BT-Drucksache 17/4883

Herstellung des Einvernehmens zwischen Bundestag und Bundesregierung zur Änderung des Artikels 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union

Vom 23. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4883
17. Wahlperiode 23. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Alexander Bonde, Dr. Gerhard Schick,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel,
Priska Hinz (Herborn), Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul,
Ute Koczy, Tom Koenigs, Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Herstellung des Einvernehmens zwischen Bundestag und Bundesregierung
zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise
der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 GG
i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Europäische Rat hat auf seiner Sitzung am 16./17. Dezember 2010 be-
schlossen, das vereinfachte Änderungsverfahren nach Artikel 48 Absatz 6 des
Vertrags über die Europäische Union (EUV) zur Änderung des Artikels 136 des
Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) unverzüglich
einzuleiten. Künftig sollen die Euro-Staaten einen Stabilitätsmechanismus
einrichten können, der aktiviert wird, wenn dies für die Stabilität des Euro-
Währungsgebiets unabdingbar ist.

Laut § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG)
ist die Bundesregierung verpflichtet, vor der abschließenden Entscheidung über
die Aufnahme von Verhandlungen zu Änderungen der vertraglichen Grundlage
Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag herzustellen. Entsprechend hätte
dies schon vor dem Beschluss des Europäischen Rates am 16./17. Dezember
2010 über die Einleitung des vereinfachten Änderungsverfahren geschehen

müssen. Die Bundesregierung hat diese frühzeitige Einbindung des Deutschen
Bundestages unterlassen, da nach ihrer Ansicht das Einvernehmen erst vor der
förmlichen Annahme des endgültigen Beschlusses zur Änderung des Vertrages
herzustellen ist.

Um diesen Interpretationsspielraum zu schließen und §10 im Geiste des Lissa-
bon-Urteils eindeutig zu formulieren, erachtet der Deutsche Bundestag eine
Revision des EUZBBG für angemessen.

Drucksache 17/4883 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die Bundesregierung ist aufgrund ihrer immer wiederkehrenden Blockadehal-
tung für die Zuspitzung der Schuldenkrise mitverantwortlich. Sie hat die Ein-
richtung eines dauerhaften Krisenmechanismus unnötig hinausgezögert und
mit ihrer prinzipiellen Ablehnung von Euro-Bonds wieder einmal falsch ent-
schieden. Euro-Bonds, die von allen Euro-Staaten bis zu einer stabilitätswah-
renden Grenze ihrer jeweiligen Schuldenstandsquoten gemeinsam begeben
werden, würden den Wert der Preisstabilität wahren und eine stärkere Gover-
nance der EU gegenüber den nationalen Haushaltspolitiken darstellen. Bei rich-
tiger Ausgestaltung können Euro-Bonds dauerhaft besonders bedrohten Mit-
gliedstaaten dabei helfen, Luft zu holen, also den kurzfristigen Finanzierungs-
schwierigkeiten zu entgehen und ihre Refinanzierungskosten zu senken. Auch
in der aktuellen Krise könnte den Ländern so geholfen werden.

Es geht um Eigenverantwortung und europäische Solidarität. Dies schafft die
notwendige Luft für unverzichtbare nachhaltige Strukturreformen in den be-
troffenen Ländern. Ziel muss sein, tragfähige Staatsfinanzen dauerhaft um-
zusetzen. Die Euro-Bonds müssen so ausgestaltet werden, dass die Mitglied-
staaten einen hohen Anreiz haben, diese Strukturreformen möglichst schnell,
aber ökonomisch machbar umzusetzen.

Mit der strikten Ablehnung von Eurobonds wird die Notwendigkeit anderer In-
strumente für den Umgang mit Risiken für die Finanzstabilität des gesamten
Euro-Währungsgebiets unumgänglich. Klar ist: Einigt sich die EU jetzt nicht
auf ein glaubhaftes Signal, setzt sie den Erhalt des Euro und damit eines der
wichtigsten Integrationsprojekte aufs Spiel. Die Einigung auf einen permanen-
ten Stabilisierungsmechanismus setzt dieses politische Signal und ist darum
ausdrücklich zu begrüßen. Der Mechanismus kann in einzelnen, streng zu prü-
fenden Fällen eine Möglichkeit bereitstellen, kurzfristige Refinanzierungs-
schwierigkeiten einzelner Staaten zu überwinden. Richtig ausgestaltet trägt er
so dazu bei, den Fortbestand und die Stabilität des Währungsraums zu sichern.
Die Bundesregierung hat bei ihren Verhandlungen dafür Sorge zu tragen, dass
durch eine Verstärkung der haushaltspolitischen Koordinierung der Mitglied-
staaten und die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes alles unternom-
men wird, um verantwortungsvolle und nachhaltige Haushaltspolitiken in den
Ländern zu stärken, um die Inanspruchnahme des Mechanismus zu vermeiden.

