BT-Drucksache 17/4425

Kopfpauschale in der Pflege verhindern - Humane und solidarische Pflegeabsicherung gewährleisten

Vom 18. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4425
17. Wahlperiode 18. 01. 2011

Antrag
der Abgeordneten Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers,
Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Diana Golze, Katja Kipping,
Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Vogler, Harald
Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Kopfpauschale in der Pflege verhindern – Humane und solidarische
Pflegeabsicherung gewährleisten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

CDU/CSU und FDP haben aus der Krise der internationalen Finanzmärkte
nichts gelernt. Im Gegenteil: In der Pflegeversicherung wollen sie den Einstieg
in eine verpflichtende Kapitaldeckung. Nach der Riester-Rente soll es künftig
die Rösler-Pflege geben. Die Verlierer einer solchen privaten „Zwangs-Zusatz-
versicherung“ sind die Beschäftigten und Rentnerinnen und Rentner. Sie sollen
nach den Plänen der schwarz-gelben Bundesregierung einen jährlich steigenden
zusätzlichen, voraussichtlich pauschalen Betrag zahlen. Was als „kleine“ Kopf-
pauschale in der Pflege beginnt, ist schnell eine große. Besonders belastet wer-
den Menschen mit geringem Einkommen und Arbeitslose. Menschen mit höhe-
rem Einkommen und die Arbeitgeber werden dagegen verschont; die privaten
Versicherungskonzerne erwartet ein Milliardengeschäft.

CDU, CSU und FDP betreiben unverhohlene Klientelpolitik. Die Erfahrungen
aus der Rentenversicherung belegen: Sparen für die Zukunft funktioniert auf
volkswirtschaftlicher Ebene nicht. Aller Sozialaufwand muss immer aus dem
Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden. Die Kapitaldeckung
bietet gegenüber der bestehenden Umlagefinanzierung ausschließlich Nach-
teile. Die anvisierte private Pflegezusatzversicherung wäre jeder politischen
Kontrolle entzogen und der Kapitalstock damit den Risiken der Finanzmärkte
ausgesetzt. Hinzu kommen weitere finanzielle Zuflüsse zu den internationalen
Kapitalmärkten. Die Risiken für weitere Finanzkrisen steigen an, denn es gibt
weltweit nicht genügend sichere und rentable Anlagen.

Es ist längst überfällig, die Pflegeabsicherung auf eine stabile und gerechte
Grundlage zu stellen. Die Umlagefinanzierung hat sich bewährt. Damit die
Pflegeabsicherung zukunftssicher wird, sind ihre wirklichen Probleme zu
beseitigen. Das Hauptproblem in der Finanzierung liegt auf der Einnahmeseite:

Durch Erwerbslosigkeit, sich ausweitenden Niedriglohnsektor und ausblei-
bende Lohnzuwächse bleiben die Einnahmen der Pflegeversicherung hinter den
Ausgaben zurück. Zugleich wächst die Bedeutung anderer Einkommensarten.
Auf die relativ schnell wachsenden Kapitalerträge müssen bislang fast keine
Beiträge gezahlt werden. Mit der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerver-
sicherung in der Pflege ließen sich die Probleme lösen und die Finanzierung so-
zial gerecht gestalten.

Drucksache 17/4425 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Mit einer solchen Reform wird der finanzielle Spielraum dafür geschaffen, die
großen Herausforderungen auf der Leistungsseite zu bewältigen. Die Pflegever-
sicherung ist chronisch unterfinanziert. Der Realwertverlust der Pflegeleistun-
gen seit ihrer Einführung 1995 verschärft den Teilkaskocharakter der Pflegever-
sicherung. Daran hat auch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz aus dem Jahr
2008, das von der Koalition der CDU/CSU und SPD vorgelegt wurde, nichts
geändert. Die Folge: Pflegebedürftige Menschen erhalten immer weniger Leis-
tungen, dabei deckt die Pflegeversicherung von vornherein den individuellen
Bedarf nicht ab. Die Hauptlast der Pflege tragen weiterhin die Angehörigen, vor
allem Frauen. Überlastung und Überforderung sind an der Tagesordnung. Die
Pflegekräfte sehen sich mit einer zunehmenden Arbeitsverdichtung konfron-
tiert; ihre Bezahlung ist ihrer schweren Arbeit nicht angemessen. Die Arbeit in
der Pflege macht langfristig krank, mehr Personal in der Pflege ist für bessere
Arbeitsbedingungen dringend erforderlich.

Seit Einführung der Pflegeversicherung werden vor allem Menschen mit de-
menziellen Erkrankungen von vornherein von der Leistungsgewährung aus-
geschlossen. Die Ursache hierfür liegt in dem engen, verrichtungsbezogenen
Pflegebegriff, welcher der Pflegeversicherung zu Grunde liegt. Die Pflegever-
sicherung gewährt demzufolge vor allem Leistungen, die auf die alltäglichen
Verrichtungen des täglichen Lebens abstellen. Der allgemeine Bedarf an Beauf-
sichtigung und Betreuung sowie die Kommunikation werden nicht berück-
sichtigt, soziale Teilhabe und Selbstbestimmung nicht ermöglicht. Doch Pflege
ist mehr als „still, satt und sauber“. Der Beirat zur Überprüfung des Pflege-
bedürftigkeitsbegriffs hat vor fast zwei Jahren einen Vorschlag vorgelegt, der
geeignet ist, einen Paradigmenwechsel in der Pflege einzuleiten. Doch passiert
ist seitdem nichts, um die „Minutenpflege“ endlich zu überwinden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

jegliche Aktivitäten zu unterlassen, die die Einführung einer verpflichtenden
Kapitaldeckung in der sozialen Pflegeversicherung zum Ziel haben und

umgehend einen Gesetzentwurf für eine grundlegende Reform der Pflege-
absicherung vorzulegen, der die nachfolgend genannten Punkte umfasst:

