BT-Drucksache 17/5934

Mit Essen spielt man nicht - Spekulation mit Agrarrohstoffen eindämmen

Vom 25. Mai 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5934
17. Wahlperiode 25. 05. 2011

Antrag
der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Gerhard Schick, Ulrike Höfken, Lisa Paus,
Viola von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Cornelia Behm, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Ute Koczy, Tom Koenigs,
Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln),
Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt,
Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mit Essen spielt man nicht – Spekulation mit Agrarrohstoffen eindämmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Preise für Agrarrohstoffe im Allgemeinen sowie Nahrungsmittel im Beson-
deren erreichen neue Rekordwerte auf den internationalen Märkten. So stieg der
Food-Price-Index der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Ver-
einten Nationen (FAO) im Februar 2011 den achten Monat in Folge und ver-
zeichnete erneut einen Höchststand seit seiner rückwirkenden Einführung im
Jahr 1990. Die Zahlen der Weltbank und des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-
Instituts gemeinnützige GmbH unterstreichen diesen steilen Aufwärtstrend.
Besonders gravierend fällt die Verteuerung für Grundnahrungsmittel wie Wei-
zen (77 bis 80 Prozent Anstieg gegenüber Vorjahresmonat), Mais (77 Prozent),
Zucker und Speiseöle (65 Prozent) aus. Die Preise für Reis blieben bislang im
Vergleich zu den Krisenjahren 2007/2008 noch relativ stabil, beginnen jedoch in
einigen asiatischen Ländern anzuziehen. Zudem zeichnen sich die Entwicklun-
gen der vergangenen Jahre auf den globalen Warenterminbörsen für Agrarroh-
stoffe durch eine extreme Preisvolatilität aus.

Die Faktoren, die die jüngsten Preisspitzen sowie die Volatilität auf den inter-
nationalen Rohstoffmärkten bedingen, sind komplex und ihr spezifischer Bei-
trag lässt sich schwer ermitteln. Es muss davon ausgegangen werden, dass die
Preise für Agrarrohstoffe bzw. Nahrungsmittel aufgrund diverser langfristiger
Rahmenbedingungen steigen werden (wachsende Weltbevölkerung, veränderte
Ernährungsgewohnheiten, Ernteverluste und Landdegradation durch Klima-
wandel, Verarbeitung von pflanzlichen Stoffen zu Biosprit). Der steigende Öl-
preis verteuert die Herstellung von Betriebsmitteln wie Stickstoffdünger, aber
auch die Transportlogistik. Verschärft wird die Situation durch die starke Kon-
zentration und dadurch bedingte Marktmacht von Akteuren im vor- und nach-
gelagerten Bereich der Landwirtschaft. Der Markt für Saatgut, Pflanzenschutz-

und Düngemittel, der Agrarhandel und auch der Lebensmittelhandel werden in-
zwischen weltweit von nur wenigen Unternehmen dominiert. Davon abgesehen
haben Veränderungen an den Finanzmärkten zu den Kursschwankungen der
vergangenen Jahre beigetragen. Auch wenn umstritten ist, wie stark sich die
Aktivitäten der Finanzmarktakteure auf die realen Lebensmittelpreise auswir-
ken: Das Wetten auf die Verteuerung von Nahrungsmitteln ist ethisch hoch

Drucksache 17/5934 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

problematisch. Agrarrohstoffe können daher nicht eine Anlageform wie jede
andere sein. Die Märkte für Agrarrohstoffe sind deshalb weitestgehend von
anderen Finanzmarktsegmenten zu trennen. Dies ist umso dringlicher, als das in
Rohstoffindexfonds investierte Kapital stetig wächst.

Inzwischen driftet das Verhältnis zwischen dem Volumen der Rohstoffderivate
und jenem der tatsächlich physisch gehandelten Rohstoffe massiv auseinander.
Dadurch wird die ursprüngliche und wichtige Funktion der Warenterminbörsen
zur Preisstabilisierung und Risikoabsicherung gefährdet. Zudem drohen die
Preise auf den Rohstoffterminmärkten nur noch bedingt ihre Signalfunktion für
Anbieter und Nachfrager zu erfüllen. Eine neue Regulierung muss somit das
Funktionieren der Märkte sicherstellen. Darüber hinaus müssen weitere Maß-
nahmen ergriffen werden, um weltweit Ernährungssicherheit zu gewährleisten.

