BT-Drucksache 17/4519

Für eine an den Bürgerrechten ausgerichtete Polizei

Vom 19. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4519
17. Wahlperiode 19. 01. 2011

Große Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, Uwe
Kekeritz, Memet Kilic, Jerzy Montag, Dr. Konstantin von Notz, Claudia Roth
(Augsburg), Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine an den Bürgerrechten ausgerichtete Polizei

Die große Mehrheit aller Polizistinnen und Polizisten in Deutschland – sowohl
in der Bundespolizei als auch in den Polizeien der einzelnen Bundesländer – er-
füllt ihre Aufgaben professionell, im Einklang mit den Gesetzen und unter Wah-
rung der Menschenrechte. Da die Aufgaben, die die Polizistinnen und Polizisten
zu bewältigen haben, häufig schwierig, gefährlich und zuweilen auch mit hohem
persönlichem Risiko verbunden sind, ist dieses umsichtige und korrekte Verhal-
ten ein Zeichen dafür, dass der deutsche Rechtsstaat grundsätzlich gut funktio-
niert. Polizistinnen und Polizisten sind vielen Situationen ausgesetzt, in denen
sie selbst tätlichen Übergriffen ausgesetzt und auf die Hilfe von Kolleginnen und
Kollegen angewiesen sind. Wenn sie im täglichen Dienst, etwa im Streifen-
dienst, tätig sind, haben sie oft keine Chance, Gewalt zu vermeiden oder vor der
Gewalt auszuweichen. Es wird zu Recht von ihnen erwartet, dass sie in aggres-
siv zugespitzten Situationen einschreiten, dass sie etwa Randalierer trennen oder
den tobenden Ehemann notfalls auch mit Gewalt zur Raison bringen. Die An-
wendung körperlicher Gewalt ist hier oftmals unvermeidbar. Wie in allen Be-
rufen, in denen unter Stress und hoher Eigengefährdung in einer dynamischen
Situation gearbeitet wird, kann es dabei zu Fehlern kommen. Oft ist die Ausbil-
dung der Beamtinnen und Beamten im Antiaggressionstraining unzureichend.
So kommt es in einzelnen Fällen gar zu exzessivem Verhalten, zu ungehemmten
Aggressionsausbrüchen.

Gewalttätige Übergriffe der Polizei wie jüngst etwa in Stuttgart sowie die immer
wieder auftretenden Schwierigkeiten, Straftaten in den Reihen der Polizei auf-
zuklären, geben Anlass zur Sorge. Um derlei Vorfälle künftig wirkungsvoll ver-
hindern oder zumindest aufklären zu können, müssen vorhandene Mechanismen
überprüft und gegebenenfalls verbessert werden.

Immer wieder gibt es ernstzunehmende Vorwürfe gegen Polizistinnen und Poli-
zisten wegen Misshandlungen oder unverhältnismäßiger Gewaltanwendung.
2009 wurden bundesweit gegen Polizistinnen und Polizisten 2 955 Ermittlungs-
verfahren wegen Tötungsdelikten, Gewaltausübung, Zwang und Missbrauch
eingeleitet. Dem Bericht „Täter unbekannt – mangelnde Aufklärung von mut-
maßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland“ zufolge, den Am-
nesty International im Juli 2010 veröffentlicht hat, werden jedoch nicht alle Vor-
würfe gegen Polizistinnen und Polizisten zur Anzeige gebracht. Laut diesem
Bericht werden die zur Anzeige gebrachten Vorwürfe zudem häufig nicht um-
fassend aufgeklärt. Oft bleiben daher die Täterinnen und Täter in den Reihen der
Polizei unerkannt und die Strafverfolgungsbehörden untätig, obwohl sie sich ge-

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rade bei dem Verdacht von rechtswidriger Gewalt, Misshandlungen oder Diskri-
minierungen durch Polizistinnen und Polizisten schützend vor die betroffenen
Bürgerinnen und Bürger und deren Rechte stellen sollten.

