BT-Drucksache 17/8662

Armut und Reichtum in Deutschland - Konzeption zur 4. Berichterstattung der Bundesregierung

Vom 10. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8662
17. Wahlperiode 10. 02. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Beate Müller-Gemmeke,
Brigitte Pothmer, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, Birgitt
Bender, Britta Haßelmann, Sven-Christian Kindler, Maria Klein-Schmeink,
Dr. Tobias Lindner, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Gerhard Schick, Dr. Harald Terpe
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Armut und Reichtum in Deutschland – Konzeption zur 4. Berichterstattung
der Bundesregierung

Der Deutsche Bundestag hat in seiner 84. Plenarsitzung am 27. Januar 2000 den
Antrag „Nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung“ (Bundestags-
drucksache 14/999) angenommen. Hiernach soll die Bundesregierung dem
Deutschen Bundestag regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbericht erstat-
ten. Diese Berichterstattung und die Diskussion im Deutschen Bundestag sind
zentrale Voraussetzungen für eine wirksame Bekämpfung von Armut.

Derzeit befindet sich der 4. Armuts- und Reichtumsbericht in der Erstellung.
Eine Sitzung des Wissenschaftlichen Gutachtergremiums und des Beraterkrei-
ses hat bereits im vergangenen Jahr stattgefunden. Ein erster Berichtsentwurf
liegt vor und wird nunmehr mit den einzelnen Fachressorts abgestimmt.
„Detailfragen zu spezifischen Inhalten des 4. Armuts- und Reichtumsberichts“
können nun wohl „sicher beantwortet werden“ (siehe Bundestagsdrucksache
17/2749). Der Bericht soll im Sommer 2012 fertiggestellt werden.

Eine Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundes-
tages am 12. Dezember 2011 offenbarte, dass die Bundesregierung mit dem so
genannten Lebensphasenmodell einen neuen Schwerpunkt in der Berichterstat-
tung setzen will. Einzelne Sachverständige sahen bei einer Überbetonung dieses
Modells die Gefahr der Individualisierung von Armut. Eine solche Perspektive
könne den Blick auf die Ursachen der Armutsentwicklung in Deutschland ver-
stellen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie sieht die bisherige Konzeption des 4. Armuts- und Reichtumsberichts
aus, und inwiefern unterscheidet sich diese von der Konzeption des Vorgän-
gerberichts?

2. Inwiefern wird die Bundesregierung dafür Sorge tragen, dass die Analysen
der ersten drei Armuts- und Reichtumsberichte sowie die Indikatoren, auf die
diese sich stützen, auch im 4. Armuts- und Reichtumsbericht fortgeführt wer-
den?

Drucksache 17/8662 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Teil die Bundesregierung die Auffassung, dass eine umfassende Betrach-
tung der Indikatoren aus den bisherigen Armuts- und Reichtumsberichten
sowohl für die Vergleichbarkeit der Berichte als auch für Aussagen zur Ent-
wicklung von Armut und Reichtum in Deutschland sinnvoll erscheint?

Wenn nein, warum nicht?

4. Inwiefern plant die Bundesregierung eine Überarbeitung bzw. Ergänzung
des Indikatorentableaus aus dem 3. Armuts- und Reichtumsbericht?

5. Welche Verbände, Institutionen bzw. Organisationen sind Mitglied des Wis-
senschaftlichen Gutachtergremiums und/oder des Beraterkreises zur Erar-
beitung des 4. Armuts- und Reichtumsberichts?

6. Wird die Bundesregierung im 4. Armuts- und Reichtumsbericht sicherstel-
len, dass die über den Mikrozensus und das Sozio-oekonomische Panel
(SOEP) gewonnen Statistiken sowie die EU-SILC-Statistik im Gegensatz
zur Darstellung im 3. Armuts- und Reichtumsbericht gleichberechtigt Be-
rücksichtigung finden?

7. Inwiefern ist sichergestellt, dass die Datenbasis der EU-SILC-Statistik mit-
tlerweile repräsentativ ist und nicht mehr wie noch im 3. Armuts- und
Reichtumsbericht in relevanten Bereichen Verzerrungen zeigt (siehe Gut-
achten von Hauser in RatSWD Working Paper No 20 (2008))?