Früher waren die Handelsplätze für Agrarrohstoffe in der Regel als nichtgewinn-
orientierte Unternehmen organisiert. Sie gehörten den dort handelnden Akteu-
ren. Anfang der 2000er-Jahre wurden jedoch wie viele andere Börsen auch die
Handelsplätze für Agrarrohstoffe selbst in gewinnorientierte Aktiengesellschaf-
ten umgewandelt, die ein Interesse an steigenden Umsätzen und neuen Markt-
teilnehmern haben und nicht nur an der möglichst effizienten Abwicklung der
Handelsaktivitäten ihrer Mitglieder bzw. Eigentümer.

Die FAO vermerkt, dass sich durch die zunehmende Integration lokaler und re-
gionaler Märkte in globale Wirtschaftsströme Preisschocks schneller und um-
greifender auf nationale Märkte durchschlagen. Die VN-Organisation weist des
Weiteren auf Befunde hin, die nahelegen, dass der wachsende Handel an den
Warenterminbörsen die Volatilität verstärkt. Für finanzschwache Entwicklungs-
länder, die stark von Lebensmittelimporten abhängig sind, bedeutet dies eine
extreme Belastung des Haushalts, hohe Inflationsraten und politische Instabili-
tät. So sind die jüngsten politischen Umbrüche in Nordafrika und im Nahen
Osten auch durch inflationäre Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln be-
dingt. Am eklatantesten ist, dass durch die aktuellen Entwicklungen auf den in-
ternationalen Rohstoffmärkten das Menschenrecht auf Nahrung und die Ernäh-
rungssicherheit der Menschen in importabhängigen Entwicklungsländern mas-
siv beschnitten wird, zumal sie im Vergleich zu Bürgerinnen und Bürgern in In-
dustrieländern das Vier- bis Sechsfache ihres Einkommens für Nahrungsmittel
ausgeben. Im Dezember 2010 verzeichnete die FAO 29 Länder, die von lokalen
oder nationalen Ernährungskrisen geprägt und von externer Nahrungsmittelhilfe
abhängig sind – und das, obwohl viele Regionen im vergangenen Jahr außer-
gewöhnlich ertragreiche Ernten einfuhren.

Die Vorzeichen für eine strengere Regulierung des Finanzsektors auch im
Bereich agrarischer Rohstoffe stehen günstig. Frankreichs Präsident Nicolas
Sarkozy hat das Thema zu einer Priorität der französischen G8- und G20-Prä-
sidentschaft erklärt; mit dem Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer
Protection Act und der Commodity Futures Trading Commission (CFTC) in den
USA liegen bereits Modelle vor, die Orientierungshilfe und erste Erfahrungen
bieten; und auf EU-Ebene wird derzeit über zwei entsprechende Richtlinien und
eine Verordnung verhandelt. Die Bundesregierung darf den aktuellen Vorteil in-
ternationaler Aufmerksamkeit nicht verspielen und sollte umgehend handeln.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass

– im Rahmen europäischer Regelungen (MiFID-Richtlinie, Verordnung zu
OTC-Derivaten; OTC – Over-the-Counter) dafür gesorgt wird, dass der
bilaterale Derivatehandel (Over-the-counter-Handel) möglichst vollstän-

dig auf geregelte Handelsplätze übertragen wird. Dazu ist eine weit-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5934

gehende Standardisierung aller Derivate notwendig. Ausnahmen für End-
nutzer (nichtfinanzielle Gegenparteien) sollten eng begrenzt bleiben;