Ein Klima der Straflosigkeit darf bei Menschenrechtsverletzungen durch Vertre-
terinnen und Vertreter des Staates in Diensten der Polizei in keinem Fall entste-
hen – weder dadurch, dass die Täterinnen und Täter nicht erkennbar sind, noch
weil nicht ordnungsgemäß ermittelt oder die Aufklärung verhindert wird. Wer-
den beteiligte Polizistinnen oder Polizisten nicht identifiziert, handelt es sich
gemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) um eine unzureichend effektive Ermittlung und damit um eine
Menschenrechtsverletzung (vgl. EGMR, Makaratzis ./. Griechenland, Urteil vom
20. Dezember 2004, Rn. 76).

Damit die Polizei in Deutschland ihrer Verantwortung und ihrer Pflicht, die
Menschen- und Bürgerrechte zu achten und zu schützen, noch besser als bislang
gerecht wird, bedarf es einer Reihe von Veränderungen und Verbesserungen.

Alle Polizistinnen und Polizisten im Amt sollten durch eine sichtbare Kenn-
zeichnung identifizierbar sein. Dies dient der Möglichkeit der Ermittlung bei
rechtswidrigen Übergriffen von Polizeibeamten auf Bürgerinnen und Bürger
und wirkt zugleich vertrauensbildend. Die Auffassung der Bundesregierung, für
eine Kennzeichnungspflicht bestehe „keine sachliche Notwendigkeit“ (vgl.
Bundestagsdrucksache 17/3743) ist nicht zutreffend. Einen verbesserten Schutz
vor Menschenrechtsverletzungen zu gewährleisten, ist eine sachliche Notwen-
digkeit.

Es bedarf darüber hinaus umgehender, umfassender, unparteiischer und unab-
hängiger Ermittlungen von Seiten der Strafverfolgungsbehörden, wenn Grund
zu der Annahme besteht, dass Polizistinnen oder Polizisten Menschenrechtsver-
letzungen begangen haben. Hierzu sollte ein unabhängiger Untersuchungsme-
chanismus eingerichtet werden, der bevollmächtigt ist, bei Vorwürfen schwerer
Menschenrechtsverletzungen gegen Polizistinnen und Polizisten zu ermitteln
und hierzu über die notwendige Kompetenz und Ausstattung verfügt. Vorgänge
in Gewahrsamsbereichen von Polizeiwachen sollten zum Schutz der in Gewahr-
sam genommenen Menschen besser und umfassender dokumentiert werden.
Vermeintliche und potentielle Opfer polizeilichen Fehlverhaltens müssten bes-
ser als bislang über die bestehenden Möglichkeiten, Beschwerde einzureichen
und Anzeigen zu erstatten informiert werden. In der polizeilichen Aus- und Fort-
bildung muss der Menschenrechtsbildung sowohl in der Theorie als auch praxis-
bezogen ein größerer Platz eingeräumt werden.

Nicht zuletzt bedarf es in der Bundespolizei und in den Landespolizeien einer
neuen Kultur im Umgang mit Fehlverhalten. Gewaltübergriffe durch Polizistin-
nen und Polizisten könnten hierdurch innerhalb der Polizei enttabuisiert und in
der Öffentlichkeit entskandalisiert werden. Denn die Tabuisierung dieses The-
mas in der Polizei und dessen Skandalisierung in der Gesellschaft bedingen ein-
ander und behindern einen angemessenen Umgang mit Fehlverhalten, das es in
der Polizei – wie in jeder anderen Berufsgruppe – immer geben wird. Hierzu
muss Kollegialität im richtigen Sinne gestärkt werden. Zwar arbeiten Polizistin-
nen und Polizisten in einer Gefahrengemeinschaft. Es ist jedoch fragwürdig,
wenn der notwendige Teamgeist in einen negativen Korpsgeist umschlägt und
wenn Abschottungstendenzen entstehen, hin zu einer verschworenen Gemein-
schaft, die sich eigene Regeln setzt und sich dem Zugriff des Rechtsstaates ent-
zieht.

Mit der geplanten Verschärfung der Gesetze zum „Schutz für Polizeibeamte“
und insbesondere der Erhöhung des Strafmaßes in § 113 des Strafgesetzbuchs
– StGB – (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) tut die Bundesregierung je-
doch das Gegenteil. Polizistinnen und Polizisten verdienen bei ihrer Arbeit den
rechtstaatlich gebotenen Schutz, und es ist Aufgabe des Gesetzgebers, für diesen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4519

zu sorgen. Die in § 223 ff. StGB genannten Straftatbestände gewährleisten aller-
dings bereits ausreichenden Schutz; eine Gesetzesverschärfung ist deshalb nicht
notwendig. Die von der Bundesregierung beschlossene Strafverschärfung be-
wirkt keinen Schutz, sondern ist Ausdruck einer um Zustimmung buhlenden
Symbolpolitik, die Abschottungstendenzen, Korpsgeist und Intransparenz ver-
stärkt.

Zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure müssen sich vermehrt in eine
kritische Auseinandersetzung mit möglichem Fehlverhalten in der Polizei bege-
ben. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begrüßt in diesem Zusammen-
hang ausdrücklich das Engagement von Amnesty International (AI), eigenstän-
dig die Übergriffe im Stuttgarter Schlosspark zu ermitteln. Der Bericht „Täter
unbekannt – mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch
die Polizei in Deutschland“ von Amnesty International ist ebenfalls zu be-
grüßen. Er legt dar, dass die Polizei in den in ihm dokumentierten Fällen den
international kodifizierten Menschenrechten nicht nachgekommen ist; um-
gehende, umfassende, unabhängige und unparteiische Ermittlungen seien nicht
gewährleistet gewesen, Verantwortliche seien nicht zur Verantwortung gezogen
worden und eine angemessene Entschädigung der Opfer sei nicht sichergestellt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Befürwortet die Bundesregierung eine individuelle Kennzeichnungspflicht
für Polizistinnen und Polizisten auch in geschlossenen Einsätzen?

a) Wenn nein, warum nicht, und wie ist diese Auffassung der Bundesregie-
rung vereinbar mit der Rechtsprechung des EGMR (vgl. z. B. Ogur ./. Tür-
kei, Urteil der Großen Kammer vom 20. Mai 1999, Rn. 88, und Finucane
./. Großbritannien, Urteil vom 1. Juli 2003, Rn. 67), wonach nur dann Er-
mittlungsverfahren gegen Polizistinnen und Polizisten wegen unverhält-
nismäßiger Gewaltanwendung effektiv sind, wenn sie zur Ermittlung der
Täterinnen oder Täter führen?

b) Könnte eine individuelle Kennzeichnung die Aufklärung von Rechtsver-
stößen von Polizistinnen und Polizisten erleichtern?

Sollte es darüber keine belastbaren Erkenntnisse und Belege geben,
warum wurden diese nicht erhoben?

c) Welche Erwägungen, Erkenntnisse und Belege liegen der grundlegenden
Bewertung der Bundesregierung zugrunde, dass „der Schutz des Polizei-
beamten, die Wahrung seiner Persönlichkeitsrechte und die Fürsorge-
pflicht des Staates […] grundsätzlich vorrangig gegenüber einer verpflich-
tenden individuellen Kennzeichnung“ sind (vgl. Bundestagsdrucksache
17/3743)?

d) Welche „Interessen der Öffentlichkeit“ hat die Bundesregierung bei ihrer
in Bundestagsdrucksache 17/3743 (Vorbemerkung der Bundesregierung)
genannten Abwägung erwogen, und wie hat sie diese gewichtet?

e) Welche Erkenntnisse und Belege führen die Bundesregierung zu der
ebenda geäußerten Annahme, die „bereits langjährig bestehende Rege-
lung [habe] sich im polizeilichen Alltag der Bundespolizei bewährt“?

Was sind die Gradmesser für eine „Bewährung“ bestehender Regelungen
der Bundespolizei?

f) Welche Erkenntnisse und Belege hat die Bundesregierung für ihre in Bun-
destagsdrucksache 17/3743 (Vorbemerkung der Bundesregierung) ge-
äußerte Annahme, dass im Falle der Einführung einer namentlichen Kenn-
zeichnung die Gefahr bestünde, „dass sich Übergriffe auf Polizeibeamte
häufen und berechtigte Schutzinteressen der Beamten gefährdet werden
könnten“?

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g) Wieso ist seitens der Bundesregierung eine wissenschaftliche Untersu-
chung zur Kennzeichnung künftig nicht vorgesehen (vgl. Bundestags-
drucksache 17/3743, Antwort zu Frage 8)?

