BT-Drucksache 17/9287

Psychische Belastungen in der Arbeitswelt

Vom 5. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9287
17. Wahlperiode 05. 04. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Dr. Martina Bunge,
Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Katja Kipping, Dr. Ilja Seifert,
Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich und
der Fraktion DIE LINKE.

Psychische Belastungen in der Arbeitswelt

Derzeit häufen sich die Meldungen über die Zunahme von psychischen Belas-
tungen in der Arbeitswelt. Stress, Arbeitsverdichtung, Leistungsdruck, aber
auch Angst vor Arbeitslosigkeit, finanzielle Unsicherheiten aufgrund niedriger
Löhne und prekärer Beschäftigungsformen gehören für viele Beschäftigte
leider zum Arbeitsalltag.

Im Jahr 2010 belegten Depressionen erstmals den Spitzenplatz bei den Fehl-
tagen (vgl. Techniker Krankenkasse: Gesundheitsreport 2011). Die Zahl der
Menschen, die wegen psychischer Störungen ins Krankenhaus mussten, hat in
den vergangenen 20 Jahren um 129 Prozent zugenommen (BARMER GEK: Re-
port Krankenhaus 2011). Im Jahr 2010 war nahezu jeder zehnte Ausfalltag auf
eine psychische Erkrankung zurückzuführen (Analyse des Wissenschaftlichen
Instituts der AOK). Zunehmend wird die Diagnose Burnout gestellt. Zwischen
2004 und 2010 sind die Krankheitstage wegen Burnout nahezu um das 9-Fache
angestiegen (ebenfalls Wissenschaftliches Institut der AOK). Dies macht sich
auch bei den Erwerbsminderungsrenten bemerkbar: Der Präsident der Deut-
schen Rentenversicherung Bund, Dr. Herbert Rische, weist darauf hin, dass
psychische Störungen mit rund 40 Prozent der Fälle die häufigste Diagnose-
gruppe bei verminderter Erwerbsfähigkeit sind (Hamburger Abendblatt vom
5. August 2011).

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat aktuell Ergebnisse einer Umfrage
unter Beschäftigten präsentiert, die ebenso als alarmierend zu bezeichnen sind
(DGB-Index Gute Arbeit: Arbeitshetze, Arbeitsintensivierung, Entgrenzung,
März 2012). Demnach fühlen sich 52 Prozent der Befragten einer Arbeitshetze
ausgesetzt. Bei Frauen liegt der Anteil sogar bei 58 Prozent. Rund 63 Prozent der
Befragten geben an, dass sie seit Jahren immer mehr in der gleichen Zeit leisten
müssen. Dies bestätigt einen Prozess von Arbeitsverdichtung und die Zunahme
von Leistungsdruck. Ein weiteres Ergebnis der Umfrage besagt, dass zwei
Drittel der Beschäftigten Überstunden leisten. Jede und jeder Fünfte sogar mehr
als zehn Überstunden pro Woche. Auch dies ist ein Hinweis auf die Zunahme

von arbeitsbedingtem Stress. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass eine
Entgrenzung von Arbeit zu beobachten ist. Viele Beschäftigte arbeiten häufig in
der Freizeit (15 Prozent), noch mehr müssen oft in der Freizeit erreichbar sein
(27 Prozent).

Derzeit ist in Deutschland die nach dem Arbeitsschutzgesetz vorgesehene Ge-
fährdungsbeurteilung eines der wenigen gesetzlichen Instrumente, auf das be-

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triebliche Arbeitsschutzakteure zur Reduzierung von psychischen Belastungen
zurückgreifen können. Im Gegensatz zu anderen Gefährdungsbereichen gibt es
allerdings keine eigene Verordnung für den Bereich psychische Belastungen.
Daher identifiziert insbesondere die IG Metall hier eine Regelungslücke und
hat die Notwendigkeit einer Anti-Stress-Verordnung in die Debatte gebracht.
Nach Ansicht der IG Metall verursacht das Regelungsdefizit ein Handlungs-
defizit, das wiederum ein Schutzdefizit für die Beschäftigten bedeutet. Das
Thema „Schutz vor psychischen Gefährdungen“ ist zudem eines der drei zen-
tralen Ziele der nächsten Periode der „Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutz-
strategie“ (GDA) ab 2013.

Auf europäischer Ebene gibt es eine Sozialpartnervereinbarung zu Stress am
Arbeitsplatz. Im Evaluierungsbericht der EU-Kommission über die Wirkung
dieser Vereinbarung (Report on the implementation oft the European social
partners‘ Framework agreement on Work-related Stress, 24. Februar 2011)
wird für Deutschland konstatiert, dass kaum gemeinsame Aktivitäten der So-
zialpartner zustande kamen. Auch der Gesetzgeber ist im Gegensatz zu anderen
EU-Ländern hier nicht aktiv geworden. In 13 Mitgliedstaaten der Europäischen
Union hat es dagegen infolge der Rahmenvereinbarung gesetzliche Regelungen
zur Reduzierung von arbeitsbedingtem Stress gegeben.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche gesetzlichen oder untergesetzlichen Vorgaben gibt es derzeit in
Deutschland, um psychische Belastungen bei der Arbeit zu reduzieren?

