BT-Drucksache 17/7985

Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträglich auszahlen

Vom 30. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7985
17. Wahlperiode 30. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina
Bunge, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Cornelia
Möhring, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Kersten Steinke,
Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine
Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997
nachträglich auszahlen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2002 mit der Verabschiedung des Gesetzes
zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG)
die rechtliche Grundlage dafür geschaffen, dass Holocaust-Überlebende, die
während des Zweiten Weltkrieges in Ghettos unter deutscher Herrschaft
gearbeitet haben, aus dieser Tätigkeit Rentenansprüche ableiten können. Das
Gesetz, das vom Parlament einstimmig verabschiedet wurde, sollte es den
Überlebenden ermöglichen, rückwirkend ab dem Jahr 1997 ihre Renten-
ansprüche zu beziehen.

Als Voraussetzung der Leistungsberechtigung wurde festgelegt, dass die Tätig-
keit aufgrund eines „eigenen Willensentschlusses“ erfolgen musste und dafür
ein „Entgelt“ geleistet wurde. Infolge einer zu restriktiven Auslegung dieser
Begriffe sind in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes nahezu alle
Anträge abgelehnt worden. Die Bundesregierung nennt in ihrer Antwort auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 17/6776) ein
Verhältnis von 5 100 bewilligten Anträgen gegenüber 56 750 abgelehnten. Die
mit dem Gesetz verbundene Absicht, den Überlebenden eine überfällige Form
der Wiedergutmachung zu gewähren, drohte damit verfehlt zu werden.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat im Jahr 2009 die Interpretation der strittigen
Begriffe geklärt. Es hat unter anderem festgelegt, dass als „Entgelt“ nicht nur
eine finanzielle Entlohnung zu verstehen ist, sondern etwa auch die Überlassung
von (ggf. zusätzlichen) Lebensmitteln oder Kleidung, und zwar auch dann,
wenn diese nicht der Arbeiterin bzw. dem Arbeiter, sondern beispielsweise dem
Judenrat ausgehändigt wurde. Das Gericht hat als freien Willensentschluss an-
erkannt, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter die Arbeit hätten ablehnen oder

Einfluss auf die Arbeitsbedingungen nehmen können. Zudem wurde auf die
Festlegung eines Mindestalters für Ghettoarbeit verzichtet.

Nach dieser Entscheidung hat die Deutsche Rentenversicherung (DRV) sämt-
liche bis dahin abgelehnten Fälle erneut überprüft. Von 26 186 Fällen sind
daraufhin 23 818, mithin mehr als 90 Prozent, positiv beschieden worden.

Drucksache 17/7985 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Allerdings konnte in fast 7 000 Fällen kein Bescheid mehr erteilt werden, weil
die Antragsteller zwischenzeitlich verstorben waren.

Diese 23 818 Holocaust-Überlebenden, denen schließlich ein Rentenanspruch
zugestanden wurde, erhielten die Rente jedoch nicht rückwirkend zum Jahr
1997, sondern nur rückwirkend ab dem Jahr 2005. Die Bundesregierung erklärt
dies mit der im allgemeinen Sozialrecht geltenden Rückwirkung von maximal
vier Jahren. Dies widerspricht dem erklärten Willen des Bundestages, wie er im
ursprünglichen Gesetz sowie in den zugehörigen Beratungen formuliert worden
war. Noch schwerer wiegt, dass Menschen, denen von deutschen Machthabern
schwerste Leiden und Entbehrungen aufgezwungen wurden, nun faktisch die
Verantwortung dafür tragen müssen, dass das ZRBG jahrelang zu restriktiv
interpretiert wurde.

Gerade angesichts des schweren Verfolgungsschicksals der betroffenen Perso-
nengruppe ist es aus Sicht des Bundestages unhaltbar, diesen Menschen sieben
Jahre der ursprünglich vorgesehenen Rentenauszahlungszeit vorzuenthalten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

umgehend, spätestens aber bis zum 28. Februar 2012, einen Gesetzentwurf vor-
zulegen, der die rechtlichen Grundlagen dafür schafft, jenen Leistungsberechtig-
ten des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem
Ghetto, deren Rentenanträge ursprünglich abgelehnt und erst nach der Entschei-
dung des Bundessozialgerichts vom Juni 2009 bewilligt worden sind, die Renten-
zahlungen rückwirkend ab dem 1. Juli 1997 zu gewähren.

Berlin, den 30. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Das Bundessozialgericht hat 1997 entschieden, dass Arbeit, die im Ghetto
geleistet wurde, prinzipiell die Voraussetzungen einer freien Beschäftigung
erfüllen kann und als Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung anzu-
erkennen sei. Die Auszahlung von Renten scheiterte jedoch zunächst an (aus-
landsrenten-)rechtlichen Problemen, insbesondere weil nicht im erforderlichen
Umfang Beitragszeiten aus dem Bundesgebiet vorlagen.

