BT-Drucksache 17/4886

Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfahren - Konsequenzen aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen

Vom 23. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4886
17. Wahlperiode 23. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck
(Köln), Marieluise Beck (Bremen), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, Katja Keul, Memet
Kilic, Tom Koenigs, Jerzy Montag, Dr. Konstantin von Notz, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Wolfgang Wieland und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfahren – Konsequenzen aus der
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. In einer Grundsatzentscheidung vom 21. Januar 2011 im Verfahren M. S. S.
gegen Belgien und Griechenland (Beschwerde-Nr. 30696/09) hat die Große
Kammer des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte (EGMR) fest-
gestellt, dass Griechenland auf Grund der dortigen Haft- und Lebensbedin-
gungen, denen der schutzsuchende Beschwerdeführer dort ausgesetzt war,
Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot der un-
menschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe) verletzt hat.
Wegen der zahlreichen Defizite in seinem Asylverfahren hat Griechenland
zudem Artikel 13 der Konvention (Anspruch auf rechtliches Gehör) in Ver-
bindung mit Artikel 3 verletzt.

Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, auch Belgien habe die Europäische
Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt, als es den Beschwerdeführer
im Rahmen der Dublin-II-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 343/2003) nach
Griechenland überstellte: Zum einen habe Belgien gegen Artikel 3 EMRK
verstoßen, indem es den Beschwerdeführer den Gefahren ausgesetzt habe,
die sich aus den Mängeln im Asylverfahren und aus den Haft- und Lebens-
bedingungen in Griechenland ergaben. Zum anderen sei Artikel 13 EMRK
(in Verbindung mit Artikel 3) dadurch verletzt worden, dass es keine Mög-
lichkeit für den Beschwerdeführer gegeben hatte, in Belgien gegen die Ent-
scheidung, ihn nach Griechenland zu überstellen, wirksame Rechtsmittel ein-
zulegen.

2. Diese Entscheidung des EGMR hat unmittelbare und weitreichende Folgen
für den Rechtsschutz im Asylverfahren in Deutschland. Denn die deutsche

Regelung, wonach die aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln gegen eine
Dublin-Überstellung ausgeschlossen ist, ist mit der Europäischen Menschen-
rechtskonvention nicht vereinbar.

Drucksache 17/4886 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem der in § 18 Absatz 2,
§§ 27a, 34a Absatz 2 und § 75 AsylVfG vorgesehene Ausschluss des vorläu-
figen Rechtsschutzes gegen Überstellungen im Rahmen der Dublin-II-Ver-
ordnung aufgehoben wird und gegen derartige Überstellungen im deutschen
Recht ein effektiver Rechtsschutz gemäß der Europäischen Menschenrechts-
konvention und europarechtlichen Vorgaben festgeschrieben wird;

2. sich in den Verhandlungen über die Neufassung der Dublin-II-Verordnung
sowie der Asylverfahrens-Richtlinie (2005/85/EG) im Rat nachdrücklich da-
für einzusetzen, dass Asylantragstellen der Zugang zu einem wirksamen
Rechtsbehelf in Einklang mit der EGMR-Rechtsprechung und mit den
gemeinschafts- und völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten
garantiert wird.

Berlin, den 22. Februar 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Zu Nummer 1

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in der Entschei-
dung M. S. S. gegen Belgien und Griechenland unmissverständlich klargestellt,
dass die Haft- und Lebensbedingungen für Flüchtlinge in Griechenland gegen
die Menschenrechte verstoßen. Andere europäische Staaten dürfen Asylsu-
chende daher nicht nach Griechenland überstellen. Das Gericht hat auch festge-
stellt, dass ein Schutzsuchender in jedem Fall vor einer Rückführung in einen
anderen EU-Mitgliedstaat die Möglichkeit einer effektiven rechtlichen Über-
prüfung mit aufschiebender Wirkung haben muss. Eine solche Möglichkeit gibt
es aber nach geltendem deutschen Recht nicht.

Seit den mit dem ersten EU-Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 eingeführten Än-
derungen wurde über § 34a Absatz 2 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) der
einstweilige Rechtsschutz gegen Entscheidungen im Verfahren nach der Dublin-
II-Verordnung generell ausgeschlossen. Vom Ausland aus kann ein effektiver
Rechtsschutz vor deutschen Verwaltungsgerichten nicht greifen. Ein Rechtsbe-
helf ist nur dann wirksam, wenn irreparable Folgen, wie sie durch die sofortige
Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme vor deren gerichtlicher Überprüfung
eintreten können, soweit als möglich ausgeschlossen werden können.

Die große Mehrheit der Verwaltungsgerichte setzt sich inzwischen in Verfahren
des einstweiligen Rechtsschutzes gegen Abschiebungsanordnungen des Bun-
desamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über den Wortlaut des § 34a
Absatz 2 AsylVfG hinweg. Sie nehmen damit – entgegen der ausdrücklichen ge-
setzlichen Regelung – einen Entscheidungsspielraum in Anspruch, der demjeni-
gen gleicht, den das Bundesverfassungsgericht für die Aussetzung des Vollzugs
von Abschiebungsanordnungen im Rahmen des Erlasses von einstweiligen An-
ordnungen gemäß § 32 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht für sich
in Anspruch nimmt. Zur Begründung wird von den Gerichten ausgeführt, die
Bestimmung des § 34a Absatz 2 AsylVfG sei verfassungskonform dahingehend
auszulegen, dass sie entgegen ihrem Wortlaut die Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes im Zusammenhang mit geplanten Abschiebungen auf der

Grundlage der Dublin-II-Verordnung nicht generell verbiete.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4886

Es erscheint dringend geboten, die menschen- und europarechtswidrigen Be-
stimmungen des deutschen Rechts aufzuheben und im deutschen Recht effek-
tiven Rechtsschutz gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention und
europarechtlichen Vorgaben festzuschreiben. Eine Möglichkeit hierzu bietet das
derzeit von der Bundesregierung vorbereitete Zweite Richtlinienumsetzungs-
gesetz, mit dem u. a. die Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG) in
nationales Recht umgesetzt werden soll, die in ihrem Artikel 13 ebenfalls die
Gewährung effektiven Rechtsschutzes fordert.

Zu Nummer 2

Sowohl die Dublin-II-Verordnung als auch die Asylverfahrensrichtlinie befin-
den sich derzeit auf EU-Ebene in der Neuverhandlung. Die klare neue Recht-
sprechung des EGMR ist bei der Neuformulierung des EU-Rechts so umzuset-
zen, dass alle Mitgliedstaaten klare und verbindliche Vorgaben für EMRK- und
europarechtskonformen effektiven Rechtsschutz erhalten.

Nach der vorgeschlagenen Neufassung der Asylverfahrensrichtlinie ist vorgese-
hen, dass erstinstanzliche Entscheidungen umfassend von einem Gericht nach-
geprüft werden, wobei sich die Nachprüfung im Einklang mit dem Begriff des
wirksamen Rechtsbehelfs sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen er-
streckt. Ferner wird bis auf wenige Ausnahmen die aufschiebende Wirkung des
Rechtsbehelfs gegen erstinstanzliche Entscheidungen über Anträge auf interna-
tionalen Schutz festgeschrieben.

Nachdem die Bundesregierung diese Vorschläge bisher ablehnt (vgl. Antwort
der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, Bundestagsdrucksache 17/2655 vom 16. Juli 2010, insbesondere
Frage 11), muss sie nun ihre Verhandlungsposition anpassen und ihre bisherige
Blockadehaltung aufgeben.

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