BT-Drucksache 17/9062

Kampfkraft der Gewerkschaften stärken - Anti-Streik-Paragraphen abschaffen

Vom 21. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9062 (neu)
17. Wahlperiode 18. 04. 2012

Antrag
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus,
Klaus Ernst, Katja Kipping, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert,
Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Kampfkraft der Gewerkschaften stärken – Anti-Streik-Paragraphen abschaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Derzeit finden in der Metall- und Elektroindustrie Tarifauseinandersetzungen
statt. Die IG Metall kämpft im Kern um dringend erforderliche Entgelterhöhun-
gen für die Beschäftigten dieser Branche, für faire Arbeits- und Lebensbedingun-
gen der Leiharbeitsbeschäftigten und für die unbefristete Übernahme von Aus-
zubildenden. Das sind alles wichtige und richtige Ziele. Der sogenannte
Anti- Streik-Paragraph, § 146 (ab 1. April 2012 – neu § 160) des Dritten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB III), verhindert allerdings, dass sich die Tarifvertragspar-
teien auf Augenhöhe begegnen und erschwert es den Gewerkschaften, an einer
sinnvollen Organisation der Arbeitsbeziehungen mitzuwirken. Verhandlungen
finden unter dem Damoklesschwert der „kalten Aussperrung“ statt. Insbesondere
die IG Metall ist vom Anti-Streik-Paragraphen betroffen, da die von ihr organi-
sierten Branchen einen hohen Grad an wirtschaftlicher Verflechtung aufweisen.

Das Recht der Tarifvertragsparteien auf Chancengleichheit kann nur wiederher-
gestellt werden, indem § 146 (neu § 160) SGB III durch den früheren § 116 des
Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) in der Fassung von 1969 ersetzt wird. Dadurch
würden „kalt Ausgesperrte“ wieder Kurzarbeitergeld erhalten, wie es vor der Ge-
setzesänderung im Jahr 1986 der Fall war. Durch den Wegfall der Zahlung von
Kurzarbeitergeld an „kalt Ausgesperrte“ (Aussperrung in nicht umkämpften Be-
trieben aufgrund der Fernwirkung von Streiks oder Aussperrungen) wurde den
Arbeitgebern neben der Aussperrung im Streikgebiet, der „heißen Aussperrung“,
ein weiteres Kampfmittel gegeben, um die Gewerkschaften in ihren Streikmög-
lichkeiten zu beschneiden. Durch die gesetzliche Änderung wurde daher nicht,
wie behauptet, das Neutralitätsgebot der heutigen Bundesagentur für Arbeit
konkretisiert, sondern die Position der Arbeitgeber zu Lasten der Gewerkschaften
gestärkt. Dies muss wieder rückgängig gemacht werden.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

umgehend einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem § 146 (neu § 160) SGB III
den Wortlaut des § 116 AFG in der Fassung von 1969 erhält.

Berlin, den 17. April 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 17/9062 (neu) – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Begründung

1986 änderte die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung nach der Tarifaus-
einandersetzung um die Einführung der 35-Stunden-Woche in der Metall- und
Elektroindustrie den § 116 AFG und machte daraus einen regelrechten Anti-
Streik-Paragraphen. Infolge dieser Änderung erhalten ausgesperrte Beschäftigte
kein Kurzarbeitergeld mehr, wenn streik- und aussperrungsbedingte Produk-
tionsausfälle dazu beitragen, dass in einem nicht umkämpften Betrieb die Arbeit
ebenfalls ruhen muss („kalte Aussperrung“). „Kalte Aussperrungen“ erschwe-
ren es den Gewerkschaften erheblich, einen Arbeitskampf zu führen. Dieser
Anti-Streik-Paragraph wurde später wortgleich als § 146 in das Dritte Buch
Sozialgesetzbuch (SGB III) übernommen.

Gewerkschaften streiken in Tarifauseinandersetzungen, um im Interesse ihrer
Mitglieder Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern. Es ist die einzige
Zeit, in der Beschäftigte die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel über-
nehmen.

Arbeitgeber setzen dem die Aussperrung entgegen: Die Beschäftigten dürfen
nicht arbeiten und die Arbeitgeber zahlen ihnen auch kein Arbeitsentgelt.
„Heiße Aussperrung“ findet im Streikgebiet statt, „kalte Aussperrung“ in Betrie-
ben, die sich nicht im Streikgebiet befinden, aber durch streik- und aussper-
rungsbedingte Produktionsausfälle ihrer Zulieferer die eigene Produktion ruhen
lassen müssen (Fernwirkung). Arbeitgeber haben somit doppelte Durchset-
zungsmöglichkeiten.

„Heiß Ausgesperrte“ erhalten im Gegensatz zu „kalt Ausgesperrten“ Streikgeld
von ihrer Gewerkschaft. Bis zur Einführung des Anti-Streik-Paragraphen haben
„kalt Ausgesperrte“ Kurzarbeitergeld erhalten. Die Gewerkschaften können den
„kalt Ausgesperrten“ kein Streikgeld zahlen. Ihre Streikkassen oblägen der
unternehmerischen Einflussnahme und wären schnell aufgebraucht, täten sie dies.

Die absehbaren Fernwirkungen eines Arbeitskampfes in einem Unternehmen,
dessen Produktion eng mit Zulieferbetrieben verflochten ist, zwingen die Ge-
werkschaften, ihre Arbeitskampfstrategien so auszugestalten, dass „kalte Aus-
sperrung“ weitestgehend verhindert wird. Langanhaltende flächendeckende
Streiks sind in bestimmten Branchen damit kaum noch möglich. Dadurch wird
es schwieriger, in Tarifverhandlungen den nötigen Druck auf die Arbeitgeber
auszuüben. Dieses Problem gewinnt an Gewicht, weil die wirtschaftliche Ver-
flechtung von Unternehmen auch innerhalb einer Branche in den vergangenen
Jahren noch einmal deutlich zugenommen hat.

Der bis zum Jahre 1986 geltende § 116 AFG wurde mit der Absicht geändert,
das Neutralitätsgebot der Bundesanstalt für Arbeit zu präzisieren, nachdem 1984
durch Anweisung des damaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit
Heinrich Franke 372 000 Beschäftigten das Kurzarbeitergeld rechtswidrig ver-
weigert wurde. Im Vergleich dazu befanden sich lediglich rund 57 000 Beschäf-
tigte im Streik und 170 000 waren „heiß ausgesperrt“. Es waren fast zehnmal so
viele Beschäftigte ausgesperrt wie gestreikt haben. Daher wurde mit dem Anti-
Streik-Paragraphen nicht die Neutralität der heutigen Bundesagentur für Arbeit
konkretisiert, sondern den Arbeitgebern ein zusätzliches Kampfmittel an die
Hand gegeben, welches das Recht auf Chancengleichheit der Tarifvertragspar-
teien unterläuft.

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