2. Welche Instrumente gibt es für die betrieblichen Akteure im Bereich Ar-
beitsschutz derzeit, um psychische Belastungen zu reduzieren?

Welche Instrumente stehen insbesondere den Betriebsräten und den Fach-
kräften für Arbeitsschutz zur Verfügung?

Wie bewertet die Bundesregierung den Wirkungsgrad der bestehenden In-
strumente?

3. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Aktivitäten der be-
trieblichen Akteure zur Reduzierung psychischer Belastungen?

Hält sie diese Aktivitäten für ausreichend, um der Problematik gerecht zu
werden, und schätzt sie die den betrieblichen Akteuren zur Verfügung ste-
henden Instrumente als hinreichend ein?

4. Wie viele krankheitsbedingte Ausfalltage von Beschäftigten sind seit dem
Jahr 2000 pro Jahr auf psychische Erkrankungen zurückzuführen (bitte nach
Geschlecht, Alter und Berufsgruppen differenzieren)?

In wie vielen Fällen sind psychische Belastungen bei der Arbeit ursächlich
(bitte nach Geschlecht, Alter, Branchen und Berufsgruppen differenzieren)?

5. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung bezüglich der Anwesen-
heit am Arbeitsplatz trotz Krankheit (Präsentismus) vor?

Welche Bedeutung hat dieser Präsentismus für die Gesundheit der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer und die Produktivität des Unternehmens?

6. Was wird die Bundesregierung unternehmen, um Präsentismus entgegenzu-
wirken?

7. Wie viele Fälle von anerkannten Erwerbsminderungen sind seit dem Jahr
2000 pro Jahr auf psychische Erkrankungen zurückzuführen (bitte nach Ge-
schlecht und Alter differenzieren)?

In wie vielen dieser Fälle sind psychische Belastungen bei der Arbeit

ursächlich (bitte nach Geschlecht und Alter differenzieren)?

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8. Wie viele Fälle von anerkannten Erwerbsminderungen aufgrund körperlicher
und psychischer Erkrankungen durch Belastungen am Arbeitsplatz beinhal-
ten eine dauerhafte Schwerbehinderung (Grad der Behinderung von 50)?

9. Wie viele Fälle von anerkannten Erwerbsminderungen aufgrund körper-
licher oder psychischer Erkrankungen sind seit dem Jahr 2000 pro Jahr auf
Belastungen am Arbeitsplatz zurückzuführen (bitte nach Geschlecht und
Alter differenzieren)?

10. Welche psychischen Erkrankungen sind als Berufskrankheit anerkannt?

Wie viele Fälle solcher Berufskrankheiten sind seit dem Jahr 2000 aner-
kannt (bitte nach Geschlecht und Alter differenzieren)?

11. Inwieweit sind in der Berufskrankheiten-Verordnung körperliche oder
psychische Erkrankungen enthalten, die durch Belastungen am Arbeits-
platz bedingt sind?

Wie viele Fälle solcher Berufskrankheiten sind seit dem Jahr 2000 aner-
kannt (bitte nach Geschlecht, Alter, Branchen und Berufsgruppen differen-
zieren)?

12. Wie hoch sind die gesamtgesellschaftlichen Kosten, die durch psychische
Belastungen bei der Arbeit verursacht werden (krankheitsbedingte Fehlzei-
ten, Behandlungskosten, Erwerbsminderungsrenten etc.)?

13. In wie vielen Betrieben werden Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt
(bitte für die Jahre 2000 bis 2011 einzeln aufführen und sowohl prozen-
tuale als auch absolute Zahlen nennen)?

Wie viele dieser Gefährdungsbeurteilungen berücksichtigen psychische
Belastungen (bitte ebenfalls für die Jahre 2000 bis 2011 einzeln aufführen
und sowohl prozentuale als auch absolute Zahlen nennen)?

14. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, in wie vielen Fällen
die Erfassung von psychischen Belastungen in Gefährdungsbeurteilungen
zu konkreten Verbesserungsmaßnahmen geführt hat?

Welche dieser Maßnahmen sieht sie als beispielgebend an?

15. In wie vielen Betrieben werden Maßnahmen zur Reduzierung von psychi-
schen Belastungen ergriffen (falls möglich bitte nach Betriebsgrößenklas-
sen differenzieren sowie absolute und prozentuale Zahlen nennen)?

16. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Zunahme von
arbeitsbedingtem Stress und psychischen Belastungen bei der Arbeit?

