BT-Drucksache 17/8880

Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen - Arbeitsplätze und Tarifverträge erhalten - Einfluss der Beschäftigten stärken

Vom 6. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8880
17. Wahlperiode 06. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Ulla Lötzer,
Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Sevim Dag˘delen,
Heidrun Dittrich, Werner Dreibus, Klaus Ernst, Nicole Gohlke, Katja Kipping,
Cornelia Möhring, Richard Pitterle, Yvonne Ploetz, Michael Schlecht,
Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Sahra Wagenknecht,
Harald Weinberg, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen – Arbeitsplätze und Tarifverträge erhalten –
Einfluss der Beschäftigten stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag unterstützt gerade und besonders am internationalen
Frauentag den Kampf der mehrheitlich weiblichen Schlecker-Beschäftigten um
ihre Arbeitsplätze. Zehntausende Frauenarbeitsplätze im Dienstleistungssektor
dürfen nicht verschwinden. Der internationale Frauentag steht für die Schle-
cker-Verkäuferinnen unter einem besonderen Vorzeichen. Im Vorfeld des
8. März 1995 wurde nach langem Kampf der erste bundesweite Tarifvertrag im
Unternehmen unterschrieben.

Im Januar 2012 beantragte die Drogeriekette Schlecker die Einleitung eines Plan-
insolvenzverfahrens, das Ende März 2012 eröffnet wird. Betroffen sind über
30 000 Beschäftigte in den Unternehmensteilen „Schlecker AS“, „Schlecker
XL“, „Ihr Platz“ sowie dem Onlinehandel. Nach dem Plan des Insolvenzverwal-
ters sollen bei Schlecker die Hälfte der Läden und Stellen abgebaut werden.
2 400 der 5 400 Schlecker-Filialen sollen geschlossen werden, 11 750 von ins-
gesamt 25 250 Beschäftigten ihren Arbeitsplatz verlieren. Bei der Unterneh-
menstochter „Ihr Platz“ soll ein Fünftel der über 5 000 Jobs gestrichen werden.
Dies ist nicht hinzunehmen. Gemeinsam mit den Beschäftigten, ihrer Gewerk-
schaft und anderen Akteuren ist ein Zukunftskonzept zu entwickeln, mit dem die
Filialen und Arbeitsplätze weitgehend erhalten bleiben.

Angesichts der schlechten Arbeitsmarktlage für Verkäuferinnen sollte der
Gesetzgeber alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreifen, um die
Arbeitsplätze zu erhalten. Dem Gesetzgeber kommt hierbei eine besondere Ver-
antwortung zu. Er hat es der Familie Schlecker aufgrund der geltenden Rechts-
lage über viele Jahre hinweg ermöglicht, mit minimaler Pflicht zur Transparenz

auf patriarchalische Art und Weise das Unternehmen zu führen. Die Bundesre-
gierung darf nicht weiter tatenlos bei der Schlecker-Insolvenz zuschauen und
den Beschäftigten die Unterstützung versagen. Es geht auch darum, eine
flächendeckende und wohnortnahe Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des
täglichen Bedarfs zu gewährleisten. In dünner besiedelten ländlichen Räumen
gibt es immer weniger Einzelhandelsläden.

Drucksache 17/8880 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Zehntausende Verkäuferinnen haben über Jahrzehnte die Firma Schlecker auf-
gebaut. Ihre Arbeit machte die Familie Schlecker reich. So soll Anton Schlecker
im Jahr 2011 ein Vermögen von mehr als 2 Mrd. Euro gehabt haben. Die Suche
danach lohnt sich.

Schlecker steht damit beispielhaft für den Einzelhandel, in dem einige große
Familienbetriebe auf Kosten der Beschäftigten ein enormes Vermögen ange-
häuft haben. Die bei Schlecker beschäftigten Frauen haben sich erfolgreich
dagegen zur Wehr gesetzt, dass ihre Löhne gedrückt, sie drangsaliert und
bespitzelt wurden. Sie gründeten Betriebsräte, erkämpften Tarifverträge und
verhinderten jüngst die Tarifflucht durch Leiharbeit.

