BT-Drucksache 17/8466

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung - Drucksachen 17/8166, 17/8393 - Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 2011 (2011) vom 12. Oktober 2011 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Vom 25. Januar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8466
17. Wahlperiode 25. 01. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Ute
Koczy, Tom Koenigs, Katja Keul, Agnes Brugger, Volker Beck (Köln), Marieluise
Beck (Bremen), Viola von Cramon-Taubadel, Thilo Hoppe, Ingrid Hönlinger, Uwe
Kekeritz, Memet Kilic, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin,
Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 17/8166, 17/8393 –

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan
(International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) und folgender Resolutionen,
zuletzt Resolution 2011 (2011) vom 12. Oktober 2011 des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vor knapp zehn Jahren begann der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan.
Deutschland hat damals unter dem Mandat der Vereinten Nationen, im Rahmen
der International Security Assistance Force (ISAF), auf Wunsch der afgha-
nischen Regierung und unter Beteiligung zahlreicher Partner Verantwortung in
Afghanistan übernommen. Trotz der erheblichen Schwierigkeiten und Rück-
schläge, die man in Afghanistan in den vergangenen zehn Jahren beobachten
konnte, stehen wir zu unserer Verantwortung gegenüber den afghanischen
Frauen und Männern, den zivilen Helferinnen und Helfern, den Soldatinnen
und Soldaten und den Vereinten Nationen. Ziel aller deutschen Beiträge muss
die Stabilisierung eines afghanischen Staates sein, der nach gängigen rechts-
staatlichen Normen operiert und die Menschenrechte seiner Bürgerinnen und
Bürger schützt, fördert und garantiert. Dazu bedarf es einer Stärkung und Wei-
terbildung der afghanischen Justiz, vor allem größerer Anstrengungen im Be-
reich des Auf- und Ausbaus von Verwaltungsstrukturen auf lokaler, regionaler

und nationaler Ebene sowie einer weiterhin intensiven Ausbildung der afgha-
nischen Sicherheitskräfte. Ohne funktionierende staatliche Strukturen kann die
Situation der Menschen in Afghanistan kaum verbessert werden. Dabei muss
sich die Unterstützung Deutschlands und der internationalen Gemeinschaft an
der Kernforderung der Vertreterinnen und Vertreter der afghanischen Zivil-
gesellschaft orientieren, wie sie auf der Bonner Konferenz zu Afghanistan am
5. Dezember 2011 vorgetragen wurden.

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Seit Beginn der Mission sind die Hoffnungen auf baldigen Frieden immer wie-
der enttäuscht worden. Zehn Jahre internationaler Militäreinsatz in Afghanistan
sind auch eine Geschichte westlicher Fehleinschätzungen, falscher Prioritäten-
setzung und gescheiterter Hoffnungen. Am Beginn stand die Erwartung, der
Kampf gegen Al Qaida und die internationale militärische Präsenz in Afghanis-
tan werde nur von kurzer Dauer sein. Das erwies sich als Irrtum. Parallel zum
Stabilisierungseinsatz mit UN-Mandat (ISAF) wurde im Rahmen der „Opera-
tion Enduring Freedom“ (OEF) der so genannte Krieg gegen den Terror mit
vielen zivilen Opfern betrieben. So sollten auch die Taliban in wenigen Jahren
besiegt werden. Auch das erwies sich als Irrtum. Weder wurde die Situation in
Afghanistan im Zusammenhang mit seinen Nachbarstaaten, insbesondere Pakis-
tan, analysiert noch die komplexe Lage im kriegstraumatisierten und zerstörten
Afghanistan erkannt. Die Dominanz des Militärischen wurde begleitet vom
weitgehenden Fehlen einer am tatsächlichen Bedarf orientierten zivilen und
entwicklungspolitischen Aufbaustrategie und einer Unterordnung von zivilen
gegenüber militärischen Zielsetzungen. All dies bedarf einer fundierten, selbst-
kritischen Aufarbeitung, der sich die Bundesregierung bisher verweigert. Eine
solche Evaluierung blockiert die Bundesregierung mit der Mehrheit der Regie-
rungsfraktionen im Deutschen Bundestag. Ein gemeinsamer Antrag der Frak-
tionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD vom Juni 2010 hierzu wurde ab-
gelehnt.

