BT-Drucksache 17/448

Beschlagnahmung von Generika in Europa stoppen - Versorgung von Entwicklungsländern mit Generika sichern

Vom 19. Januar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/448
17. Wahlperiode 19. 01. 2010

Antrag
der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Ute Koczy, Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), Birgitt Bender, Viola von Cramon-Taubadel, Priska Hinz
(Herborn), Ulrike Höfken, Katja Keul, Maria Klein-Schmeink, Tom Koenigs,
Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Lisa Paus, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele,
Dr. Harald Terpe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Beschlagnahmung von Generika in Europa stoppen – Versorgung von
Entwicklungsländern mit Generika sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

– Der Handel mit Generika (Nachahmermedikamente mit der gleichen Wir-
kung) ist legitim und legal. Er ist abgedeckt vom Übereinkommen über
handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS-Ab-
kommen) und wurde in der Doha-Erklärung (Doha Declaration on TRIPS and
Public Health) vom 14. November 2001 (WT/MIN(01)/DEC/2, Artikel 4)
bekräftigt. Darüber hinaus ist er eine notwendige Konsequenz aus dem
Menschenrecht auf eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung, die in der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt (Arti-
kel 25) und somit wünschenswert und aktiv zu unterstützen ist.

– Indien ist einer der wichtigsten Generikaproduzenten, die „Apotheke der
Armen“ und ist für die Versorgung von Menschen in Entwicklungsländern mit
preiswerten Medikamenten von herausragender Bedeutung. Wenn die Pro-
duktion in Indien behindert wird, sind gravierende Konsequenzen für andere
Entwicklungsländer die Folge.

– Die indische Regierung hat im so genannten TRIPS-Rat mehrfach auf die
Problematik hingewiesen, dass Generikalieferungen an Entwicklungsländer
in Europa beschlagnahmt wurden (TRIPS-Rat am 3. März 2009, am 8. bzw.
9. Juni 2009 und am 27. bzw. 28. Oktober 2009). Auch Brasilien unterstützt
weitgehend die indische Position und hat deshalb selber im TRIPS-Rat
Beschwerde eingelegt. Bislang hat die Europäische Union nicht adäquat auf
die Beschwerden reagiert.

– Gefälschte Medikamente stellen eine Gefahr für die Menschen in Entwick-

lungsländern dar. Die Bundesregierung muss sich gemeinsam mit der Euro-
päischen Union, Indien und den Regierungen der Empfängerländer dafür ein-
setzen, dass gefälschte Medikamente dort nicht in Umlauf geraten. Allerdings
darf dies nicht als Vorwand genommen werden, um legale Generikalieferun-
gen zu beschlagnahmen und zurückzuhalten. Das gilt insbesondere dann,
wenn das Empfängerland sich explizit dagegen ausspricht. Zur Bekämpfung
von Medikamentenfälschungen sollte vor allem im Rahmen der Entwick-

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lungszusammenarbeit darauf hingearbeitet werden, eine Stärkung der Kon-
trollsysteme vor Ort zu erreichen. Dies sollte Verhandlungen mit Indien über
ein sicheres Codierungs- und Prüfsystem für legale Generika enthalten.

– Die Beschlagnahmung von Generika mit dem Hinweis, dass diese Patent-
rechte im Transitland verletzen könnten, darf nicht toleriert werden. Denn im
Patentrecht greift das Territorialitätsprinzip, wonach Patente im Herkunfts-
und im Bestimmungsland geltend gemacht werden, nicht jedoch in jedem
Transitland. Bisherige Beschlagnahmungen erfolgten wegen des Verdachts
von Patentrechtsverletzungen gemäß Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 des
Rates (nach Artikel 9, Absatz 1 der Verordnung). Eine Überprüfung der Ver-
ordnung muss daher umgehend auf Ersuchen des EU-Ministerrates von der
Europäischen Kommission eingeleitet werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– sich für einen Stopp der Beschlagnahmung von Generika im Transit durch die
Europäische Union einzusetzen;

