BT-Drucksache 17/8460

Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfahren - Konsequenzen aus den Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen

Vom 25. Januar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8460
17. Wahlperiode 25. 01. 2012

Antrag
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck
(Köln), Memet Kilic, Marieluise Beck (Bremen), Ingrid Hönlinger, Katja Keul,
Tom Koenigs, Jerzy Montag, Kerstin Müller (Köln), Dr. Konstantin von Notz,
Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt,
Wolfgang Wieland und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfahren – Konsequenzen aus den
Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. In einem Urteil vom 21. Dezember 2011 in den verbundenen Rechtssachen
C-411/10 und C-493/10 hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH)
unmissverständlich klargestellt, dass ein Asylbewerber nicht in einen Mit-
gliedstaat überstellt werden darf, in dem er Gefahr läuft, unmenschlich be-
handelt zu werden. Der EuGH hat ferner entschieden: Das Unionsrecht lässt
keine unwiderlegbare Vermutung zu, dass die Mitgliedstaaten die Grund-
rechte der Asylbewerber beachten.

Der Gerichtshof stellte fest, eine Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 343/
2003 (Dublin-II-Verordnung) auf der Grundlage einer unwiderlegbaren Ver-
mutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers im zuständigen Mitglied-
staat beachtet werden, ist mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zur grundrechts-
konformen Auslegung und Anwendung der Verordnung unvereinbar.

2. Zuvor hatte bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
(EGMR) in einer Grundsatzentscheidung vom 21. Januar 2011 im Verfahren
M.S.S. (Beschwerde-Nr. 3096/09) aus Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 13
der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) die Verpflichtung
der Vertragsstaaten abgeleitet, vor einer Überstellung an den zuständigen
Mitgliedstaat im Rahmen einer Einzelfallprüfung die Einhaltung der aus Ar-
tikel 3 EMRK folgenden Verpflichtungen durch den zuständigen Mitglied-
staat zu prüfen. Artikel 13 (in Verbindung mit Artikel 3) EMRK sei dann ver-
letzt, wenn es vor einer Überstellung für den Betroffenen keine Möglichkeit
gibt, gegen die Entscheidung, ihn in einen anderen Mitgliedstaat zu überstel-

len, wirksame Rechtsmittel einzulegen.

3. Schon die Entscheidung des EGMR hat unmittelbare und weitreichende Fol-
gen für den Rechtsschutz im Asylverfahren in Deutschland. Denn die deut-
sche Regelung, wonach die aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln gegen
eine Dublin-Überstellung ausgeschlossen ist, ist mit der Europäischen Men-
schenrechtskonvention nicht vereinbar.

Drucksache 17/8460 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Zwar hatte sich der EuGH nicht unmittelbar mit der Frage des Eilrechtsschut-
zes gegen Überstellungen an den zuständigen Mitgliedstaat auseinanderzu-
setzen, gleichwohl folgt aus der Verweisung des Gerichtshofs auf die Ausfüh-
rungen des EGMR in M.S.S. mit hinreichender Klarheit, dass in derartigen
Fällen wirksamer Eilrechtsschutz zu gewährleisten ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem der in den §§ 27a, 34a
Absatz 2 und § 75 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) vorgesehene Aus-
schluss des vorläufigen Rechtsschutzes gegen Überstellungen im Rahmen der
Dublin-II-Verordnung aufgehoben wird und gegen derartige Überstellungen im
deutschen Recht ein effektiver Rechtsschutz gemäß der Europäischen Men-
schenrechtskonvention und europarechtlichen Vorgaben festgeschrieben wird.

Berlin, den 24. Januar 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Seit den mit dem ersten EU-Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 eingeführten
Änderungen wurde über § 34a Absatz 2 AsylVfG der einstweilige Rechtsschutz
gegen Entscheidungen im Verfahren nach der Dublin-II-Verordnung generell
ausgeschlossen. Vom Ausland aus kann ein effektiver Rechtsschutz vor deut-
schen Verwaltungsgerichten nicht greifen. Ein Rechtsbehelf ist nur dann wirk-
sam, wenn irreparable Folgen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer
hoheitlichen Maßnahme vor deren gerichtlicher Überprüfung eintreten können,
soweit als möglich ausgeschlossen werden können.

Die große Mehrheit der Verwaltungsgerichte setzt sich seit einiger Zeit in Ver-
fahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen Abschiebungsanordnungen des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über den Wortlaut des
§34a Absatz 2 AsylVfG hinweg. Zur Begründung wird von den Gerichten aus-
geführt, die Bestimmung des § 34a Absatz 2 AsylVfG sei verfassungskonform
dahingehend auszulegen, dass sie entgegen ihrem Wortlaut die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit geplanten Abschiebungen
auf der Grundlage der Dublin-II-Verordnung nicht generell verbiete.

Der EGMR hat in der Entscheidung M.S.S. gegen Belgien und Griechenland
festgestellt, dass ein Schutzsuchender in jedem Fall vor einer Rückführung in
einen anderen EU-Mitgliedstaat die Möglichkeit einer effektiven rechtlichen
Überprüfung mit aufschiebender Wirkung haben muss. Eine solche Möglichkeit
gibt es aber nach geltendem deutschen Recht nicht.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatte daher am 23. Februar 2011
einen Antrag (Bundestagsdrucksache 17/4886) eingebracht, mit dem die Bun-
desregierung aufgefordert wurde, die deutsche Rechtslage den Vorgaben der
Europäischen Menschenrechtskonvention anzupassen. Dieser Antrag wurde be-
dauerlicherweise von den Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und FDP abge-
lehnt.

Der EuGH hat nunmehr die vom EGMR vorgegebene Richtung bestätigt. Er hat
entschieden, Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sei

dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Ge-
richte obliege, einen Asylbewerber nicht an einen Mitgliedstaat zu überstellen,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8460

in dem er Gefahr läuft, unmenschlich behandelt zu werden. Eine unwiderlegbare
Vermutung – wie sie auch im deutschen Recht enthalten ist –, dass die Mitglied-
staaten die Grundrechte der Asylbewerber beachten, verwirft der EuGH aus-
drücklich. Somit ist jeder vertretbaren Behauptung eines von der Überstellung
an den zuständigen Mitgliedstaat betroffenen Asylsuchenden, dort bestehe für
ihn eine konkrete Gefahr, einer Artikel 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung
ausgesetzt zu werden, in einem summarischen Eilrechtsschutzverfahren nachzu-
gehen.

Das Unionsrecht enthält für alle Mitgliedstaaten verbindliche Normen und
Handlungsanweisungen, welche entgegenstehendes nationales Recht – ein-
schließlich des Verfassungsrechts – verdrängt. Nach der Klarstellung durch den
EuGH, dass das Unionsrecht keine unwiderlegliche Vermutung der Sicherheit
der Mitgliedstaaten kennt, dürfen die §§ 27a und 34a AsylVfG nicht mehr ange-
wandt werden.

Es erscheint daher dringend geboten, die menschen- und europarechtswidrigen
Bestimmungen des deutschen Rechts aufzuheben und im deutschen Recht effek-
tiven Rechtsschutz gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention und
unionsrechtlichen Vorgaben festzuschreiben.

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