Der Deutsche Bundestag bedauert, dass die Bundesregierung den zukünftigen
Stabilitätsmechanismus nicht innerhalb der bestehenden Institutionen der EU
ansiedeln, sondern intergouvernemental etablieren will. Eine zwischenstaatliche
Lösung bedarf aus Sicht des Deutschen Bundestages einer starken parlamenta-
rischen Kontrolle. Die in der Erklärung der Eurogruppe vom 28. November
2010 festgelegten Merkmale des künftigen Stabilitätsmechanismus sehen weder
die Kontrolle der Europäischen Kommission durch das Europäische Parlament
noch eine angemessene Beteiligung der nationalen Parlamente in Bezug auf die
Aktivitäten ihrer Regierungen in der Eurogruppe vor.

Das EU-Beteiligungsgesetz des Deutschen Bundestages muss einer neuen Rolle
der Eurogruppe Rechnung tragen. Für alle Aktivitäten der Eurogruppe müssen
die Grundsätze der Unterrichtung sowie die Übersendungs- und Berichtspflichten
gemäß den §§ 4 und 5 EUZBBG gelten. Zudem muss die Bundesregierung dem
Deutschen Bundestag vor ihrer Mitwirkung an Entscheidungen der Eurogruppe
Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Der Deutsche Bundestag wird bei einer
Anwendung des Stabilitätsmechanismus nicht hinter dem Standard seiner Betei-
ligungsrechte entsprechend dem Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen
im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (StabMechG) zu-
rückfallen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4883

II. Der Deutsche Bundestag erklärt nach § 10 EUZBBG sein Einvernehmen mit
der Bundesregierung, der Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (gemäß Anlage I der
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 16./17. Dezember 2010), zu-
zustimmen. Die erforderliche Zustimmung des Deutschen Bundestages zu dem
Beschluss über die Änderung des Artikels 136 AEUV gemäß § 2 des Integra-
tionsverantwortungsgesetzes ist hiervon unberührt.

In Ausübung seiner Rechte nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes fordert
der Deutsche Bundestag die Bundesregierung darüber hinaus auf,

1. das EUZBBG im Geiste des Lissabon-Urteils und im Sinne einer frühest-
möglichen Einbindung des Deutschen Bundestages auszulegen und künftig
das Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag vor der abschließenden
Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen zu Änderungen der
vertraglichen Grundlage der Europäischen Union herzustellen;

2. ihre Position zur Ausgestaltung des künftigen Stabilitätsmechanismus
durch eine Regierungserklärung dem Deutschen Bundestag vor der förm-
lichen Annahme des Beschlusses zur Änderung des Artikels 136 AEUV im
März 2011 dazulegen;

3. alle zwischenstaatlichen Verträge hinsichtlich Umsetzung und Ausgestal-
tung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) dem Deutschen
Bundestag zur Zustimmung vorzulegen;

4. sich bei der Ausgestaltung des ESM für strikte Konditionalität und aus-
nahmslose Einzelfallentscheidung einzusetzen sowie die fortlaufende Be-
teiligung des Deutschen Bundestages an den Entscheidungsprozessen zu
wahren. Nur unter diesen Bedingungen ist der ESM sowohl mit den Euro-
päischen Verträgen als auch mit dem Grundgesetz vereinbar;

5. dabei dafür Sorge zu tragen, dass etwaige Anpassungsprogramme für be-
troffene Staaten nicht prozyklisch wirken sowie sozial ausgeglichen und
nachhaltig im Sinne von Investitionen in ökologische Modernisierung und
soziale Gerechtigkeit sind;

6. eine umfassende schriftliche wie mündliche Unterrichtung des Deutschen
Bundestages über das Regierungshandeln in der Eurogruppe sicherzustel-
len;

7. sich für eine angemessene Beteiligung des Europäischen Parlaments einzu-
setzen. Vor allem muss die EU-Kommission das Parlament fortlaufend
über die Verhandlungen mit Finanzhilfe ersuchenden Mitgliedstaaten hin-
sichtlich ihrer Anpassungsprogramme informieren;

8. den Weg für Euro-Anleihen, die von Euro-Staaten bis zu einer stabilitäts-
wahrenden Grenze ihrer jeweiligen Schuldenstandsquoten begeben wer-
den, freizumachen. Dabei muss der Wert der Preisstabilität aus den europä-
ischen Verträgen gewahrt bleiben;

9. bei den europäischen Partnern auf ein regelgebundenes Verfahren hinzu-
wirken, das künftig bei festgestellter Insolvenz von EU-Mitgliedstaaten
eine Gläubigerbeteiligung des Privatsektors vorsieht, um die Schuldenlast
des betroffenen Staates auf ein tragfähiges Niveau senken zu können;

10. sich für die Vorschläge der EU-Kommission zur stärkeren Koordinierung
und Überwachung der nationalen Haushaltspolitiken in Europa stark zu
machen;

Drucksache 17/4883 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
11. dazu gehört auch die Implementierung des Europäischen Semesters endlich
ernst zu nehmen und der EU-Kommission und dem Rat ein „Nationales
Reformprogramm“ (NRP) vorzulegen, das die Koordinierung der Wirt-
schaftspolitiken in der EU entscheidend voranbringt;

12. sich auf Grundlage der Vorschläge der EU-Kommission zur wirtschafts-
politischen Steuerung in der EU für ein wirksames und verbindliches Ver-
fahren zur Korrektur und Vermeidung makroökonomischer Ungleich-
gewichte einzusetzen.

Berlin, den 22. Februar 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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