17. Welche Ursachen sieht die Bundesregierung als zentral für die Zunahme
von psychischen Belastungen bei der Arbeit und für die Zunahme von
arbeitsbedingtem Stress an?

18. Welche psychosozialen Gefährdungsfaktoren bei der Arbeit sind aus Sicht
der Bundesregierung maßgeblich für die Zunahme von psychischen Belas-
tungen verantwortlich?

19. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über den Prozess der Ar-
beitsverdichtung und die daraus resultierenden psychischen Belastungen
vor?

20. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die psychischen Belas-
tungen, die unsichere und prekäre Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit,
Werkvertragsarbeit, Minijobs oder befristete Beschäftigung bei den Betrof-
fenen hervorrufen?

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21. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die Zunahme von
Leistungsdruck und die daraus resultierenden psychischen Belastungen
vor?

22. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den Prozess der Ent-
grenzung von Arbeit und die daraus resultierenden psychischen Belastun-
gen?

Wie haben sich in den vergangen zehn Jahren die Erreichbarkeitsanforde-
rungen an die Beschäftigten außerhalb ihrer regulären Arbeitszeit entwi-
ckelt?

Wie hat sich in den vergangenen Jahren das Ausmaß von arbeitsbezogenen
Tätigkeiten außerhalb der regulären Arbeitszeit entwickelt?

23. Welche weiteren Ursachen sind für die Bundesregierung für die Zunahme
psychischer Belastungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern rele-
vant?

24. Welche Branchen und welche Tätigkeiten sind besonders von psychischen
Belastungen und arbeitsbedingtem Stress betroffen?

25. Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse des DGB-Index Gute
Arbeit „Arbeitshetze, Arbeitsintensivierung, Entgrenzung“?

Welche Schlussfolgerungen zieht sie aus den Ergebnissen?

26. Wie bewertet die Bundesregierung die Einschätzung der IG Metall, dass im
Bereich psychischer Belastungen in Deutschland eine Regelungslücke be-
stehe, die in Ergänzung zum Arbeitsschutzgesetz durch eine „Anti-Stress-
Verordnung“ geschlossen werden müsse?

27. Welche Schritte plant die Bundesregierung konkret, um psychische Belas-
tungen bei der Arbeit und arbeitsbedingten Stress zu reduzieren?

28. Sieht die Bundesregierung gesetzlichen oder untergesetzlichen Handlungs-
bedarf, um psychische Belastungen bei der Arbeit zu reduzieren?

29. Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse der ESENER-Studie
(European Survey of Enterprises on New and Emerging Risks 2009), der
zufolge die Unternehmen im Bereich des Arbeitsschutzes vor allem dann
tätig werden, wenn gesetzliche Vorgaben sie dazu verpflichten?

Welche Schlussfolgerungen zieht sie hieraus für eigene gesetzgeberische
Maßnahmen?

30. Welche gesetzlichen oder untergesetzlichen Regelungen zur Reduzierung
von psychischen Belastungen sind der Bundesregierung aus anderen euro-
päischen Ländern bekannt?

Welche Schlussfolgerungen zieht sie hieraus für eigene gesetzgeberische
Maßnahmen?

31. Wie hoch waren in den Jahren 2000 bis 2011 die Ausgaben der gesetzli-
chen Krankenkassen für Gesundheitsförderung und Prävention am Arbeits-
platz, und welchen Anteil nahmen daran Maßnahmen, die einen Beitrag zur
Vermeidung psychischer Erkrankungen leisten können?

Wie viele dieser Maßnahmen waren ausschließlich verhaltensbezogen, und
wie viele überwiegend verhältnisbezogen?

32. Wie hoch waren in den Jahren 2000 bis 2011 jeweils die Ausgaben der ge-
setzlichen Unfallversicherung für die Verhütung von Erkrankungen auf-
grund psychischer Belastungen bei der Arbeit?
Welchen Erfolg hatten die durchgeführten Verhütungsmaßnahmen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9287

33. Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse der Studie „Occupatio-
nal health and safety risks for the most vulnerable workers“ herausgegeben
vom Auschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Euro-
päischen Parlaments (www.europarl.europa.eu/document/activities/cont/
201108/20110829ATT25418/20110829ATT25418EN.pdf) bezüglich der
besonderen psychischen Gesundheitsrisiken von Frauen, älteren Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern, Beschäftigte mit Behinderungen, junge
Beschäftigte, Migrantinnen und Migranten, Zeit- und Leiharbeiterinnen
und -arbeiter sowie gering qualifizierte Beschäftigte?

34. Wie bewertet die Bundesregierung die neuen Herausforderungen für das
betriebliche Gesundheitsmanagement durch neue Organisations- und
Managementformen (bekannt als „indirekte Steuerung“ und „interessierte
Selbstgefährdung“)?

Berlin, den 5. April 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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