BT-Drucksache 17/791

Haiti entschulden und langfristig beim Wiederaufbau unterstützen

Vom 24. Februar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/791
17. Wahlperiode 24. 02. 2010

Antrag
der Abgeordneten Thilo Hoppe, TomKoenigs, Ute Koczy, Uwe Kekeritz, Dr. Frithjof
Schmidt, Priska Hinz (Herborn), Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, Katja Keul, Maria Klein-Schmeink,
Agnes Malczak, Jerzy Montag, Kerstin Müller (Köln), Beate Müller-Gemmeke,
Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Hans-Christian
Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Haiti entschulden und langfristig beimWiederaufbau unterstützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Katastrophe, die Haiti am 12. Januar 2010 erfahren musste, zerstörte die
schon ohnehin schlechte Infrastruktur des ärmsten Landes Amerikas. Das Erdbe-
ben hat das Land schwer getroffen – geschätzte 250 000 Tote, 300 000 Verletzte
und eine Million Menschen ohne Obdach. Die internationale Gemeinschaft geht
davon aus, dass die Auswirkungen der Katastrophe in Haiti tiefgreifender als die
des Tsunamis in Südostasien sind. In ihremFlash-Appeal für Haiti bezifferten die
Vereinten Nationen drei MillionenMenschen als akut hilfsbedürftig.

Der Wiederaufbau des Landes wird mehrere Jahre in Anspruch nehmen und bis
zu 15 Mrd. US-Dollar kosten. Die Bundesregierung und die internationale
Gemeinschaft müssen langfristig Verantwortung übernehmen, damit die drin-
gendsten Bedürfnisse der Bevölkerung in Haiti befriedigt werden können und
der Übergang in eine nachhaltige Entwicklung gelingt. Voraussichtlich Ende
März 2010 werden die Vereinten Nationen eine Hilfskonferenz für Haiti aus-
richten. Auf Bitte von VN-Generalsekretär Ban Ki Moon stimmte Bill Clinton
am 3. Februar 2010 zu, die Soforthilfen und den langfristigen Wiederaufbau als
Haiti-Koordinator zu führen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im laufenden Haushaltsverfahren einen Sondertitel „Wiederaufbauhilfe nach
dem Erdbeben in Haiti“ in den Einzelplan 23 einzustellen, über den innerhalb
der nächsten fünf Jahre 600 Mio. Euro für den nachhaltigen Wiederaufbau
Haitis bereitgestellt werden;

2. sich dafür einzusetzen, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihre
Maßnahmen imRat und in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission abstim-
menmit demZiel, eine gemeinsame und langfristig ausgerichteteAntwort auf
die Katastrophe in Haiti und für denWiederaufbau zu finden;

3. sich in den Gremien der relevanten multilateralen Gläubiger (Internationaler
Währungsfonds – IWF –, Interamerikanische Entwicklungsbank – IDB –,
Weltbank, Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung – IFAD )
für eine komplette Entschuldung Haitis einzusetzen;

Drucksache 17/791 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

4. sich im Rahmen der internationalen Gemeinschaft für die Entwicklung und
Umsetzung eines nicht auf Krediten, sondern auf Zuschüssen beruhenden
„Marshall-Plans“ für Haiti einzusetzen, der einen nachhaltigenWiederaufbau
des Landes gewährleistet;

5. sich dafür einzusetzen, dass die Vereinten Nationen gemeinsammit den haiti-
anischen Autoritäten das MINUSTAH-Mandat überprüfen und dass dieses
entsprechend den Bedürfnissen des Landes nach der Katastrophe neu ausge-
richtet wird;

6. sich im Falle einer Neuausrichtung des MINUSTAH-Mandates dafür einzu-
setzen, dass MINUSTAH die hierfür notwendigen finanziellen und personel-
len Kapazitäten und Ressourcen erhält;

7. Initiativen zur Versorgung von Schwerstverletzten auch außerhalb Haitis zu
unterstützen und diesen gegebenfalls unbürokratisch die Einreise zur medizi-
nischen Versorgung in Deutschland zu ermöglichen;

8. sich imRahmen der EU und derVereintenNationen fürMaßnahmen einzuset-
zen, die die haitianische Regierung beimVorgehen gegen illegale Adoptionen
und Kinderhandel unterstützen.

Berlin, den 24. Februar 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Trotz großer Spenden- und Hilfsbereitschaft hat die internationale Gemeinschaft
bisher keine verbindlichen Zusagen für den Wiederaufbau Haitis gemacht. Die
Weltbank schätzt, dass die Kosten hierfür mindestens 10 Mrd. US-Dollar be-
tragen werden, andere Schätzungen gehen von bis zu 15 Mrd. US-Dollar aus.
Laut Angaben der Vereinten Nationen wird Haiti für mindestens zehn Jahre auf
massive internationale Hilfe angewiesen sein.

Nach dem Tsunami im indischen Ozean wurde im Haushalt 2006 im Einzel-
plan 23 unter „Besondere Finanzierungsausgaben“ der Titel „Wiederaufbauhilfe
nach dem Seebeben im Indischen Ozean“ eingestellt. Daran anknüpfend fordern
wir, einen entsprechenden Titel für den Wiederaufbau Haitis einzurichten und
damit eine verbindliche Zusage für die deutsche Beteiligung am Wiederaufbau
Haitis zu machen. Deutschland ist eines der führenden Industrieländer mit einem
Anteil am Weltbruttosozialprodukt von rund 6 Prozent. Nimmt man dies sowie
die für den Wiederaufbau notwendigen zehn bis 15 Mrd. US-Dollar zum Maß-
stab, dann sollte Deutschland insgesamt 600 Mio. Euro, verteilt auf fünf Jahre,
für den nachhaltigenWiederaufbau Haitis bereitstellen.

