BT-Drucksache 17/4045

zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung (KOM(2010)379; Ratsdok.-Nr.: 12208/10) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i.V.m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Vorschlag der Europäischen Kommission zur Saisonarbeiterrichtlinie zurückweisen

Vom 1. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4045
17. Wahlperiode 01. 12. 2010

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, Diana Golze,
Karin Binder, Matthias W. Birkwald, Christine Buchholz, Dr. Diether Dehm, Heidrun
Dittrich, Klaus Ernst, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger,
Andrej Hunko, Katja Kipping, Harald Koch, Jutta Krellmann, Stefan Liebich,
Cornelia Möhring, Niema Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Katrin
Werner, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise
und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer
saisonalen Beschäftigung (KOM(2010) 379 endg.; Ratsdok. 12208/10)

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit
von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

Vorschlag der Europäischen Kommission zur Saisonarbeiterrichtlinie
zurückweisen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Europäische Kommission hat am 13. Juli 2010 einen Entwurf für eine
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen
für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Aus-
übung einer saisonalen Beschäftigung (KOM(2010) 379) vorgelegt. Ziel der
Richtlinie soll es sein, Möglichkeiten der saisonalen Beschäftigung Dritt-

staatsangehöriger zu erleichtern, um so einen vermeintlichen Arbeitskräfte-
mangel zu verhindern und auf den demographischen Wandel zu reagieren.
Überdies sollen Saisonbeschäftigte vor Ausbeutung geschützt werden, ille-
gale Beschäftigung reduziert und durch zirkuläre Migration die Entwicklung
der Herkunftsländer gestärkt werden. Die Richtlinie soll in diesem Sinne die
Einreise-, Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen der Saisonarbeiter aus Dritt-
staaten regeln. Sie wird seit dem 7. Oktober 2010 im Rat diskutiert.

Drucksache 17/4045 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Als Rechtsgrundlage wurde allein Artikel 79 des Vertrags über die Arbeits-
weise der Europäischen Union (AEUV) herangezogen, obwohl der Richt-
linienentwurf auch die Beschäftigungsbedingungen der betroffenen Dritt-
staatsangehörigen regelt und damit Artikel 153 AUEV einschlägig wäre.
Dies hätte auch eine Einbeziehung der Sozialpartner in die Erstellung des
Entwurfs erforderlich gemacht.

3. Zahlreiche Parlamente von EU-Mitgliedstaaten haben Subsidiaritätsbeden-
ken hinsichtlich des Richtlinienentwurfs angemeldet.

4. Mit dem im Richtlinienentwurf diskutierten Arbeitskräftemangel und der
Forderung nach einer zirkulären Migration werden einseitig Interessen und
Bedürfnisse der Wirtschaft und des Kapitals bedient, um die Forderungen
nach gerechter Bezahlung zu unterlaufen. Die Bereitschaft von Unionsbürge-
rinnen und -bürgern zur Saisonarbeit bei gerechter Bezahlung ist groß und
der Bedarf könnte wegen der hohen Erwerbslosigkeit in der EU so auch ge-
deckt werden.

5. Der Richtlinienentwurf beruht auf dem Konzept der zirkulären Migration,
nach dem die Beschäftigten immer wieder in ihre Herkunftsländer zurück-
kehren müssen. Eine Aufenthaltsverfestigung ist ausgeschlossen. Für die
maximal sechs Monate Aufenthaltsdauer bleibt den Beschäftigten das Recht
auf Mitnahme oder Besuch von Familienangehörigen versagt. Eine Integra-
tion der Arbeitskräfte ist ausdrücklich nicht erwünscht. Wer der Verpflich-
tung zur Rückkehr nicht nachkommt, wird für eine gewisse Zeit von der
Zulassung als Saisonarbeitskraft ausgeschlossen. Die Rechte von Saisonbe-
schäftigten aus Drittstaaten sind mangelhaft ausgestaltet, so dass nahezu kein
Schutz gegenüber dem durchschlagenden Profitinteresse von Unternehmen
entsteht, die Saisonarbeitskräfte beschäftigen.

6. Besonders gravierend wird sich die Richtlinie in der Bundesrepublik
Deutschland und anderen Ländern auswirken, die keinen gesetzlichen Min-
destlohn oder kein System der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von
Tarifverträgen besitzen: Laut Entwurf kann für Saisonbeschäftigte die Ein-
haltung von Tarifbestimmungen nur vorgeschrieben werden, wenn es sich um
gesetzliche Mindestlöhne oder bundesweit allgemeinverbindliche Tarifver-
träge handelt. Für Branchen ohne bundesweit allgemeinverbindliche Tarif-
verträge oder gesetzliche Mindestlöhne (in Deutschland z. B. die Landwirt-
schaft) können so keine Lohnuntergrenzen für Saisonbeschäftigte mehr
festgesetzt werden. Damit drohen Hungerlöhne und massive Verwerfungen
auf den EU-Arbeitsmärkten.

7. Der Richtlinienentwurf der Kommission fördert Lohn- und Sozialdumping.
Weder das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort wird ge-
wahrt, noch ein wirklicher Schutz vor extremer Ausbeutung der Saison-
arbeitskräfte etabliert. Die vorgeschlagenen Regelungen führen dazu, dass
Saisonarbeitskräfte zu noch schlechteren Arbeitsbedingungen und noch nied-
rigeren Löhnen angeworben werden können und damit einer weiteren Sozial-
und Lohnspirale nach unten und stärkerer Lohndrückerei der Weg bereitet
wird. Eine Weiterentsendung von zugelassenen Saisonarbeitskräften für
Dienstleistungserbringungen in einem anderen EU-Mitgliedstaat ist nicht un-
tersagt und ermöglicht so die Rechte von Saisonbeschäftigten weiter zu
schmälern, was den Druck auf Sozialleistungen und Löhne zusätzlich erhöht.