Wäre eine solche von der Bundesregierung in Auftrag gegebene wissen-
schaftliche Untersuchung geeignet, die in der Vorbemerkung der Bundes-
regierung auf Bundestagsdrucksache 17/3743 angesprochene Abwägung
zu beeinflussen?

Wenn nein, warum nicht?

h) Sieht die Bundesregierung im Falle einer fehlenden individuellen Kenn-
zeichnungspflicht das in einem demokratischen Rechtsstaat erforderliche
Transparenzgebot verletzt?

Wenn nein, warum nicht?

i) Inwieweit und warum unterscheiden sich Polizeibeamte angesichts einer
derzeit nicht existierenden Pflicht zur individuellen Kennzeichnung nach
Ansicht der Bundesregierung von Personengruppen, die ebenfalls durch
ihren Beruf oder ihr Amt gefährdet sind, sich aber dennoch namentlich zu
erkennen geben müssen (z. B. Richterinnen und Richter, Staatsanwältin-
nen und Staatsanwälte, Angehörige der Bundeswehr, auch wenn diese im
Ausland im Einsatz sind, privatwirtschaftlich tätige Wachleute, Taxifahre-
rinnen und Taxifahrer)?

j) Trüge eine individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizistinnen und
Polizisten nach Ansicht der Bundesregierung zu einer nachhaltigen Ver-
trauensbildung von Bürgerinnen und Bürgern zur Polizei bei?

Wie begründet die Bundesregierung ihre Ansicht?

Sollte es darüber keine belastbaren Erkenntnisse und Belege geben, wa-
rum wurden diese nicht erhoben?

k) Wäre eine individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizistinnen und Poli-
zisten nach Ansicht der Bundesregierung geeignet, Polizistinnen und
Polizisten vor falschen Anschuldigungen zu schützen?

Auf welche Erkenntnisse und Belege stützt die Bundesregierung ihre An-
nahme?

Welche Bewertungen und Empfehlungen hat die Bundesregierung diesbe-
züglich von den jeweiligen Fachgremien der Polizeien von Bund und Län-
dern erhalten (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3743, Antwort zu Frage 7)?

l) Inwieweit unterscheiden sich die gesellschaftliche und staatliche Stellung
der Polizeien von Staaten der Europäischen Union von der der Polizeien
in Deutschland (bitte exemplarisch darstellen)?

Wieso machen diese Unterschiede die einzelnen Polizeien in den Augen
der Bundesregierung schwierig vergleichbar (vgl. Bundestagsdrucksache
17/3743, Antwort zu Frage 4)?

m)Welche Staaten der EU oder Bundesstaaten der USA – ein Überblick über
eine Kennzeichnungspflicht für Beamte ausländischer Polizeien wie in
Frage 4 der Bundestagsdrucksache 17/3420 ist nicht erfragt – sind der
Bundesregierung bekannt, in denen Polizistinnen und Polizisten einer
individuellen Kennzeichnungspflicht unterliegen?

n) Hat die Bundesregierung belastbare Erkenntnisse oder Belege darüber, ob
in diesen Staaten bzw. Bundesstaaten die Zahl der Übergriffe auf Polizis-
tinnen und Polizisten oder die Gefährdung berechtigter Schutzinteressen
von Polizistinnen und Polizisten prozentual von denen in Deutschland ab-
weicht?

Wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/4519

2. Welche Beschwerdemöglichkeiten und Möglichkeiten zum Erstatten einer
Anzeige wegen vermeintlichen polizeilichen Fehlverhaltens haben vermeint-
liche Opfer derzeit?

a) Ist es nach Ansicht der Bundesregierung erforderlich, diese Beschwerde-
und Anzeigenerstattungsmöglichkeiten zu verbessern?

Wenn nein, warum nicht?

b) Wie werden Beschwerden in der Bundespolizei bearbeitet?

c) Werden die Beschwerden zentral ausgewertet und evaluiert?