Der Gesetzgeber war jedoch entschlossen, diese Probleme zu überwinden,
nicht zuletzt, weil es hier auch um eine Form der Wiedergutmachung des vom
NS-System begangenen Unrechts ging. Um dies zu gewährleisten, hat er mit
dem ZRBG „im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung Neuland be-
treten“, wie es in den gleichlautenden Gesetzentwürfen der Fraktion der PDS
sowie der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP
(Bundestagsdrucksache 14/8602 bzw. 14/8583) formuliert wurde.

Der Bundestag hat diesem Gesetz am 25. April 2002 einstimmig zugestimmt.
Mit dem rückwirkenden Inkrafttreten zum 1. Juli 1997 wollte der Bundestag
die Zahlbarmachung der Rentenansprüche ab 1997 ermöglichen.

Der Anwendungsbereich des Gesetzes erstreckte sich auf Arbeiten, die „aus
eigenem Willensentschluss“ und „gegen Entgelt“ ausgeübt wurden. In der
Öffentlichkeit wie auch von den Interessenverbänden der Betroffenen ist diese

Begriffswahl angesichts der Realität im NS-System vielmals kritisiert worden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7985

Die Betroffenen konnten ihre Beschäftigung kaum als „freiwillig“ wahrneh-
men, weil die Umstände, in denen sie lebten, von mörderischem Zwang geprägt
waren. Dennoch gab es bei der Aufnahme von Beschäftigungen in einem
Ghetto, wenn auch marginale, Freiräume, sowohl die Entscheidung zur Arbeits-
aufnahme als auch die Gestaltung der Arbeitsbedingungen betreffend. Diese
Freiräume wurden von der DRV nicht wahrgenommen. Sie legte die Begriffe
der „Freiwilligkeit“ und des „Entgelts“ derart restriktiv aus, dass sich eine Ab-
lehnungsquote von nahezu 90 Prozent ergab.

Erst die Entscheidung des Bundessozialgerichts von 2009 hat den Weg frei-
gemacht für eine der damaligen historischen Situation angemessene Interpreta-
tion der strittigen Begriffe.

Die von der DRV daraufhin vorgenommene Neuüberprüfung der zuvor ab-
gelehnten Anträge ergab denn auch eine Anerkennungsquote von über 90 Pro-
zent. Die Genugtuung darüber, dass die Rentenansprüche dieser Nazi-Opfer
doch noch anerkannt wurden, wird jedoch durch zwei Umstände stark getrübt:
Zum einen haben fast 7 000 Personen das Urteil des BSG nicht mehr erlebt;
in 21 000 weiteren Fällen konnten die Anträge aus anderen Gründen nicht mehr
neu beschieden werden. Zum anderen wird die ursprüngliche Absicht des
ZRBG, eine Rentenauszahlung ab 1. Juli 1997 zu gewährleisten, nunmehr ver-
fehlt. Die Rückwirkung gilt nun erst ab dem 1. Januar 2005. Die Bundesregie-
rung erklärt dies mit der im allgemeinen Sozialrecht geltenden Praxis einer
maximal vier Jahre möglichen Rückwirkung.

Im konkreten Fall ist diese Praxis jedoch nicht hinnehmbar. Es ist beschämend
genug, dass Rentenansprüche der ins Ghetto gezwungenen Menschen erst Ende
der 90er- Jahre bestätigt wurden. Die Überlebenden des Holocaust haben die
Differenzen und unterschiedlichen Rechtsauffassungen zwischen DRV, BSG
und Gesetzgeber nicht zu verantworten. Sie sind nicht daran schuld, dass die
Klärung der Gesetzesbegriffe erst viele Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes
erfolgt ist. Deshalb ist es untragbar, sie indirekt dafür zahlen zu lassen, indem
man ihnen sechseinhalb Jahre ihrer Rentenzahlungen nimmt.

Die finanzielle Mehrbelastung für die Bundesrepublik Deutschland ist übersicht-
lich: Realistisch gesehen hat sie bereits allein dadurch, dass 7 000 eigentlich
leistungsberechtigte Menschen zwischenzeitlich verstorben sind, Geld gespart.
Legt man die Kostenannahmen des ZRBG zugrunde – für je 1 000 Berechtigte
jährlich Mehrausgaben in Höhe von rund 1,6 Mio. Euro – kommt man bei rund
20 000 Leistungsberechtigten und sechseinhalb Jahren Rückzahlung auf
208 Mio. Euro.

Die Bundesrepublik Deutschland hat schon einmal, bei der Formulierung des
ZRBG, „rentenrechtliches Neuland“ betreten. Sie kann und sollte dies erneut
tun.

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