Auf die Geschäftspolitik des Familienunternehmens hatten die Beschäftigten
allerdings keinen Einfluss, denn trotz Milliardenumsätzen und zehntausender
Beschäftigter gibt es in Familienunternehmen wie Schlecker keine unternehme-
rische Mitbestimmung. Es fehlte jegliche Transparenz; Fehlentwicklungen
wurden zu spät korrigiert. Die Erfahrung und der Sachverstand der Beschäftig-
ten blieben unberücksichtigt. Dabei kennt keiner das Unternehmen und die Er-
wartung der Kunden so gut wie sie. Der Fall Schlecker zeigt: Die Beschäftigten
benötigen realen Einfluss auf die betrieblichen Entscheidungen.

Dies gilt auch für die Notwendigkeit, ein neues Zukunftskonzept für das Unter-
nehmen zu entwickeln, das auf den Erhalt der Filialen und der Arbeitsplätze
ausgerichtet ist. Die Beschäftigten dürfen nicht vor vollendete Tatsachen ge-
stellt werden. Sie haben die Krise des Unternehmens nicht verursacht und dür-
fen nun auch nicht die Leidtragenden sein. Eine zentrale Konsequenz aus der
Insolvenz von Schlecker muss daher sein, die Beschäftigten zu beteiligen bevor
das Unternehmen zerschlagen wird. Sie müssen beteiligt werden sowohl an der
Erstellung eines neuen Zukunftskonzepts als auch bei der Weiterführung des
Unternehmens.

Die Beschäftigten der Firma Schlecker und ihrer Tochterfirmen brauchen eine
Zukunft; die Politik hat aus dem Fall die richtigen Konsequenzen zu ziehen:

– In Zusammenarbeit mit den Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft ist ein
neues Zukunftskonzept für das Unternehmen Schlecker zu entwickeln, das
auf den Erhalt der Filialen und Arbeitsplätze abzielt. Dabei ist zu prüfen, in-
wiefern das Unternehmen zu einem modernen Nahversorger mit starker Be-
legschaftsabteilung umgebaut werden kann. Hierbei ist es sinnvoll, auch den
Rat von Vertreterinnen und Vertretern von Kommunen einzuholen. Für das
Zukunftskonzept der Neustrukturierung von Schlecker sind die Mitbestim-
mungsrechte der Betriebsräte vollständig auf allen Ebenen und in allen Tei-
len des Unternehmens sowie für die ver.di-Tarifkommission sicherzustellen.
Generell ist für solche Fälle das Tarifvertragsrecht zu erweitern.

– Für eine Modernisierung des Unternehmens stellt die Bundesregierung bei
Bedarf eine Anschubfinanzierung zur Verfügung (in Form öffentlicher
Bürgschaften oder Kredite), die an die Verwirklichung der Mitbestimmungs-
rechte und den Abschluss eines Tarifvertrages zur Neustrukturierung gebun-
den ist. Dabei müssen die Arbeitsplätze erhalten bleiben, die Anwendung
des Flächentarifvertrages des Einzelhandels muss sichergestellt sein. Hilfen
sind nur als öffentliche Beteiligung oder Belegschaftsbeteiligung zu gewäh-
ren, damit insbesondere Einfluss auf die Geschäftspolitik genommen wer-
den kann.

– Für Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten (unabhängig von der
Rechtsform) muss zwingend eine echte paritätische Mitbestimmung vorge-
schrieben werden.

– Als Alternative zu einer Zerschlagung von Unternehmen oder einem drasti-

schen Arbeitsplatzabbau unterstützt die Bundesregierung Initiativen der Be-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8880

legschaft zur Fortführung von Unternehmen bzw. von Unternehmensteilen
in Belegschaftshand, wie zum Beispiel Genossenschaftsmodelle. Es sind
Rechtsformen zu schaffen und zu fördern, die eine gemeinschaftliche Über-
nahme von Betrieben durch die Beschäftigten erleichtern.