– die Bereiche „gefälschte Medikamente“ und Generika klar zu trennen und
nicht durch eine Vermischung dieser Felder die Beschlagnahmung von Liefe-
rungen lebensnotwendiger Medikamente zu rechtfertigen. Der allgemeine
Hinweis auf die Existenz von Medikamentenfälschungen darf kein Vorwand
zur Beschlagnahmung von legal produzierten Generika sein;

– das Argument, die Bevölkerung des Bestimmungslandes schützen zu wollen,
nicht als Argument zur Beschlagnahmung von Generika zu missbrauchen;

– die Gespräche zwischen der Europäischen Union und Indien zur Klärung der
Problematik zu forcieren und auf eine einvernehmliche Lösung hinzuwirken.
Auch Brasilien muss als betroffenes Bestimmungsland der Generikalieferun-
gen und als Beschwerdeführer im TRIPS-Rat einbezogen werden;

– sich im EU-Ministerrat für einen Beschluss einzusetzen, der die Europäische
Kommission zur Überprüfung der Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 des Rates
auffordert. Die Verordnung ist in der Form zu ändern, dass sie nicht mehr als
Grundlage für die Beschlagnahmung von Generika im Transit dienen kann;

– die Verhandlungen über ein Handelsabkommen gegen Fälschung und Pirate-
rie (ACTA, „Anti-Counterfeiting Trade Agreement”) sowie internationale
Gremien und Verträge nicht dazu zu nutzen, die Balance zwischen dem Men-
schenrecht auf bestmögliche gesundheitliche Versorgung und dem Schutz
geistigen Eigentums in Frage zu stellen. Die Versorgung aller Menschen mit
nötigen Medikamenten darf auch nicht durch TRIPS-plus-Regelungen (Ver-
schärfungen der TRIPS-Regelungen durch bilaterale Zusatzverträge) bzw.
den Versuch einer unsachgemäßen Auslegung in Frage gestellt werden.

Berlin, den 19. Januar 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/448

Begründung

1. Die Bedeutung von Indien für die Generikaversorgung von Entwicklungs-
ländern

Die Produktion von Generika in Indien und der Handel mit Entwicklungslän-
dern sind ein elementarer Beitrag zur Sicherung der weltweiten Versorgung mit
Medikamenten; zum Beispiel bekommen 80 Prozent der 80 000 Patienten, die
in den Projekten von Ärzte ohne Grenzen mit HIV-/AIDS-Medikamenten be-
handelt werden, Generika indischer Herkunft (vgl. Ärzte ohne Grenzen 2007).
Durch die Beschlagnahmung von Generikalieferungen beim Transit durch
Europa werden nicht nur diese Lieferungen zurückgehalten oder verzögert; vor
allem schafft dieses Verhalten Rechtsunsicherheit für Herkunfts- und Bestim-
mungsländer und hemmt damit die Generikaproduktion gerade in Indien erheb-
lich. Damit wird das Verhalten der Europäischen Union zur Gefahr für die Ver-
sorgung von Entwicklungsländern mit erschwinglichen Medikamenten.

2. Hintergrund des Problems – Beschlagnahmungen und Proteste

Basierend auf der Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 des Rates wurden seit Ende
2008 von den niederländischen Behörden 17 Lieferungen aus Indien beschlag-
nahmt. Bestimmungsländer waren Brasilien (1×), Peru (5×), Kolumbien (4×),
Ecuador (2×), Mexico (2×), Portugal (1×), Spanien (1×) und Nigeria (1×) (vgl.
Intervention von Indien im TRIPS-Rat vom Juni 2009). Überwiegend waren
also Entwicklungsländer betroffen. Die Lieferungen erreichten die Bestim-
mungsländer verspätet oder gar nicht.

