht werden;

* Bartsch, Klaus (2011): Eine Simulationsstudie zu den [kurz-, mittel- und langfristigen] Entwicklungen
der Beitragssätze zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung [nach dem Konzept einer solida-

rischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag]. Gutachten im
Auftrag der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, Neuendorf, August 2011.

Drucksache 17/9393 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. unverzüglich einen Gesetzentwurf für eine grundlegende Reform der Pflege-
absicherung vorzulegen, der mindestens die nachfolgend genannten Punkte
umfasst:

a) Selbstbestimmung und Teilhabe in der Pflege gewährleisten

Für eine Teilhabe ermöglichende, selbstbestimmte und ganzheitliche Pflege
ist der Vorschlag für einen neuen Pflegebegriff des Beirats zur Überprüfung
des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vom Januar 2009 zügig gesetzlich zu ver-
ankern und umzusetzen. Gleichzeitig ist ein neues, praxistaugliches Begut-
achtungsverfahren einzuführen.

Der neue Pflegebegriff und das neue Begutachtungsverfahren müssen kör-
perliche Beeinträchtigungen ebenso wie kognitive und/oder psychische Ein-
schränkungen umfassen ohne die Defizitorientierung beizubehalten. Viel-
mehr müssen selbstbestimmte Teilhabeermöglichung und Alltagskompetenz
im Vordergrund stehen. Ebenso muss das neue Begutachtungsverfahren eine
Methode zur Bestimmung der Pflegebedürftigkeit von Kindern und Jugend-
lichen enthalten. Rehabilitations-, Präventions- und Hilfsmittelbedarfe müs-
sen von der neuen Bedarfsermittlung ableitbar sein.

Die Wahlmöglichkeit von geschlechtergleicher Pflege/Assistenz und einer
kultursensiblen Pflege/Assistenz ist zu gewährleisten.

b) Leistungen der Pflegeversicherung deutlich anheben

Eine Neuausrichtung der Pflegeabsicherung in Richtung Selbstbestimmung
und Teilhabe gelingt nur, wenn das Leistungsniveau deutlich angehoben
wird. Als Sofortmaßnahme sind der Realwertverlust der Pflegeleistungen
vollständig auszugleichen und die Sachleistungsbeträge für die ambulante,
teilstationäre und stationäre Pflege je Kalendermonat um weitere 25 Prozent
zu erhöhen. Damit die Leistungen ihren Wert erhalten, sind sie jährlich
regelgebunden zu dynamisieren. Perspektivisch sind die Leistungen am
individuellen Bedarf zu orientieren.

Mit der Einführung eines neuen Begutachtungsverfahrens ist auch das starre
Pflegestufenmodell zu überwinden.

Menschen, die bereits Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, dürfen
dadurch finanziell nicht schlechtergestellt werden.

c) Angehörige entlasten

Die Rahmenbedingungen für Angehörige und Ehrenamtliche sind zu verbes-
sern:

Es ist eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige einzuführen,
die der Organisation der Pflege und der ersten pflegerischen Versorgung von
Angehörigen oder nahestehenden Personen dient. Für Personen, die die
Pflege dauerhaft übernehmen wollen, sind Teilzeitvereinbarungen und
flexible Arbeitszeitregelungen zu ermöglichen (vgl. Bundestagsdrucksache
17/1754).

Die notwendige Infrastruktur ist weiter auszubauen, um eine professionelle,
unabhängige und wohnortnahe Beratung, Anleitung, Betreuung und Super-
vision auf hohem Niveau flächendeckend sicherzustellen.

Alternative Wohn- und Versorgungsformen sind weiter auszubauen. Es ist
darauf hinzuwirken, dass hierfür in angemessenem Umfang finanzielle Mit-
tel zur Verfügung stehen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9393

Die deutliche Anhebung der Leistungen der Pflegeversicherung eröffnet die
Möglichkeit, in der häuslichen Umgebung gepflegt zu werden und stärker
auf ambulante Dienste zurückgreifen zu können.

Die Rentenversicherungsbeiträge für Zeiten der Pflege von Angehörigen
sind zu verbessern, damit die oft langjährige Pflege nicht zu Rentenlücken
und Altersarmut führt.

d) Pflege attraktiver gestalten – Pflegeberufe anerkennen

Die Tätigkeit von Pflegekräften ist gesellschaftlich deutlicher anzuerkennen.
Die Anhebung des Leistungsniveaus der Pflegeabsicherung eröffnet den
finanziellen Spielraum, Pflegekräfte besser zu bezahlen. Damit Lohn-
dumping in der Pflege verhindert wird, ist als unterste Grenze ein flächen-
deckender gesetzlicher Mindestlohn von 10 Euro einzuführen.

Gute Pflege hängt entscheidend vom Personal ab. In den ambulanten und
stationären Einrichtungen ist daher eine ausreichende Ausstattung mit quali-
fiziertem Personal zu gewährleisten. Zur Sicherung der Qualität in der
Pflege ist ein bundesweit anzustrebender Standard über eine qualitätsbezo-
gene Personalbemessung zu entwickeln. Bis dahin hat die Bundesregierung
gemeinsam mit den Ländern zu erreichen, dass mindestens die Hälfte des
Personals aus Fachkräften besteht.