8. Inwiefern wird die Bundesregierung sicherstellen, dass die zentralen Daten-
quellen EU-SILC, Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) und
SOEP einer routinemäßigen Repräsentativitätskontrolle unterzogen wer-
den, wie dies etwa Dr. Irene Becker empfiehlt (siehe Ausschussdrucksache
17(11)726)?

9. Wird die Bundesregierung der Empfehlung von Dr. Irene Becker nachkom-
men (siehe Ausschussdrucksache 17(11)726), die Ergebnisse über die Qua-
lität der verwendeten Haushaltsstichproben im Gegensatz zum Vorgänger-
bericht explizit in den 4. Armuts- und Reichtumsbericht aufzunehmen, um
eine fundierte Interpretation der alternativ ermittelten Verteilungs-, Armuts-
und Reichtumsindikatoren vornehmen zu können?

Wenn nein, warum nicht?

10. Inwiefern wird der Ausbreitung des Niedriglohnsektors ein „breiter Raum
in der Darstellung“ eingeräumt, wie etwa vom Deutschen Gewerkschafts-
bund empfohlen (siehe Ausschussdrucksache 17(11)733)?

11. Hat die Bundesregierung auch Erhebungen zur verdeckten Armut bzw. zur
Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen für den 4. Armuts-
und Reichtumsbericht in Auftrag gegeben?

Wenn ja, welcher Art, und mit welchen Ergebnissen?

Wenn nein, warum nicht?

12. Zu welchen Ergebnissen kam das „Forschungsprojekt zur sozialen Mo-
bilität in der Gesellschaft im weiteren Sinne“ (siehe Bundestagsdrucksache
17/2749)?

13. Wird unter dem Aspekt „soziale Mobilität“, wie etwa Dr. Markus Grabka
vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin erfragt, „auch eine
ausführliche Analyse der Einkommens- und Vermögensmobilität“ verstan-
den (siehe Ausschussdrucksache 17(11)727)?

Wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8662

14. Was genau verbirgt sich hinter der geplanten lebenslauforientierten Betrach-
tung von Armutslagen im Rahmen des 4. Armuts- und Reichtumsberichts,
und welches Ziel verbindet die Bundesregierung mit dieser Erweiterung der
Berichterstattung?

15. Welche „kritischen Passagen zur Überwindung defizitärer Lebenslagen im
Lebensverlauf“ werden voraussichtlich von der Bundesregierung betrach-
tet, und ist geplant, diese „kritischen Passagen“ um weitere zu ergänzen, wie
etwa der Diakonie Bundesverband fordert (siehe Ausschussdrucksache
17(11)738)?

Wenn nein, warum nicht?

16. In welchem Alter treten diese „kritischen Passagen“ nach Ansicht der Bun-
desregierung typischerweise auf, und wie geht die Bundesregierung mit
dem Umstand um, dass solche „kritischen Lebensphasen“ im Lebensverlauf
individuell zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten können?

17. Wie begegnet die Bundesregierung etwa dem Einwand des Diakonie Bundes-
verbandes, dass „die Lebenslage ,Behinderung‘ keineswegs erst im späteren
Lebensalter auftreten muss“ (Ausschussdrucksache 17(11)738)?

18. Inwiefern wird die Bundesregierung den Lebenslagenansatz mit dem Le-
bensphasenansatz verknüpfen?

19. Wie wird sichergestellt, dass die früher gesondert behandelten Personen-
gruppen wie etwa Menschen mit Migrationshintergrund, Behinderungen,
Suchterkrankungen oder Wohnungslose auch in den jeweiligen Lebenspha-
sen gesondert betrachtet werden?

20. Inwiefern kommt die Bundesregierung der Empfehlung von Dr. Markus
Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin nach, „ins-
besondere Problemgruppen, die in der Zukunft relevant werden, spezifisch“
zu analysieren und „insbesondere das Thema Altersarmut und hier Ansatz-
punkte möglichst frühzeitig“ zu identifizieren, „um diese Problemgruppen
entsprechend politisch zu begleiten und diese so klein wie möglich zu hal-
ten“ (siehe Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am 12. De-
zember 2011, Ausschussprotokoll 17/82)?

21. Was genau verbirgt sich hinter der geplanten Befragung nach subjektiven
Einschätzungen im Rahmen des 4. Armuts- und Reichtumsberichts, und
welches Ziel verbindet die Bundesregierung mit dieser Erweiterung der Be-
richterstattung?