– die neue EU-Behörde zur Wertpapieraufsicht (European Securities and
Markets Authority – ESMA) und die nationalen Behörden ihrem Auftrag
nachkommen, für transparente und stabile Märkte zu sorgen. Hochvolatile
Märkte beispielsweise für Agrarrohstoffe widersprechen diesem Ziel. Die
ESMA sollte den klaren Auftrag erhalten, Derivate vor ihrer Zulassung
auf geregelten Märkten zu überprüfen. Dafür muss sie mit ausreichend
Mitteln und Personal ausgestattet werden. Des Weiteren muss umgehend
die Einrichtung einer Spezialbehörde für die Überwachung von Rohstoff-
derivaten sowie des Handels mit physischen Rohstoffen geprüft werden;

– die Handelsplätze für Rohstoffe keine gewinnorientierten, selbst börsen-
gelisteten Unternehmen sind, weil sonst das Eigeninteresse der Handels-
plätze an Handelsumsätzen dominieren könnte;

– alle Händler strengen Berichtspflichten unterworfen sind, wobei die
Händler nach ihrer Handelstätigkeit kategorisiert werden sollten, wie dies
in den USA der Fall ist. Die Vorschriften des Wall Street Reform Acts zur
zeitlichen Taktung von Transaktionsberichten und die Veröffentlichung
der Daten sollten hierbei als Maßstab gelten;

– es Finanzinstituten nach § 1 des Kreditwesengesetzes untersagt wird,
direkt in physische Agrarrohstoffe zu investieren, sowie dass mittels ge-
eigneter Maßnahmen diesen Instituten eine mittelbare oder unmittelbare
Beteiligung an Rohstoffhandelsunternehmen und -börsen verwehrt wird;

– auch alternativen Investmentfonds wie Hedge Fonds allgemein eine Be-
grenzung für den Rohstoffderivatehandel auferlegt wird, so wie es bereits
für Fonds gilt, die der OGAW-Richtlinie unterliegen (Organismus für ge-
meinsame Anlagen in Wertpapieren). Zugleich dürfen diese Regeln nicht
umgangen werden können, zum Beispiel, indem ein OGAW-Fonds in
andere Fonds investiert, die selbst nicht den Bestimmungen für OGAW-
Fonds unterliegen;

– indirekte Investments auf Preisentwicklungen von Agrarrohstoffen bei-
spielsweise durch Retailderivate untersagt werden;

– strenge Positionslimits an allen europäischen Handelsplätzen eingeführt
werden, die ausnahmslos für alle Akteure gelten;

– Preislimits an den europäischen Warenterminbörsen eingeführt werden,
wodurch der Handel bei extremen Preisausschlägen temporär ausgesetzt
wird;

– im Rahmen der Verhandlungen zur Marktmissbrauchsrichtlinie besonde-
res Augenmerk auf Konzentrationsentwicklungen im Bereich der Agrar-
märkte gelegt wird. Die Macht einzelner Akteure auf den Märkten für
Agrarrohstoffe muss beschränkt werden, um ein reibungsloses Funktio-
nieren der Märkte zu gewährleisten;

2. sich dafür einzusetzen, dass es international zu keiner Regulierungsarbitrage
kommt, die es Finanzmarktakteuren ermöglicht, die jeweils weniger strenge
Rechtsordnung zu wählen. Das gilt insbesondere im Verhältnis zu den USA;

3. auf G20-Ebene die Initiative der französischen Regierung zu unterstützen,
das Thema Spekulation mit Agrarrohstoffen auf globaler Ebene zu diskutie-
ren und gemeinsame Vereinbarungen zu treffen. Insbesondere das Treffen
der Agrarministerinnen und -minister im Juni 2011 bietet dafür Gelegenheit;

Drucksache 17/5934 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
4. entsprechend den Empfehlungen des UN-Sonderberichterstatters für das
Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, und des International Food Policy
Research Institute, die Errichtung von physischen und virtuellen Nahrungs-
mittelreserven auf globaler und regionaler Ebene zu prüfen. Hierzu muss zu-
dem mehr in die Forschung über die Potenziale solcher Lager für die Notfall-
versorgung in Ernährungskrisen, stabile Einkommen für Agrarproduzenten
und die Verhinderung preistreibender Spekulation investiert werden.

Berlin, den 25. Mai 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.