Die Pflegeausbildung ist zeitgemäß weiterzuentwickeln, um den Ansprüchen
an eine qualitativ hochwertige Versorgung gerecht zu werden und den Hand-
lungsradius der Pflegeberufe zu erweitern. Dazu ist die Integration der
Pflegeberufe zu einer dreijährigen dualen Ausbildung mit einer zweijährigen
einheitlichen Grundausbildung und einer anschließenden einjährigen Schwer-
punktsetzung in allgemeiner Pflege, Kinderkrankenpflege oder Altenpflege
mit gleichwertigen Abschlüssen vorzusehen. Der Zugang zu den Pflege-
berufen soll auch künftig über eine dreijährige Berufsausbildung erfolgen.
Die Durchlässigkeit zwischen den Pflegeberufen und innerhalb des Bil-
dungssystems muss gegeben sein. Der Zugang zu einschlägigen Hochschul-
studiengängen in Pflegewissenschaften, Pflegemanagement oder Lehramt ist
ohne zusätzliche Hochschulzugangsberechtigung auf der Grundlage einer
dreijährigen Ausbildung zu ermöglichen. Hierfür ist eine enge Abstimmung
mit den Bundesländern zu suchen. Daneben ist die Anrechnung erworbener
Qualifikationen und Berufserfahrungen auf weitergehende Qualifizierung
sicherzustellen.

Die integrierte Pflegeausbildung bietet eine breite Basisqualifikation. Die
Vertiefung und Differenzierung bspw. in psychiatrischer Pflege, Geriatrie
oder Familiengesundheitspflege erfolgt in Form von Weiterbildung oder in
Pflegestudiengängen. Weiterbildungsabschlüsse sollten standardisiert und
bundeseinheitlich geregelt werden.

Für eine gerechtere Ausbildungsfinanzierung ist ein Umlageverfahren zur
Einrichtung eines Ausbildungsfonds einzuführen. Da alle Pflegeeinrichtun-
gen prinzipiell von der Ausbildung profitieren, zahlen sie in diesen Fonds
ein. Wer ausbildet erhält hieraus Unterstützung. So wird eine solidarische
Finanzierung der Ausbildung ermöglicht, zu der alle Pflegeeinrichtungen
nach ihren Möglichkeiten beitragen. Die Bundesregierung soll sich gegen-
über den Ländern dafür einsetzen, dass die Zahl der Ausbildungsplätze
erhöht wird, um allen Bewerberinnen und Bewerbern einen Zugang zur
Pflegeausbildung zu ermöglichen, sowie Schulgelder, Studiengebühren und
Prüfungsgebühren abzuschaffen. Letztlich ist nur so der Bedarf an Pflege-
kräften für zukünftige Herausforderungen zu decken.
Die Förderung des dritten Umschulungsjahres durch die Bundesagentur für
Arbeit ist fortzusetzen, da die Vollfinanzierung der dreijährigen Umschulung

Drucksache 17/9393 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

zur Altenpflegerin/zum Altenpfleger in den Jahren 2009/2010 erfolgreich
war und einen Beitrag dazu leisten kann, dem sich abzeichnenden Fach-
kräftemangel entgegenzuwirken.

e) Gerechte und stabile Finanzierung

Eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung ist einzuführen, um
langfristig die solidarische Finanzierung der Pflegeabsicherung zu gewähr-
leisten und bestehende Gerechtigkeitsdefizite zu beseitigen (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 17/7197). Finanziell starke Schultern müssen mehr tragen.
Alle anderen werden entlastet.

Die Versicherten zahlen nach ihrer individuellen finanziellen Leistungs-
fähigkeit in die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung ein.
Grundsätzlich werden alle Einkommen aus unselbständiger und selbständi-
ger Arbeit sowie alle sonstigen Einkommensarten wie Kapital-, Miet- und
Pachterträge bei der Bemessung des Beitrags zu Grunde gelegt. Kapital-
erträge und Zinsen bis zum Sparerpauschbetrag bleiben beitragsfrei. Die
Beitragsbemessungsgrenze ist perspektivisch abzuschaffen.

Alle Menschen, die in Deutschland leben, werden Mitglied der solidarischen
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Die private Pflegeversicherung wird
auf Zusatzleistungen beschränkt.

Bei Einkommen aus Löhnen und Gehältern hat der Arbeitgeber die Hälfte
der Beiträge zu zahlen. Der zur Entlastung der Arbeitgeber bei der Einfüh-
rung der Pflegeversicherung abgeschaffte Feiertag wird wieder eingeführt
oder eine andere Maßnahme ergriffen, welche die Parität zwischen Beschäf-
tigten und Arbeitgebern tatsächlich herstellt. Für Sachsen ist aufgrund der
Beibehaltung des Buß- und Bettages eine Sonderregelung vorzusehen. Rent-
nerinnen und Rentner zahlen in der Pflegeversicherung künftig nur den hal-
ben Beitragssatz; die andere Hälfte wird aus der Rentenversicherung be-
glichen.

Berlin, den 24. April 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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