Am 27. und 28. Oktober 2009 meldete sich die indische Delegation zum wie-
derholten Mal im TRIPS-Rat zu Wort, um auf die Beschlagnahmung von Gene-
rika im Transit aufmerksam zu machen und dieses Vorgehen zu kritisieren. Die
Lieferungen waren für verschiedene Entwicklungsländer bestimmt. Bereits am
8./9. Juni 2009 und zuvor am 3. März 2009 hatte Indien diesen Punkt angespro-
chen. Bislang wurden offensichtlich keine Konsequenzen gezogen. Auch Bra-
silien schloss sich der Kritik Indiens an und meldete sich in der Sitzung am
8./9. Juni 2009 mit einer eigenen Aufforderung an die Europäische Gemein-
schaft zu Wort, die Praxis der Beschlagnahmung von Generika zu ändern und
die Versorgung der Entwicklungsländer nicht zu gefährden.

Trotz der Proteste Indiens gingen auch 2009 die Beschlagnahmungen weiter. Im
Mai 2009 wurden in Frankfurt Lieferungen für die Republik Vanuatu beschlag-
nahmt. Wenig später beschlagnahmten die französischen Behörden am Flug-
hafen Paris-Roissy Lieferungen aus Indien. Laut – bislang noch nicht offiziell
bestätigten – Presseberichten planen Indien und Brasilien eine Beschwerde vor
dem Streitbeilegungsgremium (Dispute Settlement Body) der WTO (Welthan-
delsorganisation).

3. Die Balance zwischen öffentlicher Gesundheit und Patentschutz gerät ins
Wanken

Deutschland muss sich dafür einsetzen, dass die Beschlagnahmungen gestoppt
werden. Die auch jetzt schon unbefriedigende Balance im internationalen
Patentrechtssystem zwischen der Durchsetzung von Patenten und der gleichzei-
tigen Wahrung des Menschenrechts auf bestmögliche gesundheitliche Versor-
gung gerät durch die Beschlagnahmung von Generika in eine weitere Schief-
lage.

International hatte man sich seit der Unterzeichnung des TRIPS-Abkommens
immer klarer darauf verständigt, dass das Patentrecht nicht die Versorgung der

Entwicklungsländer mit Medikamenten behindern darf. Dies wird bereits im

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TRIPS-Abkommen selber deutlich und wird bekräftigt in der Doha-Erklärung
vom 14. November 2001 genau wie in der Entscheidung des Allgemeinen Rats
der WTO vom 30. August 2003.

In der Erklärung von 2001 ist zum Beispiel festgehalten, dass das TRIPS-
Abkommen Mitgliedstaaten nicht davon abhalten darf, Maßnahmen zum
Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu ergreifen. Dementsprechend wird
versichert, dass das Abkommen in einer Weise interpretiert und implementiert
werden soll, die das Recht der Mitgliedstaaten unterstützt, die Gesundheit der
Bevölkerung zu schützen und vor allem den Zugang zu Medikamenten zu
sichern (vgl. WT/MIN(01)/DEC/2).

Seit einigen Jahren sind jedoch Bemühungen zu beobachten, das internationale
Schutzniveau im Bereich der geistigen Eigentumsrechte auszubauen. Damit
droht die Versorgung von Entwicklungsländern mit Medikamenten erschwert
zu werden. Zusätzlich haben viele Industrienationen – bezogen auf die geistigen
Eigentumsrechte – damit begonnen, bilaterale Abkommen mit dem Ziel höhere
Anforderungen zu vereinbaren (so genannte TRIPS-Plus-Standards). Dies führt
zu einem kaum mehr überblickbaren Geflecht an Abkommen mit teils weitge-
henden Verpflichtungen für die Vertragsstaaten. Diese Entwicklung steht kon-
trär zum Geiste des Menschenrechts auf bestmögliche gesundheitliche Versor-
gung und zum Geiste der Doha-Erklärung.