Auf den Konferenzen in London und Kabul 2010 hat die internationale Ge-
meinschaft einen Strategiewechsel vollzogen. Dieser wurde maßgeblich durch
die Obama-Administration angestoßen. Im Mittelpunkt dieser Neuorientierung
stand die Einsicht, dass eine langfristige Lösung des Konflikts nur durch einen
politischen Prozess erreicht werden kann. Gleichzeitig wurde jedoch die Trup-
penpräsenz im Land massiv ausgeweitet und eine großflächige, offensive Auf-
standsbekämpfung gemeinsam mit der afghanischen Armee verfolgt. Auch die
Bundeswehr ist seit 2010 intensiver an solchen offensiven Operationen betei-
ligt.

Die Sicherheitslage ist nach wie vor besorgniserregend, eine grundsätzliche
Trendwende nicht absehbar. Im Gegenteil, sie hat sich insgesamt verschlech-
tert. Die Bewertung der Bundesregierung im aktuellen Fortschrittsbericht zu
Afghanistan überzeugt nicht. Die Zahl der zivilen Opfer hat sich laut der Be-
obachtermission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 2011 im
Vergleich zum Vorjahr noch einmal um fast 15 Prozent erhöht. Dafür sind vor
allem die Anschläge der Aufständischen verantwortlich. Aber auch die Zahl der
zivilen Opfer bei den sogenannten capture-or-kill-Operationen ist erschre-
ckend, wie kürzlich auch eine Studie des Afghanistan Analyst Networks aufge-
zeigt hat. Bei einem überwiegenden Großteil der Opfer handelte es sich um
Personen, die letztlich nicht unmittelbar den Aufständischen zugeordnet wer-
den konnten. Für 80 Prozent der Opfer waren aufständische Gruppen verant-
wortlich; 14 Prozent der Opfer kamen durch afghanische Regierungseinheiten
oder ISAF zu Schaden. Die Behauptung, die offensive Aufstandsbekämpfung
hätte die Aufständischen entscheidend und dauerhaft geschwächt, wird von vie-
len Expertinnen und Experten bezweifelt. Gleichzeitig schwindet das Vertrauen
in die ISAF-Truppen.

Die von der Bundesregierung angestrebte „Übergabe in Verantwortung“ kann
ohne einen Rückfall Afghanistans in einen offenen Bürgerkrieg nach dem
Abzug der internationalen Kampftruppen nur im Rahmen einer politischen Ver-
handlungslösung erreicht werden. Die notwendige Einigung zwischen den Kon-
fliktparteien kann dabei nicht durch militärische Mittel erzwungen, sondern nur
durch echte politische Verhandlungen ermöglicht werden. Vor diesem Hinter-
grund ist die Eröffnung eines Verbindungsbüros der Taliban in Katar ein erster

und wichtiger Schritt für den weiteren Prozess. Trotz des Angebotes einer Ver-
handlungslösung hat aber bisher im Handeln der internationalen Gemeinschaft

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eine militärische Logik dominiert. Es ist an der Zeit dies zu verändern und prak-
tischen Schritten zu einer politischen Lösung den Vorrang einzuräumen. Dazu
müssen insbesondere kontraproduktive night raids oder capture-or-kill-Opera-
tionen unterlassen werden, da sie eine zunehmende Radikalisierung fördern und
somit die Gewaltspirale weiter antreiben. Zusätzlich muss die internationale
Gemeinschaft in Abstimmung mit der afghanischen Regierung mögliche Schritte
zu regionalen Feuerpausen als Rahmenbedingung für Verhandlungen prüfen.

Eine politische Lösung des Konflikts muss vor allem ein innerafghanischer
Prozess sein. Dabei bedarf es eines Versöhnungsprozesses, der inklusiv ist und
die afghanische Zivilgesellschaft auf allen Ebenen mit einbezieht. Hierfür muss
sich die internationale Gemeinschaft einsetzen. Außerdem sollte an den Kabu-
ler Prozess angeknüpft werden, in dem Vertreterinnen und Vertreter der afgha-
nischen Zivilgesellschaft konkrete Forderungen an die Bonner Außenminister-
konferenz gestellt haben und der durch die deutschen politischen Stiftungen
positiv unterstützt wurde. Die internationale Gemeinschaft muss darüber hinaus
ihren Einfluss geltend machen, damit bei einer politischen Lösung rote Linien
nicht überschritten werden, die zu Lasten der errungenen Fortschritte bei den
Menschenrechten, insbesondere den Frauenrechten, geht. Eine politische Lö-
sung wird es zudem nur unter Einbeziehung der regionalen Akteure geben.
Eine herausgehobene Rolle spielt hier Pakistan. Es ist eine der Hauptaufgaben
der internationalen Gemeinschaft für die kommenden Jahre, den auf der Konfe-
renz in Istanbul angestoßenen Prozess zu einer verbesserten regionalen Ver-
ständigung und Kooperation zu begleiten und voranzubringen.

