BT-Drucksache 17/7872

Behindern ist heilbar - Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft

Vom 22. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7872
17. Wahlperiode 22. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald,
Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Diana Golze, Katja Kipping, Jutta Krellmann,
Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Kathrin Senger-Schäfer, Kersten Steinke,
Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Behindern ist heilbar – Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Nach 30 Jahren Engagement der internationalen Behindertenbewegung
verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen (VN) am
16. Dezember 2006 die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK). Ziel der
Konvention ist die volle und gleichberechtige Teilhabe aller Menschen mit
sichtbaren und/oder nicht sichtbaren Behinderungen. Dies setzt die uneinge-
schränkte Geltung aller Menschen- und Bürgerrechte auch für Menschen mit
Behinderungen voraus.

2. Bundestag und Bundesrat stimmten einstimmig der BRK einschließlich ih-
res Zusatzprotokolls ohne Einschränkungen im Dezember 2008 zu. Seit dem
26. März 2009 ist die BRK in Deutschland in Kraft.

3. Die BRK gibt es in den sechs amtlichen Sprachen der VN. Die von der Bun-
desregierung mit Bundestagsdrucksache 16/10808 vom 8. November 2008
im Rahmen eines Gesetzentwurfs zum Ratifikationsgesetz vorgelegte deut-
sche Übersetzung steht in der Kritik, unter anderem, weil wichtige Begriffe
wie „inclusive“ mit „integrativ“ statt „inklusiv“ oder „Accessibility“ mit
„Zugänglichkeit“ statt „Barrierefreiheit“ übersetzt wurden. Um auch in der
deutschen Sprache dem Geist der BRK möglichst genau zu entsprechen, hat
die Behindertenbewegung eine sogenannte Schattenübersetzung ver-
öffentlicht (siehe www.netzwerk-artikel-3.de).

4. Forderungen aus der Behindertenbewegung und von der Fraktion DIE LINKE.
nach einem nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der BRK (siehe Bundes-
tagsdrucksache 16/11244 vom 3. Dezember 2008) fanden im Deutschen
Bundestag keine Mehrheit. Erst am 15. Juni 2011 beschloss die Bundes-
regierung unter der Überschrift „Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“
einen „Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-

Behindertenrechtskonvention“ (NAP). Dieser Aktionsplan wurde dem Deut-
schen Bundestag – im Unterschied zu vielen anderen seit 2010 beschlossenen
Aktionsplänen der Bundesregierung – nicht offiziell, also als „Unterrichtung
durch die Bundesregierung“ zur Kenntnis bzw. Beratung zugeleitet. Statt-
dessen teilte die zuständige Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen den
Mitgliedern des Bundestages lediglich in einem Schreiben mit, über welchen
Internet-Link der Aktionsplan abrufbar sei.

Drucksache 17/7872 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

5. Trotzdem führte der Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bun-
destages am 17. Oktober 2011 im Rahmen seines Selbstbefassungsrechtes
eine Anhörung zum NAP durch. In den schriftlichen Stellungnahmen der ein-
geladenen Menschen mit Behinderungen bzw. deren Organisationen sowie
in der zweistündigen Anhörung gab es durchgängig Kritik an dem NAP. Die
Kritik betraf insbesondere die fehlende Bereitschaft, ein umfassendes Dis-
kriminierungsverbot zu verabschieden, die fehlende Bereitschaft, systema-
tisch alle bestehenden Gesetze und Verordnungen auf ihre Kompatibilität
mit der BRK zu überprüfen, die fehlende Bereitschaft zu tatsächlichen Ver-
änderungen, die fehlende Bereitschaft, den Kostenvorbehalt in § 13 des
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) aufzuheben sowie die feh-
lende Bereitschaft, die während der Erarbeitung des NAP aus der Behinder-
tenbewegung eingebrachten Vorschläge aufzugreifen und zur Grundlage des
NAP zu machen.