Wie werden die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis übernom-
men?

d) Erfüllen nach Ansicht der Bundesregierung diese Beschwerde- und An-
zeigenerstattungsmöglichkeiten die von Amnesty International in dem
eingangs genannten Bericht aufgestellte Forderung einer unmittelbaren,
umfassenden, unabhängigen und unparteiischen Aufklärung bei ernstzu-
nehmenden Vorwürfen polizeilichen Fehlverhaltens?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, wie erklärt sich die Bundesregierung die in dem Bericht aufge-
zeigten Missstände?

e) Wie wird eine unmittelbare, umfassende, unabhängige und unparteiische
Aufklärung von ernstzunehmenden Vorwürfen polizeilichen Fehlverhal-
tens in den Polizeien und Staatsanwaltschaften gewährleistet?

f) Ist gewährleistet, dass im Falle einer Gegenanzeige – sei es von einer
Zivilperson gegen die Polizei oder der Polizei gegen eine Zivilperson – die
Ermittlungen der einen Anzeige nicht zu Lasten der anderen Anzeige ge-
führt werden?

Wenn ja, wie?

g) Ist die Bundesregierung – angesichts der Tatsache, dass nicht alle erhobe-
nen Beschwerden und Anzeigen gegen Polizistinnen und Polizisten be-
gründet sind – der Auffassung, dass die Richtigkeit von Beschwerden und
Anzeigen nur festgestellt werden kann, wenn allen ernstzunehmenden Vor-
würfen nachgegangen wird?

Wenn ja, welche Kriterien werden herangezogen, die eine Ermittlung,
Nichtermittlung bzw. die Einstellung einer Ermittlung zur Folge haben?

h) Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass Polizistinnen und Polizisten
aufgrund der zuweilen engen Verbindung, die sich durch die intensive
Zusammenarbeit zwischen Polizeibeamtinnen und -beamten im beruf-
lichen Alltag ergibt, gegen ihre Kolleginnen und Kollegen nicht umge-
hend und unparteiisch ermitteln?

Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung, die ihre Ansicht begrün-
den?

i) Welche Beschwerde- und Anzeigenerstattungsmöglichkeiten, die über die
in Deutschland bekannten hinausgehen oder sich von ihnen unterscheiden,
sind der Bundesregierung in anderen Staaten der EU sowie in Bundesstaa-
ten der USA bekannt?

j) Kommt es in Staaten mit – im Vergleich zu Deutschland – weiteren Be-
schwerde- und Anzeigenerstattungsmöglichkeiten zu einer höheren An-
zahl von Beschwerden, Anzeigen und missbräuchlich gestellten Anzeigen
gegen Polizistinnen und Polizisten als in Deutschland?

Drucksache 17/4519 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Wie werden diese Beschwerdemöglichkeiten und Möglichkeiten zur Anzei-
generstattung bekannt gemacht?

a) Gibt es Unterschiede in der Bekanntmachung (etwa zwischen geschlosse-
nen/nichtgeschlossenen Einsätzen, in Gewahrsam, während eines Trans-
ports)?

b) In welchen Sprachen werden Informationen über Beschwerdemöglichkei-
ten und Möglichkeiten zur Anzeigenerstattung derzeit bekannt gemacht?

c) Wie wird in den Dienststellen der Bundespolizei auf Beschwerdemöglich-
keiten und Möglichkeiten zur Anzeigenerstattung hingewiesen?

4. Welche Möglichkeiten gibt es für Polizistinnen und Polizisten, sich an ihre
Vorgesetzten zu wenden, wenn sie von unverhältnismäßiger Gewalt, von
Misshandlungen oder Diskriminierungen durch eine Kollegin oder einen
Kollegen Kenntnis erlangt haben?

a) Wie reagieren Polizistinnen und Polizisten, wenn sie von unverhältnismä-
ßiger Gewalt, von Misshandlungen oder Diskriminierungen durch eine
Kollegin oder einen Kollegen Kenntnis erlangt haben, nach Erkenntnissen
der Bundesregierung im Regelfall?

b) Trifft es nach Erkenntnissen der Bundesregierung zu, dass Polizistinnen
und Polizisten in diesen Fällen häufig zumindest eine Weile zögern, bis sie
sich an andere oder ihre Vorgesetzten wenden?

c) Trifft es zu, dass Polizistinnen und Polizisten, die von einem etwaigen
Fehlverhalten ihrer Kolleginnen und Kollegen Kenntnis erlangt haben,
aufgrund einer solchen Verzögerung selbst Beschuldigte eines Strafver-
fahrens werden können (etwa wegen unterlassener Hilfeleistung oder
Strafvereitelung im Amt)?

d) Ist diese Konsequenz in den Augen der Bundesregierung erwünscht?