22. In welchem Zeitraum wurden welche Personen bzw. Personengruppen zu
welchen Themen hierzu befragt?

23. Wie begegnet die Bundesregierung den Befürchtungen von Dr. Markus
Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin, ein Fokus
auf Armut als beeinflussbarer Prozess im Lebenslauf berge „die Gefahr der
Überbetonung individueller Chancen und die Vernachlässigung von gesell-
schaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und struktureller Ursa-
chen, die den Austritt aus relativer Einkommensarmut erschweren“ mit der
Folge, dass arme Lebenslagen in ihrer Komplexität nicht ausreichend be-
schrieben werden könnten (siehe Ausschussdrucksache 17(11)727)?

24. Wird die Bundesregierung die Forderung von Dr. Markus Grabka vom
Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin aufgreifen, im Rahmen
des 4. Armuts- und Reichtumsberichts stärker regionalisierte Analysen vor-
zunehmen, „da sich Armut und Reichtum zu einem erheblichen Teil auf
Länder- und kommunaler Ebene abzeichnet“ (siehe Ausschussdrucksache
17(11)727)?

Drucksache 17/8662 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

25. Welchen Mehrwert könnte nach Ansicht der Bundesregierung eine stärkere
Koordinierung der Armutsberichterstattung zwischen Bund, Ländern und
Kommunen haben?

26. Plant die Bundesregierung eine stärkere Koordinierung der Armutsbericht-
erstattung, und wenn nicht, welche Gründe sprechen gegen eine verstärkte
Koordinierung?

27. Welche Gründe sprechen nach Ansicht der Bundesregierung dagegen, einen
Aktionsplan zur Armutsbekämpfung analog zum Aktionsplan zur Umset-
zung der UN-Behindertenrechtskonvention einzuführen, der die Ziele und
Maßnahmen der Bundesregierung zur Armutsbekämpfung in einer Gesamt-
strategie für die nächsten zehn Jahre zusammenfasst?

28. Was hält die Bundesregierung von dem Vorschlag von Dr. Rudolf Martens
vom Paritätischen Gesamtverband, die Kosten von Armut und sozialer Aus-
grenzung in den Datenkranz der Wirtschaftsbegutachtung aufzunehmen, da
erst dann von einer wirklichen Gesamtwirtschaftsbegutachtung ausgegan-
gen werden könne (siehe Ausschussdrucksache 17(11)737)?

29. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass es keine ausreichende Daten-
basis über die „Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen einkom-
mensschwachen und einkommensstarken Personen“ sowie über die sozia-
len Unterschiede im Bereich der Gesundheit gibt (siehe Dr. Markus Grabka
in der Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales am 12. Dezember
2011, Ausschussprotokoll 17/82), und wenn ja, inwiefern beabsichtigt die
Bundesregierung, diese Aspekte im 4. Armuts- und Reichtumsbericht auf-
zugreifen?

Wenn nein, auf welche Datenbasis stützt sich die Bundesregierung?

30. Inwiefern wird die Bundesregierung den schon im 2. Armuts- und Reich-
tumsbericht vorhandenen Ansatz, die Verteilungswirkung der Änderungen
im Steuer- und Transfersystem zu analysieren, weiterentwickeln (siehe
Wortbeitrag von Dr. Irene Becker in der Anhörung im Ausschuss für Arbeit
und Soziales vom 12. Dezember 2011, Ausschussprotokoll 17/82)?

31. Gedenkt die Bundesregierung, analog zur Methodik der OECD-Studie
(OECD: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung) „Divided We Stand“ vom Dezember 2011 die Verteilungswirkung der
Steuern, Sozialabgaben, Transfers und der nichtmonetären öffentlichen
Leistungen zu analysieren, und wenn nein, warum nicht?

32. Wie wird die im 3. Armuts- und Reichtumsbericht als unzureichend kriti-
sierte Darstellung der Überschuldungsproblematik im Rahmen des 4. Ar-
muts- und Reichtumsberichts verbessert?

33. Inwiefern wird die Bundesregierung im Rahmen des 4. Armuts- und Reich-
tumsberichts die Auswahl und Qualität der Datenquellen zur Beschreibung
des Reichtums in Deutschland gegenüber dem 3. Armuts- und Reichtums-
bericht verbessern?

