BT-Drucksache 17/6297

Personelle und institutionelle Kontinuitäten und Brüche in deutschen Ministerien und Behörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlich NS-Vorgängerinstitutionen untersuchen

Vom 28. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6297
17. Wahlperiode 28. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Siegmund Ehrmann, Petra
Ernstberger, Gabriele Fograscher, Iris Gleicke, Wolfgang Gunkel, Michael
Hartmann (Wackernheim), Frank Hofmann (Volkach), Daniela Kolbe (Leipzig),
Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Christine Lambrecht, Kirsten Lühmann,
Thomas Oppermann, Gerold Reichenbach, Ulla Schmidt (Aachen), Rüdiger Veit,
Dr. Dieter Wiefelspütz, Brigitte Zypries, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der
Fraktion der SPD

Personelle und institutionelle Kontinuitäten und Brüche in deutschen Ministerien
und Behörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlich NS-Vorgängerinstitutionen
untersuchen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bundesrepublik Deutschland begreift sich als Gemeinwesen, das aus der
menschenverachtenden und -vernichtenden Politik des Nationalsozialismus ge-
lernt hat und bis heute Konsequenzen aus der Vergangenheit zieht. Um diesem
Selbstverständnis gerecht zu werden, ist es notwendig, das Wissen über die Zeit
des Nationalsozialismus beständig zu erweitern. Mittlerweile gehört dieser Teil
der deutschen Vergangenheit zu den besterforschten Gebieten der deutschen
Geschichte. Gleichwohl bleiben auch heute noch dringliche Fragen unbeant-
wortet. Personelle und institutionelle Kontinuitäten und Brüche in den deut-
schen Ministerien und Behörden der Nachkriegszeit wurden bislang lediglich
punktuell, nicht jedoch umfassend und systematisch erforscht. Dieses Versäum-
nis zu beheben, gebietet der verantwortungsvolle und reflektierte Umgang mit
der deutschen Vergangenheit. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit erfordert
die aktive Mitarbeit durch alle Bundesministerien und -behörden.

Seit den 90er-Jahren hat sich der Blick der historischen Forschung verstärkt auf
jene Personen und Verantwortlichen gerichtet, die während der Zeit des Natio-
nalsozialismus als Akteure in Ministerien und Behörden eher im Hintergrund
arbeiteten. In ihren jeweiligen Funktionen wirkten sie maßgeblich an der Um-
setzung der nationalsozialistischen Politik mit. Als Mitarbeiter oder Beamte
stellten sie ihren Sachverstand in den Dienst des Regimes und trugen dazu bei,
dass in den unterschiedlichen Ressorts spezifisch nationalsozialistische Ziele
und Maßnahmen ausgearbeitet und durchgeführt wurden.
Die Frage danach, was aus den Mitarbeitern und Beamten nach 1945 im geteil-
ten Deutschland geworden ist, knüpft logisch an die Erkenntnisse über die Zeit
des Nationalsozialismus an. Gleichzeitig rührt sie an die Grundfesten der
Politik im Nachkriegsdeutschland. In Behörden und Ministerien der Bundes-
republik Deutschland und auch der Deutschen Demokratischen Republik
(DDR) fanden Angehörige der vorherigen Reichsministerien und Reichsbehör-

Drucksache 17/6297 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

den erneut Anstellungen und damit auch belastete und an Verbrechen beteiligte
Personen.

Ministerien und Behörden existieren und handeln nicht unabhängig von den
Menschen, die darin arbeiten. Mit der personellen Kontinuität belasteter und an
Verbrechen beteiligter Personen überdauerte nationalsozialistisches Gedanken-
gut in Ministerien wie Behörden und prägte so auch manches Handeln in der
Nachkriegszeit. Erst das genaue Wissen über Kontinuitäten und Traditions-
linien ermöglicht die verlässliche gesellschaftliche, juristische und politische
Bewertung möglicher Versäumnisse und Blockaden bei der Verfolgung von
nationalsozialistischen Tätern in der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland
und der DDR. Darüber hinaus macht es die schwierigen Bedingungen deutlich,
unter denen der gesellschaftliche Transformationsprozess hin zu einem stabilen
demokratischen Staatswesen der Bundesrepublik Deutschland erfolgte. Auch
das Vorgehen und die Folgen der Integration belasteter Personen in der ehe-
maligen DDR sind vor diesem Hintergrund zu bewerten.