Der Deutsche Bundestag bekräftigt, dass bis 2014 die internationalen Kampf-
truppen aus Afghanistan abgezogen werden sollen. Nur so entsteht der notwen-
dige politische Druck auf die afghanische Seite, eine politische Lösung ent-
schieden anzugehen. Der begonnene Prozess der Übergabe in Verantwortung
muss weiter fortgeführt und auf die Dynamik der Situation in den jeweiligen
Provinzen sowie die zivile Aufbauarbeit daraufhin strategisch angepasst wer-
den. Hierfür ist allerdings ein klarer Zeitplan unerlässlich. Ein überstürzter und
ungeordneter Abzug der internationalen Truppen könnte das Land erneut in
einen Bürgerkrieg stürzen, die zivilen Helferinnen und Helfer gefährden und
die in den letzten Jahren erzielten Erfolge in Frage stellen.

Deshalb ist eine verantwortliche militärische Abzugsplanung von größter
Wichtigkeit. Die deutsche Bundesregierung hat eine solche Abzugsplanung bis-
her nicht vorlegt. Die Absenkung der Mandatsobergrenze zu Beginn 2012 be-
steht zu großen Teilen aus einer Luftbuchung: gestrichen wird die flexible
Reserve von 350 Soldatinnen und Soldaten, die bisher jedoch de facto nur zu
einem geringen Teil eingesetzt wurde. Real werden also nur rund 200 Soldatin-
nen und Soldaten abgezogen. Für das Jahr 2012 wird dann in Aussicht gestellt,
vielleicht, wenn es die Umstände zulassen, weitere 500 Soldaten abzuziehen.
Damit bleibt die Bundesregierung hinter den Abzugsplanungen anderer ISAF-
Partner wie den USA oder Frankreich zurück.

Im vergangenen Jahr sind die ersten Provinzen in die Sicherheitsverantwortung
der afghanischen Regierung übergeben worden. Die Ausbildung der Afgha-
nischen Sicherheitskräfte (ANSF) kommt voran. Allerdings gibt es immer wie-
der gravierende Vorwürfe über Menschenrechtverletzungen durch Angehörige
der afghanischen Sicherheitskräfte. Es bedarf verstärkter Anstrengungen, dass
bei Ausbildung und Aufbau der afghanischen Armee demokratische und men-
schenrechtliche Standards verankert werden.

Die Übergabe der Provincial Reconstruction Teams (PRTs) an eine zivile Lei-
tung verläuft derzeit nur mit großen Schwierigkeiten und ist unzureichend. Für
eine erfolgreiche und nachhaltige Übergabe muss ein tragfähiges Konzept zur

Stärkung der zivilen Seite erarbeitet und umgesetzt werden. Hierzu gehört auch
eine entsprechende Aufstockung des zivilen Personals.

Drucksache 17/8466 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Besorgniserregend ist die politische Lage in Afghanistan. Die Unzufriedenheit
mit der Regierung Karzai steigt. In vielen Regionen ist der Zuspruch für die
amtierende Regierung nur gering. Verantwortlich dafür sind ihr Versagen bei
der Korruptions- und Drogenbekämpfung, beim Staatsaufbau sowie ihr man-
gelnder Einsatz für mehr Meinungsfreiheit und Menschenrechte. Die eindeu-
tigen Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
haben dieser Entwicklung Vorschub geleistet.

Beim zivilen Wiederaufbau konnten auch aufgrund der gestiegenen Mittel Er-
folge erzielt werden; allerdings steht die Entwicklung in Afghanistan nach zehn
Jahren noch am Anfang. Ungewiss ist, ob die graduellen Verbesserungen zu-
künftig weiter gehen oder ob die Situation sich erneut verschlechtert. Da jedoch
eine kritische Reflexion der bisherigen Leistungen fehlt, bleibt offen, welche
Maßnahmen tatsächlich Bestand haben werden und wo nachgebessert werden
müsste. Der Bundestag kritisiert die fortlaufende Unterordnung des Zivilen
unter das Militärische. Gleichzeitig begrüßt der Bundestag ausdrücklich das
Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft auf der Bonner Außenminister-
konferenz, das zivile und entwicklungspolitische Engagement bis 2024 fort-
setzen zu wollen.