8. Der Druck auf die Löhne wird auch durch fehlende Regelungen zahlreicher
Probleme der Saisonarbeit verstärkt. Keine Regelungen gibt es, wer für die
An- und Abreisekosten, die Visums- und Transportgebühren sowie Vermitt-
lungs- und Verpflegungskosten aufkommen soll. In der Praxis werden diese
zulasten des Lohns der Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter gehen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4045

9. Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter wie auch einheimische Beschäftigte
können nach dem Richtlinienentwurf besser gegeneinander ausgespielt wer-
den. So gibt es keine Anti-Streikbruchklausel im Entwurf, um die Zulassung
von Saisonbeschäftigten für bestreikte Betriebe zu verhindern. Ebenso exis-
tiert kein Verbot der Beschäftigung von Saisonbeschäftigten aus Drittstaa-
ten im Rahmen der Leiharbeit.

10. Saisonale Tätigkeit kann künftig nicht mehr auf bestimmte Branchen oder
Tätigkeitsfelder eingeschränkt werden. Bisherige nationale Definitionen
von Saisonarbeitstätigkeiten auf der Basis objektiver Gründe (Natur, Wetter,
Jahreszeit o. Ä.), wie dies in einzelnen Mitgliedstaaten wie Deutschland
üblich ist, entfallen oder werden aufgeweicht. Die Folge wäre eine Auswei-
tung der Saisonarbeit auf weitere Bereiche der Arbeitswelt und ihre Loslö-
sung von der bisherigen Beschränkung auf Landwirtschaft oder Tourismus.
Zudem könnten künftig auch hochqualifizierte Tätigkeiten unter den An-
wendungsbereich der Richtlinie fallen.

11. Bei Verstößen des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin gegen die Rechte
der Saisonbeschäftigten sind die Mitgliedstaaten nicht berechtigt, Sanktio-
nen zu verhängen. Bei Verstößen gegen den Arbeitsvertrag ist lediglich ein
befristeter Ausschluss von Genehmigungen vorgesehen. Im Falle einer Täu-
schung der Behörden durch die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sieht der
Entwurf nicht einmal vor, dass diese die Reisekosten für die Saisonbeschäf-
tigten tragen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise
und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer
saisonalen Beschäftigung (KOM(2010) 379) abzulehnen;

2. sich aktiv für einen rechtlichen Rahmen einzusetzen, der den sozialen und
arbeitsrechtlichen Schutz für Saisonbeschäftigte stärkt, indem er soziale
Mindeststandards für die Saisonbeschäftigten in der EU festlegt;

3. einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, der noch in
dieser Wahlperiode auf 10 Euro pro Stunde erhöht wird und jährlich
mindestens in dem Maße wächst, wie die Lebenshaltungskosten steigen. Er
bildet die allgemeine Untergrenze der Entlohnung für alle Beschäftigten,
auch im Rahmen von Entsendearbeit;

4. sich im Rat der Europäischen Union dafür einzusetzen, dass entsprechend
der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9. Oktober 2008
(2008/2034(INI)) die EU eine Zielvorgabe zum Niveau von Mindestlöhnen
in Höhe von mindestens 60 Prozent des nationalen Durchschnittslohns ver-
einbart, nebst eines verbindlichen Zeitplans zur Einhaltung dieser Vorgabe
in allen Mitgliedstaaten.

Berlin, den 1. Dezember 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 17/4045 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Begründung

Der Richtlinienentwurf zur saisonalen Beschäftigung von Drittstaatsangehöri-
gen dient vollkommen einseitig den Interessen von Arbeitgeberinnen und Ar-
beitgebern an noch billigeren Arbeitskräften. Die Rechte der Drittstaatsange-
hörigen werden nicht beachtet, im Gegenteil, das dieser Richtlinie zugrunde
liegende Konzept der zirkulären Migration wird getragen von ökonomischen
Verwertungsinteressen. Dieser stärkt nicht die Rechte von Migrantinnen und
Migranten, sondern betrachtet lediglich ihren Nützlichkeitswert für das Kapital.
Auch die Lohn- und Arbeitsbedingungen der hiesigen Beschäftigten würden
durch die in der Richtlinie enthaltenen mannigfaltigen Möglichkeiten des Miss-
brauchs sowie des Sozialdumpings deutlich verschlechtert. Schon die derzeitige
saisonale Beschäftigung innerhalb der EU setzt die nationalen Sozialstandards
unter Druck. Die vorgeschlagene saisonale Beschäftigung von Drittstaatsange-
hörigen würde dies in bisher unbekanntem Maße verschärfen. Damit ist diese
Richtlinie eine akute Gefahr für das soziale Europa – bzw. das, was davon noch
übrig ist – und für die Rechte von Migrantinnen und Migranten. Der Richt-
linienentwurf verhindert zudem eine soziale Integrationspolitik und knüpft kon-
zeptionell an die deutsche Gastarbeiterpolitik der 50er-Jahre an.

Aus diesen Gründen ist der vorliegende Richtlinienentwurf klar und deutlich
zurückzuweisen und eine Initiative für die Stärkung der Rechte von Saison-
beschäftigten zu ergreifen, wie auch ein gesetzlicher Mindestlohn von 10 Euro
in der Bundesrepublik Deutschland einzuführen.

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