6. Die Umsetzung der BRK ist eine herausragende Aufgabe der gesamten Ge-
sellschaft, welche engagiert und zielgerichtet ohne weiteren zeitlichen Ver-
zug in Angriff genommen werden muss. Die Umsetzung des NAP kann ein
Beitrag zur Umsetzung der BRK sein. Maßstab aller weiteren Aktivitäten
der Bundesregierung, aber auch der Länder und Kommunen ist nicht der
NAP, sondern die UN-Behindertenrechtskonvention. In diesem Sinne ist der
NAP laufend fortzuschreiben und zu ergänzen, weitere Maßnahmen – auch
der Bundesregierung – sind erwünscht und notwendig.

7. Die Dachkampagne der Bundesregierung „Behindern ist heilbar“ (siehe
Pressemitteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom
4. Oktober 2011) muss mit spür- und sichtbaren Veränderungen in der Ar-
beitsweise der Bundesregierung auf behindertenpolitischem Gebiet einher-
gehen.

8. Politische Entscheidungen, die Menschen mit Behinderungen direkt oder
indirekt betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-Konvention über die
Rechte der Menschen mit Behinderungen messen lassen. Um diesem, auch
2009 im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP formulierten, An-
spruch gerecht zu werden, müssen die Beteiligungsrechte von Menschen
mit Behinderungen, einschließlich Kindern mit Behinderungen, über die sie
vertretenden Organisationen (nach Artikel 4 Absatz 3 BRK) deutlich er-
weitert werden. Dazu gehören die Stärkung der Rechte und Ausstattungen
der Behindertenbeauftragten und Behindertenbeiräte ebenso wie verbind-
lichere Regelungen zur Mitsprache von Behindertenverbänden und deren
institutionelle Förderung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den NAP dem Bundestag unverzüglich offiziell als „Unterrichtung durch die
Bundesregierung“ zuzuleiten, um eine umfassende Beratung des NAP zu er-
möglichen;

2. den NAP im Jahr 2012 auf der Basis der Ergebnisse der Beratungen in Bun-
destag und Bundesrat sowie mit den Menschen mit Behinderungen und der
sie vertretenden Organisationen zu überarbeiten;

3. einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem ein umfassendes Diskriminie-
rungsverbot gesetzlich festgeschrieben wird;

4. darauf hinzuwirken, dass die für die Umsetzung des Aktionsplans notwen-
digen Ressourcen verbindlich in die kommenden Haushaltsplanungen einge-
bunden werden;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7872

5. in einem „Screening“ alle bestehenden Gesetze und Verordnungen des
Bundes auf ihre Kompatibilität mit der BRK zu überprüfen und dem Bun-
destag bis zum Sommer 2012 einen Plan zur Novellierung der änderungs-
bedürftigen Gesetze und Verordnungen vorzulegen;

6. mit einer Gesetzesänderung den Kostenvorbehalt in § 13 SGB XII unver-
züglich aufzuheben;

7. sicherzustellen, dass unverzüglich die Ausschreibungen und Vergaben von
öffentlichen Aufträgen sowie Förderungen nur in Übereinstimmung mit
der BRK erfolgen, wozu die Schaffung bzw. Gewährleistung von Barriere-
freiheit als verbindliches Kriterium gehört;

8. in allen Veröffentlichungen der Bundesregierung und ihrer nachgeordneten
Einrichtungen sowie in allen von der Bundesregierung geförderten Ver-
öffentlichungen nur noch die „Schattenübersetzung“ des Vereins NETZ-
WERK ARTIKEL 3 der BRK zu verwenden;

9. mit den Bundesländern und den deutschsprachigen Staaten in Konsultatio-
nen darauf zu drängen, dass auch dort nur noch die „Schattenübersetzung“
verwendet wird;

10. bei der Erarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen
Konzepten und bei anderen Entscheidungsprozessen, die Menschen mit
Behinderungen betreffen, deren aktive Beteiligung zu gewährleisten. Dies
schließt die Novellierung der Geschäftsordnung der Bundesregierung und
der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien sowie entspre-
chende Förderungen der Behindertenverbände ein.

Berlin, den 22. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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