Wenn nein, beabsichtigt die Bundesregierung, an dieser juristischen Kon-
sequenz etwas zu verändern?

Falls nicht, warum?

e) Erachtet die Bundesregierung es angesichts dieses Drucks zur sofortigen
Anzeigenerstattung auch bei möglicherweise kleineren Verfehlungen als
sinnvoll, auch eine Form der Aufarbeitung jenseits des Straf- und Diszi-
plinarrechts zu schaffen?

5. Ist es in den Augen der Bundesregierung sinnvoll, entsprechend der Empfeh-
lungen des Committee for the Prevention of Torture (CPT) und des
Menschenrechtskommissars des Europarates, einen unabhängigen Unter-
suchungsmechanismus einzuführen, um alle Vorwürfe schwerwiegender
Menschenrechtsverletzungen gegen die Polizei sowie Vorfälle, die Verstöße
gegen Artikel 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)
darstellen könnten, zu überprüfen?

a) Ist es in den Augen der Bundesregierung sinnvoll, hierfür eine von Polizei
und Staatsanwaltschaft unabhängige Untersuchungsbehörde zu schaffen,
die ausschließlich Fälle etwaigen polizeilichen Fehlverhaltens untersucht?

Wenn nein, warum nicht?

b) Ist es in den Augen der Bundesregierung sinnvoll, hierfür spezialisierte
Abteilungen in den Staatsanwaltschaften zu schaffen, die für Anzeigen ge-
gen Polizeibeamte zuständig sind?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/4519

c) Ist es in den Augen der Bundesregierung sinnvoll, hierfür eine Ombuds-
stelle einzurichten, die schlichtend etwa bei kleineren Vergehen durch
Polizistinnen und Polizisten diesen die Möglichkeit gibt, sich zu entschul-
digen oder mit dem Opfer in einen Täter-Opfer-Ausgleich zu treten?

d) Ist gewährleistet, dass im Falle einer Gegenanzeige – sei es von einer
Zivilperson gegen die Polizei oder der Polizei gegen eine Zivilperson – die
Ermittlungen von verschiedenen Behörden geführt werden?

Wenn nein, warum nicht?

6. Werden in den Gewahrsamsbereichen der Polizei besonders geschulte Be-
amte eingesetzt?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, wie sieht diese spezielle Schulung aus?

a) Führt das Wachpersonal der Bundespolizei über jeden in Gewahrsam ge-
nommenen Menschen eine Gewahrsamsakte, in der alle gewahrsamsrele-
vanten Informationen und Maßnahmen festgehalten werden, einschließ-
lich der Informationen über die Sicherheit und den Gesundheitszustand
des inhaftierten Menschen sowie über die Zeiten der Kontrollgänge in der
Zelle und die kontrollierenden Polizistinnen und Polizisten?

Wenn nein, warum nicht?

b) Erhält jeder Mensch, der – und sei es nur zur Identitätsfeststellung – in
Gewahrsam genommen wird, die Gelegenheit, eine Rechtsanwältin oder
einen Rechtsanwalt zu kontaktieren?

Wenn nein, warum nicht?

c) Erhält jeder Mensch, der – und sei es nur zur Identitätsfeststellung – in Ge-
wahrsam genommen wird, die Gelegenheit, eine Ärztin oder einen Arzt zu
konsultieren?

Wenn nein, warum nicht?

d) Erhält jeder in Gewahrsam genommene Mensch, der dies ausdrücklich
wünscht, die Gelegenheit, von einer Ärztin oder einem Arzt untersucht zu
werden?

Wenn nein, warum nicht?

e) Besteht die Möglichkeit, dass jeder in Gewahrsam genommene Mensch,
der dies ausdrücklich wünscht, in den Gewahrsamsbereichen video- oder
audioüberwacht wird?

Wenn nein, warum nicht?

7. Ist es Bestandteil der Aus- und Fortbildung von Polizistinnen und Polizisten,
dass Folter und andere Misshandlungen, unverhältnismäßige Gewaltanwen-
dung, Rassismus und Diskriminierungen nicht toleriert werden sowie gege-
benenfalls Disziplinarstrafen und strafrechtliche Konsequenzen nach sich
ziehen?