Hoffnung kann der diesjährige Weltentwicklungsbericht geben, der darauf ver-
weist, dass in ehemals „fragilen Staaten“ nur langfristig staatliche Institutionen
aufgebaut werden können. Gerade in einem Land wie Afghanistan, in dem vie-
lerorts erstmalig ziviler Aufbau betrieben wird, braucht die Entwicklung von
Staatlichkeit einen langem Atem. Der deutsche Bundestag unterstreicht, dass
die deutsche und internationale Politik auch mit neuen Zeithorizonten arbeiten
muss, um in der komplexen Situation Afghanistans erfolgreich agieren zu kön-
nen.

Die Bundesregierung muss sich insbesondere dafür einsetzen, dass die Finanzie-
rung des zivilen Aufbaus auch nach 2014 mindestens auf dem bisherigen Niveau
gewährleistet ist. Afghanistan wird noch für einige Jahre von diesen Hilfen
abhängig sein und ist deshalb auf verbindliche Zusagen in besonderem Maße
angewiesen. Auf der vereinbarten Geberkonferenz im Juli 2012 in Tokio ist es
deshalb besonders wichtig, dass verbindliche Zusagen fixiert werden und der
weitere Aufbau Afghanistans damit ermöglicht wird.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den innerafghanischen Reintegrationsprozess sowie Verhandlungen zu unter-
stützen und in einen breiten und zivilgesellschaftlich verankerten Versöh-
nungsprozess münden zu lassen. Dazu sollte auch die deutsche Mitglied-
schaft im VN-Sicherheitsrat genutzt werden. Ziel muss es sein, dass am Ende
dieses Prozesses eine Friedensvereinbarung steht. Die politischen „rote
Linien“ wie die Achtung der Menschenrechte, den Bruch mit Al Kaida, das
Abschwören von Gewalt und die Akzeptanz der afghanischen Verfassung
einhalten und die Fortschritte in der Umsetzung der Menschenrechte insbe-
sondere mit Blick auf die afghanischen Frauen und ihre mühsam erkämpften
Rechte unumkehrbar festschreiben;

2. sich dafür einzusetzen, dass der VN-Sicherheitsrat ausdrücklich ein Mandat
für Verhandlungen mit den Aufständischen mit dem Ziel einer Friedensver-
einbarung formuliert und alle beteiligten Staaten auffordert, diese Verhand-
lungen zu unterstützen. Ein solches Mandat sollte zudem unterstreichen,
dass die Sicherheit aller Verhandlungsteilnehmerinnen und Verhandlungs-
teilnehmer gewährleistet sein muss;

3. Initiativen zu ergreifenden, den im November 2011 angestoßenen Istanbul-

Prozess fortzusetzen, um die Einbeziehung der afghanischen Nachbarstaa-
ten und regionaler Akteure in eine politische Lösung des Afghanistan-Kon-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/8466

flikts wirksamer voranzubringen und die wirtschaftlichen Beziehungen der
Länder untereinander weiter zu fördern;

4. insbesondere Pakistan aktiv in die Suche, Ausarbeitung und Verhandlung
einer regionalen Konfliktlösung einzubinden, dafür bei den westlichen
Partnern, insbesondere bei den USA, zu werben und darauf zu drängen,
dass die Souveränität Pakistans gewahrt bleibt;

5. sich gegenüber COMISAF für eine Beendigung nicht mit dem Völkerrecht
vereinbarer gezielter Tötungen einzusetzen und sicherzustellen, dass sich
die Bundeswehr nicht an solchen völkerrechtswidrigen Aktionen beteiligt;

6. die andauernde Veränderung des Bundeswehreinsatzes von einem Stabili-
sierungseinsatz hin zu einer kontraproduktiven offensiven Aufstandsbe-
kämpfung zu beenden und sich für lokale und landesweite Waffenstill-
stände einzusetzen;

7. umgehend eine konkrete, verantwortbare Abzugsplanung für die Bundes-
wehr aus Afghanistan bis 2014 vorzulegen, die mit der afghanischen Re-
gierung und den internationalen Partnern abgestimmt ist und die Zwischen-
ziele auf Provinz- und Distriktebene vorsieht. Für die Übergabe der PRTs
an eine zivile Leitung muss ein tragfähiges Konzept ausgearbeitet und um-
gesetzt werden, das eine entsprechende Aufstockung des zivilen Personals
vorsieht;

