BT-Drucksache 17/4106

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Drucksachen 17/3404, 17/4032 - Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch

Vom 1. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4106
17. Wahlperiode 01. 12. 2010

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Diana Golze, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,
Sevim Dag˘delen, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Katja Kipping, Jutta Krellmann,
Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma,
Frank Tempel, Katrin Werner, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich, Sabine
Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
– Drucksachen 17/3404, 17/4032 –

Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen
und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der Fraktion
DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/3660 bestätigt, dass die auf bloßen
Schätzungen basierende Festsetzung der Leistungen nach dem Asylbewerber-
leistungsgesetz (AsylbLG) nicht den Anforderungen des Urteils des Bundesver-
fassungsgerichts vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09 u. a.) entspricht. Das Grund-
recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gilt für
alle Menschen gleichermaßen und unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus
(vgl. Bundestagsdrucksache 17/979, zu Frage 1). Es umfasst nicht nur die unmit-
telbare physische Existenz, sondern auch ein Mindestmaß an Teilhabe am ge-
sellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben und die Möglichkeit der
Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen. Dies ist im Rahmen der Grundleis-
tungen des AsylbLG jedoch ausdrücklich nicht vorgesehen.

Vor diesem Hintergrund kann an der Verfassungswidrigkeit des AsylbLG kein
Zweifel bestehen. Eine Änderung des AsylbLG, die den Vorgaben des Bundes-
verfassungsgerichts Rechnung trägt, sollte deshalb schnellstmöglich und parallel
zur Änderung der Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozial-
gesetzbuch (SGB II bzw. SGB XII) zum 1. Januar 2011 erfolgen, notfalls rück-

wirkend. Eine besondere Dringlichkeit ergibt sich daraus, dass die reduzierten
Leistungen nach dem AsylbLG trotz einer Preissteigerung seit 1993 in Höhe von
25 Prozent niemals angehoben wurden und nach Ansicht des Landessozial-
gerichts für das Land Nordrhein-Westfalen für ein menschenwürdiges Existenz-
minimum offenkundig unzureichend sind (Vorlagebeschluss an das Bundesver-
fassungsgericht vom 26. Juli 2010, L 20 AY 13/09).

Drucksache 17/4106 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Nur durch die Aufhebung des AsylbLG zum 1. Januar 2011 und eine Integration
des betroffenen Personenkreises in das Sicherungssystem nach dem SGB II
bzw. SGB XII lässt sich zeitnah ein verfassungsgemäßer Zustand herstellen. Es
ist völlig ungewiss, wie lange eine Neuberechnung der Leistungen nach dem
AsylbLG entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts dauern
wird, zumal keine spezifischen Daten und empirisch überprüfbaren Angaben zu
vermeintlich geringeren Bedarfen von Asylsuchenden, Geduldeten und Men-
schen mit humanitärem Aufenthaltsstatus vorliegen. Die Betroffenen dürfen
nicht weiter sehenden Auges menschenunwürdig behandelt werden, wozu im
Übrigen nicht nur unzureichende Regelsätze, sondern auch diskriminierende
Sonderregelungen bei der Gesundheitsversorgung, der Unterbringung und der
Sachleistungsgewährung gehören.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

den Kreis der Leistungsberechtigten nach dem Zweiten und Zwölften Buch So-
zialgesetzbuch um bisherige Leistungsberechtigte nach dem dann aufzuheben-
den Asylbewerberleistungsgesetz zu ergänzen. Soweit dies zu einer finanziellen
Mehrbelastung der Kommunen führt, hat der Bund diese durch eine entspre-
chende Beteiligung gegenüber den Ländern auszugleichen.

Berlin, den 30. November 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Nachdem die Bundesregierung eingestanden hat, dass die Bestimmung der Höhe
der Grundleistungen des AsylbLG im Jahr 1993 verfassungswidrig zustande
kam, ist es nicht verständlich, weshalb eine Revision dieser verfassungswidrigen
Sätze in „sinnvoller Weise erst nach der Neufestsetzung der Regelbedarfe nach
dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch … und auf der Grundlage der
daraus gewonnenen Erkenntnisse erfolgen“ können soll (so die Bundesregierung
auf Bundestagsdrucksache 17/3660, zu den Fragen 1 bis 7). Es bietet sich viel-
mehr geradezu an, im Zuge der realitätsgerechten Bestimmung dessen, was als
unabdingbares Existenzminimum angesehen werden muss, auch Regelungen für
die Gruppe der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG zu treffen bzw. besser
noch, aus grundsätzlichen Erwägungen heraus auf die Festsetzung fragwürdiger
Sonderbedarfe ganz zu verzichten.

Zwar wurden in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eigenstän-
dige Regelungen für Ausländerinnen und Ausländer mit voraussichtlich nur
vorübergehendem Aufenthalt als grundsätzlich zulässig erachtet. Jedoch muss
auch ein solches Konzept den Grundsätzen der Entscheidung vom 9. Februar
2010 entsprechen. Das Asylbewerberleistungsgesetz wird dem in mehrfacher
Hinsicht nicht gerecht: Die Einschränkung des Existenzminimums sachfremd
damit zu rechtfertigen, dass kein „Anreiz“ für eine Einreise „aus wirtschaftlichen
Gründen“ geschaffen werden solle (vgl. z. B. Bundestagsdrucksache 12/5008,
S. 2, 13), verstößt gegen das unverfügbare Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums. Mit dem Urteil vom 9. Februar 2010 un-
vereinbar ist auch die bisherige Begründung, wonach Leistungseinschränkungen
deshalb zulässig seien, weil für einen vorübergehenden Zeitraum keine „sozialen
Integrationsbedürfnisse“ anerkannt werden müssten (vgl. z. B. Bundestags-

drucksache 12/5008, S. 15 und Bundestagsdrucksache 16/9018, zu den Fragen 5

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4106

und 6). Schließlich ist es offenkundig unzulässig, Einschränkungen beim
menschenwürdigen Existenzminimum mit dem „Gedanken der Kosteneinspa-
rung“ zu begründen, wie es nach Angaben der jetzigen Bundesregierung seit
1997 geschieht (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3660, zu Frage 8).

Das Urteil vom 9. Februar 2010 bietet die Gelegenheit, den verfassungs- und
menschenrechtswidrigen Skandal der Festschreibung zweier Existenzminima
bzw. zweier „Menschenwürden“ endlich zu beenden.

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