Wenn ja, wie wird dies konkret in der Aus- und Fortbildung gewährleistet?

a) Wie wird eine praxisorientierte Menschenrechtsbildung gewährleistet?

b) Werden in der juristischen Aus- und Fortbildung die für die Ausübung
polizeilicher Pflichten relevanten, in internationalen Abkommen und an-
deren Dokumenten kodifizierten menschenrechtlichen Pflichten Deutsch-
lands behandelt?

Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 17/4519 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wenn ja, welche und in welchem Umfang?

Wie wird den Polizistinnen und Polizisten dabei verdeutlicht, dass die Ein-
haltung dieser Pflichten insbesondere ihnen obliegt?

c) Wird in der juristischen Aus- und Fortbildung das Diskriminierungsverbot
in allen Facetten behandelt?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, welche und in welchem Umfang?

Wie wird den Polizistinnen und Polizisten dabei verdeutlicht, dass die
Pflicht zur Nichtdiskriminierung insbesondere ihnen obliegt?

d) Werden Polizistinnen und Polizisten im Rahmen der Aus- und Fortbildung
über das Diskriminierungsverbot darüber geschult, dass Fahndungen nach
rassistischen Kriterien, wie etwa der Hautfarbe, nicht erlaubt sind?

Wenn ja, wie?

Wenn nein, warum nicht?

e) Erhalten Polizistinnen und Polizisten in der Ausbildung sowie anschlie-
ßend regelmäßig in der Fortbildung Schulungen über die rechtmäßige,
sichere und verhältnismäßige Anwendung von Gewalt, einschließlich des
Gebrauchs von Schusswaffen, Pfefferspray, Reiz- bzw. Tränengas, Was-
serwerfern, Schlagstöcken und anderen Zwangsmitteln?

Wenn ja, wie wird dies konkret in der Aus- und Fortbildung gewährleistet?

f) Welche Schulungen erhalten Polizistinnen und Polizisten zum Umgang
mit erregten, psychisch kranken und marginalisierten Personen?

g) Wird bei der Aus- und Fortbildung berücksichtigt, dass die regelmäßige
und dauerhafte Überwachung von in Gewahrsam genommenen Menschen,
die unter Drogen- oder Alkoholeinfluss stehen, Erregungszuständen oder
anderen Risiken unterliegen, dringend erforderlich ist?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, wie konkret wird dies gewährleistet?

h) Wie wird im Rahmen der Aus- und Fortbildung eine selbstkritische und
konstruktive Reflexion bei den Polizistinnen und Polizisten gefördert?

i) Wie werden im Rahmen der Aus- und Fortbildung Führungskulturen und
Fehlerkulturen erlernt?

Werden bei der anschließenden Umsetzung des Erlernten Psychologinnen
und Psychologen sowie in Supervision erfahrene Polizeipfarrer hinzuge-
zogen?

8. Wie viele Ermittlungsverfahren gegen Angehörige der Bundespolizei wur-
den in den Jahren 2007 bis 2010 eingestellt, weil die handelnde Polizistin
oder der handelnde Polizist nicht ermittelt werden konnte?

a) Wie viele Ermittlungsverfahren wurden und werden seit 2005 jährlich ge-
gen Angehörige der Bundespolizei wegen Straftaten im Amt eingeleitet
(bitte nach Deliktsgruppen und insbesondere nach Körperverletzungs-
delikten auflisten)?

Wie wurden diese Ermittlungsverfahren beendet (bitte darstellen nach
Einstellungsformen und Anklagen)?

Wie werden im Vergleich dazu die Ermittlungsverfahren gegen übrige
Bürgerinnen und Bürger beendet?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/4519

b) Wie viele Strafverfahren wurden und werden seit 2005 jährlich gegen An-
gehörige der Bundespolizei wegen Straftaten im Amt eingeleitet (bitte
nach Deliktsgruppen und insbesondere nach Körperverletzungsdelikten
auflisten)?

Wie wurden diese Strafverfahren beendet (bitte darstellen nach Einstel-
lungsformen, Freisprüchen und Verurteilungen)?

Wie werden im Vergleich dazu die Strafverfahren gegen übrige Bürgerin-
nen und Bürger beendet?

Berlin, den 18. Januar 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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