– Die Zahlung des Insolvenzgeldes wird von drei auf sechs Monate vor Be-
ginn der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verlängert. Dadurch wird die
Möglichkeit geschaffen, noch vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein
neues Zukunftskonzept zum Erhalt der Arbeitsplätze und zur Sicherstellung
der Grundversorgung in ländlichen Gebieten zu entwickeln.

Für eine nachhaltige Entwicklung im Einzelhandel ist zudem eine andere Ein-
kommens- und Verteilungspolitik unabdingbar. So hat die schwache Binnen-
nachfrage durch stagnierende und schrumpfende Reallöhne vor allem die Ein-
zelhandelsbranche insgesamt in eine schwierige Lage geführt. Der massive Ver-
drängungswettbewerb im Einzelhandel wurde durch die Politik noch forciert,
indem beispielsweise Rabatt- und Ladenschlussgesetze gelockert wurden. Hier
ist ein Umdenken notwendig, denn das Anheizen der Konkurrenz innerhalb der
Branche trägt ganz offensichtlich zu ihrer Destabilisierung bei. Die Binnennach-
frage muss durch höhere Löhne angekurbelt und ein gesetzlicher Mindestlohn
eingeführt werden. Ein Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde würde die Kauf-
kraft um 26 Mrd. Euro erhöhen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf zur Erweiterung der Mitbestimmung vorzulegen, der
sich an folgenden Maßgaben orientiert:

● in privaten, öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen Unternehmen mit
mehr als 100 Beschäftigten wird zwingend eine paritätische Mitbestim-
mung vorgeschrieben. In diesen Unternehmen ist ein Aufsichtsrat zu
schaffen, der sich zu gleichen Teilen aus Vertreterinnen und Vertretern
der Anteilseigner und Anteilseignerinnen sowie aus Vertreterinnen und
Vertretern der Beschäftigten sowie verantwortlichen Gewerkschaftsbe-
auftragten zusammensetzt;

● wesentliche Entscheidungen der Unternehmensführung bedürfen zwin-
gend der Zustimmung des Aufsichtsrates. Zu diesen zustimmungspflich-
tigen Geschäften gehören die Verlegung von Betrieben und Betriebsteilen,
die Zusammenlegung oder Spaltung von Unternehmen und Betrieben,
Kapitalerhöhungen, Kapitalherabsetzungen sowie der Kauf eigener Aktien,
Kreditaufnahmen, Übernahmen von Unternehmen oder Anteilen anderer
Unternehmen sowie der Verkauf bzw. die Schließung von Betrieben oder
Betriebsteilen;

● bei Fragen von erheblicher Bedeutung für die Belegschaft ist vor der Ent-
scheidung des Aufsichtsrates eine Belegschaftsabstimmung durchzuführen.
Entscheidungen gegen das Votum der Belegschaft bedürfen mindestens
einer Zweidrittelmehrheit im Aufsichtsrat;

● das Betriebsverfassungsgesetz wird dahingehend geändert, dass der
Betriebsrat ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht in wirtschaftlichen
Fragen erhält sowie einer Betriebsschließung und Verlagerungen des Be-
triebes oder von Betriebsteilen zustimmen muss;

2. im Bedarfsfall öffentliche Bürgschaften oder staatliche Kredite für das Unter-
nehmen Schlecker unter der Bedingung zur Verfügung zu stellen, dass Ar-
beitsplätze und bestehende Tarifbindungen erhalten bleiben. Hilfen sind nur
als öffentliche Beteiligung und bei der Gewährung von Belegschaftsbeteili-

gung mit Einfluss auf die Geschäftspolitik zu gewähren;

Drucksache 17/8880 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
3. die rechtlichen Rahmenbedingungen für gemeinschaftliches Eigentum der
Beschäftigten am Unternehmen zu verbessern und entsprechende Aktivi-
täten zu unterstützen;

4. das Dritte Buch Sozialgesetzbuch dahingehend zu ändern, dass eine Zahlung
von Insolvenzgeld für sechs Monate vor der Eröffnung des Insolvenzverfah-
rens möglich ist.

Berlin, den 6. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.