8. bis Ende 2012 das Truppenkontingent auf 3.900 Soldatinnen und Soldaten
zu reduzieren. Diese Reduzierung ist u. a. durch die Schließungen und
Übergabe von Stützpunkten im Zusammenhang mit der Übergabe der
Sicherheitsverantwortung, den Umbau der Ausbildungs- und Schutzbatail-
lone und eine Anpassung der Stäbe zu erreichen. Mit Blick auf längerfris-
tige Perspektiven sollten die Kräfte im Bereich Monitoring und Training
(OMLT) um mindestens 140 Personen verstärkt werden, um die Übergabe
der Sicherheitsverantwortung vorzubereiten und zu begleiten;

9. im Rahmen der Reduktion der stationierten Ausbildungs- und Schutz-
bataillone das „Partnering“ auslaufen zu lassen und den Schwerpunkt auf
das „Mentoring“ zu setzen;

10. eine Agenda für den zivilen Aufbau bis 2014 und danach in Abstimmung
mit den afghanischen und internationalen Partnern zu entwickeln. Diese
Agenda für den Aufbau muss die veränderten Rahmenbedingungen nach
einem militärischen Abzug berücksichtigen und die entwicklungspoli-
tischen Anforderungen anderer Staaten der Region integrieren;

11. im Rahmen einer entwicklungspolitischen Agenda für den Aufbau bis 2014
und danach, die zivilen Mittel für Afghanistan auch weit über 2014 hinaus
mindestens auf dem erreichtem hohem Niveau und unabhängig von der
Präsenz der Bundeswehr einzusetzen. Dabei müssen das Engagement in
den Bereichen „Bildung“, „Ländliche Entwicklung“ und „Frauen“ ausge-
baut werden und weitere Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden.
Gleichzeitig muss der Ausbau erneuerbarer Energien gefördert werden;

12. die Mittel für Bildung zu priorisieren und auf 60 Mio. Euro (40 Mio. Euro
finanzielle Zusammenarbeit, 20 Mio. Euro technische Zusammenarbeit) zu
verdoppeln. Davon sollen 30 Mio. Euro für Berufs- und Hochschulbildung
verwendet werden;

13. die Auszahlung von Mitteln für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung an den Bedürfnissen der überwiegend ländlich geprägten Bevöl-
kerung zu orientieren sowie die regierungsnahen Maßnahmen der Entwick-
lungszusammenarbeit an den Umgang der afghanischen Regierung mit den

Menschenrechten zu knüpfen. Sollten Vereinbarungen nicht eingehalten

Drucksache 17/8466 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

werden, lassen wir die Menschen jedoch nicht allein, sondern streben an,
diese Mittel regierungsfern einzusetzen;

14. positive Anreize zu setzen und der afghanischen Regierung in vereinbarten
Schritten, und in Abstimmung mit den internationalen Partnerinnen und
Partnern, zunehmend Mittel auch in Form von Budgethilfe zur Verfügung
zu stellen. Die anteilsmäßige Erhöhung der regierungsnahen Mittel im EZ-
Portfolio muss dabei an konkrete und zeitlich realistische Fortschritte im
Bereich „Gute Regierungsführung“ und Menschenrechte geknüpft werden;

15. im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus einen besonderen Schwerpunkt auf
die Unterstützung der Zivilgesellschaft zu legen und dabei an den erfolgrei-
chen Kabul-Prozess im Vorfeld der Bonner Afghanistankonferenz unter
Einbeziehung der politischen Stiftungen anzuknüpfen mit dem Ziel, dass
die afghanische Zivilgesellschaft viel stärker in Verhandlungen mit der
afghanischen Regierung und anderen Akteuren einbezogen wird;

16. eine nachhaltige und sich selbsttragende Wirtschaftsstruktur zu fördern.
Bei den Aufbaumaßnahmen und Lieferungen für die internationale Ge-
meinschaft muss der afghanischen Wirtschaft und einem beschäftigungs-
intensiven Vorgehen der Vorzug gegeben werden;

17. die afghanische Regierung im Bereich guter Regierungsführung und dem
Ausbau der demokratischen Institutionen, insbesondere auf Provinz- und
Distriktebene, im Sinne der afghanischen Verfassung noch stärker zu unter-
stützen;