Die schleichende Verschärfung von Patentrechten auf Kosten der medizinischen
Versorgung in Entwicklungsländern zeigt sich auch bei den Verhandlungen
zwischen der EU, den USA und anderen Industrienationen über ein Anti-Fäl-
schungsabkommen (Anti-Counterfeiting Trade Agreement/ACTA). Entschei-
dende Entwicklungs- und Schwellenländer wie Indien, Brasilien und China sind
nicht an den ACTA-Verhandlungen beteiligt, im Falle von Brasilien trotz aus-
drücklichem Wunsch des Landes und obwohl das verhandelte Abkommen neue
globale Standards setzen soll und daher auch die Entwicklungs- und Schwellen-
länder in hohem Maße betreffen wird. Zur Rechtfertigung dieses Vorgehens
hieß es von der Bundesregierung: „Die gegenwärtige Begrenzung des Kreises
der Verhandlungspartner soll einen baldigen Abschluss der Verhandlungen er-
möglichen“ (Bundestagsdrucksache 16/14032, S. 12).

Ein weiteres konkretes Beispiel ist das Assoziierungsabkommen zwischen der
EU und den Andenstaaten. Ein Teil der Staaten brach die Verhandlungen ab, da
die EU Patentrechte durchzusetzen versuchte, die weit über die internationalen
Vereinbarungen hinausgehen sollten.

4. Argumente der Bundesregierung zur Rechtfertigung der Beschlagnahmungen

Von der Bundesregierung wurden zur Rechtfertigung der Beschlagnahmungen
von Generika die Argumente vorgebracht, der freie Handel mit Generika könne
nur unter Berücksichtigung 1. anderer „berechtigter Interessen“ verfolgt wer-
den. Zu diesen anderen berechtigten Interessen gehören nicht nur der Schutz
der Hersteller und Rechtsinhaber, sondern auch 2. Gesundheit und Sicherheit
der Verbraucher (auch in Drittländern) vor den Gefahren durch gefälschte Pro-
dukte (vgl. Bundestagsdrucksache 16/14032, S. 16). Beide Argumente sind
nicht stichhaltig und können nicht zur Begründung der Beschlagnahmung von
Generikalieferungen dienen.

Das erste Argument (Schutz der Hersteller) steht im Widerspruch zum Territo-
rialitätsgrundsatz im Patentrecht. Dieses besagt, dass Patente nur im Herkunfts-
und im Bestimmungsland geltend gemacht werden, nicht jedoch in jedem Tran-
sitland.

Auch das Argument, die Gesundheit in Entwicklungsländern sichern zu wollen,

ist wenig stichhaltig. Brasilien, ebenfalls eines der Bestimmungsländer und

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somit negativ von den Beschlagnahmungen betroffen, hat sich, wie bereits er-
wähnt, selber mit einer Beschwerde an den TRIPS-Rat gewandt (vgl. Interven-
tion von Brasilien im TRIPS-Rat vom 8./9. Juni 2009). Die Beschlagnahmun-
gen fanden also nicht zum Wohl der Bevölkerung in Entwicklungsländern statt,
sondern gegen deren ausdrücklichen Wunsch.

5. Konkrete Lösung des Problems der Beschlagnahmungen

Die Bundesregierung muss in den bilateralen Gesprächen zwischen Indien und
der Europäischen Union darauf drängen, eine Lösung mit Indien in Bezug auf
die Beschlagnahmungen zu erzielen (Gleiches gilt für Brasilien).

Konkret ist hierzu eine Überprüfung der Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 des
Rates notwendig. Diese Verordnung ist Grundlage der Beschlagnahmungen und
widerspricht in ihrer Anwendung dem Geist des TRIPS-Abkommens und den
oben erwähnten Doha-Erklärungen. Die Bundesregierung muss im EU-Minis-
terrat einen Beschluss herbeiführen, der die Europäische Kommission auffor-
dert, die Überprüfung der Verordnung einzuleiten.

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