1. Selbstbestimmung und Teilhabe in der Pflege gewährleisten

Das Verständnis von Pflege, das der Pflegeversicherung zu Grunde liegt, ist neu
zu definieren. Für eine selbstbestimmte und ganzheitliche Pflege ist der Vor-
schlag für einen neuen Pflegebegriff des Beirats zur Überprüfung des Pflege-
bedürftigkeitsbegriffs vom Januar 2009 zügig gesetzlich zu verankern und um-
zusetzen. Gleichzeitig ist ein neues Begutachtungsverfahren einzuführen. Die
Neudefinition des Pflegebegriffs muss so erfolgen, dass auch Menschen mit
einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz – beispielsweise mit einer
demenziellen Erkrankung – angemessen in die Pflegeabsicherung einbezogen
werden.

2. Leistungen der Pflegeversicherung deutlich anheben

Eine Neuausrichtung der Pflegeabsicherung in Richtung Selbstbestimmung und
Teilhabe gelingt nur, wenn das Leistungsniveau deutlich angehoben wird. Als
Sofortmaßnahmen sind der Realwertverlust der Pflegeleistungen vollständig
auszugleichen und die Sachleistungsbeträge für die ambulante, teilstationäre
und stationäre Pflege je Kalendermonat um weitere 25 Prozent zu erhöhen. Mit
der Einführung eines neuen Begutachtungsverfahrens ist auch das starre
Pflegestufenmodell zu überwinden. Menschen, die bereits Leistungen der Pfle-
geversicherung erhalten, dürfen dadurch finanziell nicht schlechter gestellt wer-
den. Damit die Leistungen ihren Wert erhalten, sind sie jährlich regelgebunden

anzupassen. Perspektivisch sind die Leistungen am individuellen Bedarf zu
orientieren.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4425

3. Angehörige entlasten

Es ist eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige einzuführen, die
der Organisation der Pflege und der ersten pflegerischen Versorgung von
Angehörigen oder nahestehenden Personen dient (vgl. Bundestagsdrucksache
17/1754). Zugleich sind die Rahmenbedingungen für Angehörige und Ehren-
amtliche zu verbessern. Die notwendige Infrastruktur ist weiter auszubauen,
um eine professionelle, unabhängige und wohnortnahe Beratung, Anleitung,
Betreuung und Supervision auf hohem Niveau flächendeckend sicherzustellen.
Alternative Wohn- und Versorgungsformen sind weiter auszubauen. Die deut-
liche Anhebung der Leistungen der Pflegeversicherung eröffnet die Möglich-
keit, in der häuslichen Umgebung gepflegt zu werden und stärker auf ambu-
lante Dienste zurückgreifen zu können.

4. Pflege attraktiver gestalten – Pflegeberufe anerkennen

Die Tätigkeit von Pflegekräften ist gesellschaftlich endlich anzuerkennen. Die
Anhebung des Leistungsniveaus der Pflegeabsicherung eröffnet den finanziel-
len Spielraum, Pflegekräfte besser zu bezahlen. Damit Lohndumping in der
Pflege verhindert wird, ist als unterste Grenze ein flächendeckender gesetz-
licher Mindestlohn von 10 Euro einzuführen.

Gute Pflege hängt entscheidend vom Personal ab. In den stationären Einrich-
tungen ist daher eine ausreichende Ausstattung mit qualifiziertem Personal zu
gewährleisten. Zur Sicherung der Qualität in der Pflege ist ein bundesweit an-
zustrebender Standard über eine qualitätsbezogene Personalbemessung zu ent-
wickeln. Bis dahin muss die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern er-
reichen, dass mindestens die Hälfte des Personals aus Fachkräften besteht.

Für eine gerechtere Ausbildungsfinanzierung ist ein Umlageverfahren zur Ein-
richtung eines Ausbildungsfonds einzuführen. Da alle Pflegeeinrichtungen
prinzipiell von der Ausbildung profitieren, zahlen sie in diesen Fonds ein. Wer
ausbildet, erhält hieraus Unterstützung. So wird eine solidarische Finanzierung
der Ausbildung ermöglicht, zu der alle Pflegeeinrichtungen nach ihren Mög-
lichkeiten beitragen. Die Bundesregierung soll sich gegenüber den Ländern
dafür einsetzen, dass die Zahl der Ausbildungsplätze erhöht wird, um allen Be-
werberinnen und Bewerbern einen Zugang zur Pflegeausbildung zu ermög-
lichen, sowie Schulgelder, Studiengebühren und Prüfungsgebühren abzu-
schaffen. Letztlich ist nur so der Bedarf an Pflegekräften für zukünftige He-
rausforderungen zu decken.

5. Gerechte und stabile Finanzierung

Eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung ist einzuführen, um
langfristig die solidarische Finanzierung der Pflegeabsicherung zu gewähr-
leisten und die bestehenden Gerechtigkeitsdefizite zu beseitigen (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 17/1238). Finanziell starke Schultern müssen mehr tragen. Alle
anderen werden entlastet.

Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber müssen ihrer Verantwortung gerecht
werden. Deshalb ist eine wirkliche paritätische Finanzierung in der Pflegever-
sicherung herzustellen, damit tragen die Arbeitgeber die Hälfte der Pflegever-
sicherungsbeiträge auf Löhne und Gehälter ihrer Beschäftigten. Rentnerinnen
und Rentner zahlen in der Pflegeversicherung künftig nur den halben Beitrags-
satz, die andere Hälfte wird von der Rentenversicherung getragen.

Berlin, den 18. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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