18. die Praxis im Rahmen der „NRO-Fazilität Afghanistan“, nach der deutsche
Nichtregierungsorganisationen Gelder für Projekte nur im Einsatzgebiet
der Bundeswehr beantragen dürfen und sich dem Konzept der Vernetzten
Sicherheit unterordnen müssen, sofort zu beenden und die Neutralität zivi-
ler und humanitärer Hilfe zukünftig strikt zu wahren;

19. die Kooperation und Koordination der deutschen staatlichen Akteure im
Sinne eines ressortübergreifenden Ansatzes zu stärken. An der Ausarbei-
tung und Umsetzung einer Agenda für den Aufbau, welche den militä-
rischen Abzug und die Erhöhung der zivilen Kapazitäten berücksichtigt,
müssen alle betroffenen Bundesministerien (Auswärtiges Amt, Bundes-
ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Bun-
desministerium der Verteidigung, Bundesministerium des Innern) noch
enger als bisher zusammenarbeiten;

20. bei der Umsetzung der Brüsseler Neun Aktionspunkte zu „Investment
Opportunities and the Economic Future of Afghanistan“ die Einhaltung
von sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Standards sicherzu-
stellen. Die Einnahmen aus dem Rohstoffabbau müssen der afghanischen
Bevölkerung zugute kommen;

21. ein nachhaltiges Konzept für die weitere Unterstützung des Aufbaus poli-
zeilicher Strukturen inklusive Polizeiausbildung vorzulegen, welches ins-
besondere darstellt, wie das deutsche Engagement im Polizeibereich nach
Abzug des Militärs gestaltet werden soll. Die afghanische Regierung sollte
dabei unterstützt werden, die Milizen aufzulösen oder bei Einhaltung
rechtsstaatlicher Standards in die offiziellen Sicherheitskräfte einzuglie-
dern;

22. den Aufbau rechtstaatlicher und effizienter Verwaltungsstrukturen auf
nationaler und vor allem auf regionaler Ebene stärker zu unterstützen und
dabei insbesondere die Ausbildung und Arbeitsfähigkeit afghanischer Juris-
tinnen und Juristen sowie Verwaltungsfachleute zu fördern und die entspre-

chenden Studiengänge und Ausbildungsmöglichkeiten bestmöglich zu
unterstützen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/8466

23. sich dafür einzusetzen, dass Menschenrechtsverletzungen, auch und gerade
in den Reihe der ANSF, mit geeigneten Instrumenten aufgedeckt und auf-
gearbeitet werden, um einen nachhaltigen Versöhnungsprozess zu ermög-
lichen;

24. sich dafür einzusetzen, dass in Afghanistan die Menschenrechte gewahrt
werden und dass Menschenrechtsorganisationen und die Vereinten Natio-
nen Zugang zu allen Gefangenen und in Gewahrsam Genommenen haben;

25. sich dem Resettlement-Programm des UN-Flüchtlingskommissariats
(UNHCR) mit einem großzügigen Kontingent anzuschließen und die Arbeit
des UN-Flüchtlingskommissariats zu unterstützen, damit weiterhin Flücht-
lingen in Afghanistan und insbesondere den afghanischen Flüchtlingen in
Iran und Pakistan geholfen wird;

26. einen lückenlosen Abschiebestopp für afghanische Flüchtlinge durchzuset-
zen, um deren Leben nicht zu gefährden und ein umfassendes Aufnahme-
programm für Menschen aus Afghanistan zu entwickeln und umzusetzen,
die in ihrem Leben oder in ihrer Gesundheit bedroht sind;

27. im Sinne eines detaillierten Gesamtkonzepts bei der Formulierung der
Mandate nicht nur den Einsatz der Bundeswehr, sondern auch eine umfas-
sende Planung des polizeilichen und entwicklungspolitischen Engagements
Deutschlands in Afghanistan vorzunehmen und die entsprechenden Mittel
und Fähigkeiten darzulegen;

28. sich auf internationaler Ebene für die Entwicklung eines zivilen Peacebuil-
ding-Prozesses, der über 2014 hinausgeht, einzusetzen;

29. dem Bundestag eine Evaluierung und Wirksamkeitsanalyse durch eine
unabhängige Expertenkommission des bisherigen deutschen Engagements
in Afghanistan unter Beurteilung der Gesamtlage vorzulegen.

Berlin, den 24. Januar 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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