Die Bundesregierung muss sich in ihrer Funktion als Gouverneur bei den rele-
vanten multilateralen Gläubigern – IWF, IDB, IDA (International Development
Assoziation), IFAD – für eine komplette Entschuldung Haitis einsetzen. Am
21. Januar 2010 kündigte der geschäftsführende Direktor des IWF, Dominique
Strauss-Kahn, an, dass der IWF nicht nur die eigenen Forderungen erlassen,
sondern auf einen allgemeinen Schuldenerlass zugunsten Haitis hinarbeiten
werde. Das Thema „Schuldenerlass für Haiti“ wurde jedoch von den Direktoren
demonstrativ nicht auf die Tagesordnung der Vorstandssitzung vom 27. Januar
2010 gesetzt. Stattdessen beschloss der IWF Katastrophenhilfe in Form eines
neuen zinslosen Kredites.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/791

Als verlogen muss das Agieren der G7-Finanzminister bezeichnet werden: Auf
ihrem Treffen am 6. Februar 2010 im kanadischen Igaluit verkündeten sie – von
deutschen und internationalen Medien gebührend wahrgenommen –, dem erd-
bebenzerstörten Haiti alle bilateralen Schulden erlassen zu wollen. Haiti hat aber
bereits seit Juni 2009 keine bilateralen Schulden mehr gegenüber einem der
G7-Staaten. Die einzigen übrigen bilateralen Gläubiger, Venezuela und Taiwan,
haben bereits angekündigt, demKaribikstaat die Schulden zu erlassen.

Die sofortige umfassende Schuldenstreichung aufgrund der Katastrophe wäre
ein richtiger Schritt und würde die Notwendigkeit eines schuldenfreien Neu-
anfangs Haitis jenseits der unmittelbaren Katastrophenhilfe anerkennen. Die
chronische Abhängigkeit des Landes von den internationalen Finanzinstitutio-
nen könnte so reduziert werden. Die Verschuldung Haitis begann vor beinahe
200 Jahren, als die ehemaligeKolonialmacht FrankreichHaiti mit hohenRepara-
tionszahlungen belegte, die als Ausgleich für Frankreichs „Verlust“ an Eigen-
tumswerten und Sklaven dienen sollte.

Bereits vor der Katastrophe galt Haiti als gescheiterter Staat, gekennzeichnet von
Gewalt, nicht funktionierenden staatlichen Strukturen, politischer Instabilität,
Hungerkrisen und ökologischer Zerstörung. Entscheidend für denWiederaufbau
ist es daher, dass dieser engmit demAufbau funktionierender staatlicher Struktu-
ren verknüpft wird. Sicherheit, Logistik und Koordination dürfen nicht allein der
internationalen Gemeinschaft überlassen werden.

Der Wiederaufbau in Haiti muss nachhaltig sein, unter Partizipation der Bevöl-
kerung erfolgen und rechtsstaatliche Strukturen zum Schutz derMenschenrechte
fördern. Der Aufbau der Infrastruktur muss eng mit der Entstehung handlungs-
fähiger staatlicher Strukturen verknüpft werden. Im Fokus der Entwicklungszu-
sammenarbeit mit Haiti sollte der Aufbau eines nachhaltigen, auf die lokale
Nahrungsmittelproduktion ausgerichteten Agrarsektors stehen.

Einwesentliches Element derWiederaufbauhilfemuss darin bestehen, die Selbst-
organisation der Gesellschaft zu stärken. Im haitischen Kreolisch werden Frauen
„poto mitan – tragende Säulen“ genannt. Ohne eine substantielle Beteiligung der
Frauen und deren Schutz vor Gewalt und dem Bandenwesen kann der Wieder-
aufbau nicht gelingen. Dafür müssen jetzt genderspezifische Strukturen geschaf-
fen werden, die dazu beitragen, dass die Rolle der Frau gestärkt wird und ihre
Mitspracherechte umgesetzt werden.

Während humanitäre Hilfe nach Naturkatastrophen in der Regel schnell, effektiv
und ausreichend finanziert erfolgt, stellt die internationale Gemeinschaft für den
langfristigen Wiederaufbau häufig deutlich weniger Ressourcen zur Verfügung.
Daher ist es entscheidend, dass die Bundesrepublik Deutschland und andere
Geber einen umfassenden, auf Dauer angelegten und nicht auf Krediten, sondern
Hilfen beruhenden „Marshall-Plan“ für Haiti entwickeln und entsprechend der
oben genannten Kriterien implementieren.

Das MINUSTAH-Mandat erscheint für die Aufgaben, die sich nach der ver-
heerenden Erdbebenkatastrophe ergeben haben, zu eng gefasst. Zusätzliche
Maßnahmen zum kurz- und langfristigen Wiederaufbau des Landes sind erfor-
derlich und müssen koordiniert werden. Dafür müssen die bereits bestehenden
Strukturen der MINUSTAH durch eine Erweiterung des Mandats genutzt und
weiter ausgebaut werden. Hierbei ist es entscheidend, dass das Mandat der UN-
Mission an den Bedürfnissen der haitianischen Bevölkerung ausgerichtet wird
und eine klare Zieldefinition mit Prioritäten enthält.

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