34. Welche Ergebnisse des Forschungsprojekts „Möglichkeiten und Grenzen
der Reichtumsberichterstattung“, dessen Bericht vom Institut für Ange-
wandte Wirtschaftsforschung (IAW) im Auftrag des Bundesministeriums
für Arbeit und Soziales erstellt wurde, fließen in die Erstellung des 4. Ar-
muts- und Reichtumsberichts ein, und welche können erst in einem späteren
Bericht Berücksichtigung finden?

35. Welche Gründe sprechen aus Sicht der Bundesregierung dagegen, die Gren-
zen für das Haushaltseinkommen in EVS und Mikrozensus aufzuheben, um
explizit reiche Haushalte in die Statistik zu integrieren?

36. Welche steuerstatistischen Daten wird die Bundesregierung zur Analyse
von Einkommens- und Vermögensreichtum verwenden?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/8662

37. Wie beurteilt die Bundesregierung die veränderte Aussagefähigkeit der
Steuerstatistiken zu Einkommens- und Vermögensreichtum, die sich durch
den Wegfall der Vermögensteuer und die Einführung der Abgeltungsteuer
ergeben hat?

38. Gedenkt die Bundesregierung, die Verteilung unterschiedlicher Einkom-
mens- und Vermögensarten genauer zu untersuchen, und wenn nein, warum
nicht?

Werden für den 4. Armuts- und Reichtumsberichts auch die Erkenntnisse
der Monopolkommission zur Konzentration von Betriebsvermögen und
Unternehmen herangezogen?

Wenn nein, warum nicht?

39. Inwiefern wird die Bundesregierung im Rahmen des 4. Armuts- und Reich-
tumsberichts die Kritik von Dr. Markus Grabka vom Deutschen Institut für
Wirtschaftsforschung Berlin aufgreifen, der in der Anhörung im Ausschuss
für Arbeit und Soziales am 12. Dezember 2011 nicht nur die „Top 1-Pro-
zente der Einkommens- und Vermögensverteilung“, sondern „auch am
untersten Rand die wirklich niedrigen Einkommensbezieher“ als „nicht aus-
reichend im Armuts- und Reichtumsbericht abgedeckt“ sieht (siehe Aus-
schussprotokoll 17/82)?

40. Wie bewertet die Bundesregierung die Vorschläge von Dr. Stefan Bach vom
Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin, die Einkommens- und
Vermögenssituation des obersten Prozents der Bevölkerung künftig besser
zu erfassen, indem

a) Informationen aus den Einkommen- und Unternehmensteuerstatistiken
künftig zeitnäher aufbereitet werden,

b) Informationen zur steuerlichen Gewinnermittlung (Bilanz, Gewinn- und
Verlustrechnung, Einnahmenüberschussrechnung) im Rahmen der
Steuerstatistik aufbereitet werden,

c) Schätzverfahren zur Topeinkommens- und -vermögenskonzentration wei-
terentwickelt werden,

d) die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) für die Reichtums-
berichterstattung stärker erschlossen werden,

e) bei der Einkommensverteilung der VGR die Unternehmenseinkommen
stärker aufbereitet werden und

f) genauere Informationen zu den Schätzunsicherheiten angegeben werden,
„die durch die nur residuale Ermittlung der Unternehmensgewinne der
nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften und privaten Haushalte entste-
hen“ (siehe Ausschussdrucksache 17(11)734)?

41. Wird der 4. Armuts- und Reichtumsbericht den Vorschlag von Dr. Irene
Becker aufgreifen, „zumindest die Entwicklung der Vermögenseinkommen
als Bestandteil der Haushaltseinkommen explizit zu analysieren“ sowie die
vorliegenden Zahlen der Erbschaft- und Schenkungsteuerstatistik einzu-
beziehen (siehe Ausschussdrucksache 17(11)726)?

Wenn nein, warum nicht?

42. Inwiefern könnte nach Ansicht der Bundesregierung die Reduzierung der
faktischen Steuerhinterziehung einen Anteil beim Abbau sozialer Ungleich-
heiten leisten, und wie könnte dieser Aspekt in die Armuts- und Reichtums-
berichterstattung eingehen?

Berlin, den 10. Februar 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.