Dass die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit lange Zeit auf
Widerstände traf und es mutiger Juristen, Journalisten und Forscher bedurfte,
um die Aufdeckung und Verfolgung von Tätern überhaupt in Gang zu setzen,
ist als trauriger Befund in der Geschichte des Nachkriegsdeutschland zu kon-
statieren. Eine umfassende Untersuchung der verhinderten Aufklärung auf-
grund personeller Kontinuitäten von Mitarbeitern in entscheidenden Funktio-
nen und Positionen der staatlichen Einrichtungen steht noch aus.

Nach wie vor sind erhebliche Forschungslücken und -hindernisse zu beklagen
und festzustellen. Neueste Forschungen über das Auswärtige Amt und das Bun-
deskriminalamt sowie der jüngste Auftrag zu einer Studie über den Bundes-
nachrichtendienst zeigen gleichwohl, wie groß noch bzw. gerade heute der Be-
darf an Aufklärung bei den Bundesministerien und -behörden ist. Das öffentli-
che Interesse daran ist ungebrochen hoch.

Vor allem Zugangsbeschränkungen bzw. die Geheimhaltung von Akten der Mi-
nisterien und Behörden erschweren bis heute die Aufarbeitung. So ist ein eigens
angefertigter Bericht über die Vorgängerinstitutionen des Bundesministeriums
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz bislang nicht veröffent-
licht worden. Auch Berufs- und Interessenverbände, die vor und nach 1945 in
enger Abstimmung mit Ministerien und Behörden arbeiteten und bei denen
ebenfalls personelle und inhaltliche Kontinuitäten zu untersuchen wären, wei-
gern sich noch immer häufig, Wissenschaftlern ihre Archive zu öffnen.

Auch um des Vertrauens der Bürger in ihre Staatsorgane willen sieht sich der
Deutsche Bundestag in der Pflicht, Transparenz, Offenheit und Information
über alle Bereiche der Exekutive hinsichtlich personeller und institutioneller
Kontinuitäten und Brüche in Bezug auf nationalsozialistische Vorgängerinstitu-
tionen einzufordern. Ausdrücklich würdigt er die, insbesondere unter sozialde-
mokratischer Regierungsbeteiligung initiierten, jüngst begonnenen und abge-
schlossenen Projekte der Behörden und Ministerien zur Aufarbeitung ihrer Ge-
schichte. Solche vorbildlichen Forschungen sind zu unterstützten und auf wei-
tere Bundesministerien und Behörden auszuweiten. Vor diesem Hintergrund ist
es zudem erforderlich, die Aufarbeitung der NS-Kontinuitäten in Bundesminis-
terien und -behörden einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Um verlässliche und nachvollziehbare Ergebnisse zu erzielen, ist im Verfahren
der Organisation und Durchführung der Aufarbeitung ein Höchstmaß an Trans-
parenz sicherzustellen. Nach klaren Kriterien und Regeln sind unabhängige und
kompetente Wissenschaftler mit der Bearbeitung zu beauftragen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6297

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ein deutliches Signal zu setzen und fachkundige Historikerinnen und Histo-
riker, die in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit unabhängig und selbst-
bestimmt arbeiten können, mit der sorgfältigen wissenschaftlichen Aufarbei-
tung

a) der nationalsozialistischen Geschichte der wichtigsten Reichsministerien
mit nachgeordneten Behörden sowie

b) der personellen und institutionellen Kontinuitäten und Brüche hinsicht-
lich der in der Bundesrepublik Deutschland nachfolgenden Bundesminis-
terien (Bundesministerium des Innern, der Finanzen, der Verteidigung,
der Justiz, für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und für Wirtschaft und
Technologie) mit nachgeordneten Behörden,

c) unter Einbeziehung auch von Institutionen der DDR,

zu beauftragen;

2. dass in einzelnen Bundesministerien bereits vorhandene Forschungsergeb-
nisse und -berichte zur nationalsozialistischen Geschichte der Vorgänger-
institutionen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden;

3. Archive und Quellenbestände zu erschließen, um sie damit dauerhaft zu er-
halten und zu sichern und sie den beauftragten Wissenschaftlern zur wissen-
schaftlichen Aufarbeitung uneingeschränkt zugänglich zu machen;

4. die für Aufarbeitung und Publikation nötigen Mittel in den Einzelhaushalten
der jeweiligen Ministerien zur Verfügung zu stellen;

5. die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Aufarbeitung in geeigneter Weise
zu veröffentlichen.

Dem Bundestag ist bis Ende 2011 ein Zwischenbericht vorzulegen, der eine
Übersicht über bereits erfolgte Forschungen, laufende Projekte sowie be-
stehende Forschungslücken bietet. Dieser Bestandsaufnahme sind darüber
hinaus ein Ablauf- und Zeitplan sowie ein Finanzierungskonzept für die Durch-
führung der Aufarbeitung anzufügen.

Berlin, den 28. Juni 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.