BT-Drucksache 17/4039

zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung (KOM(2010)378; Ratsdok.-Nr.: 12211/10) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i.V.m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Vorschlag der Europäischen Kommission zur Konzernentsenderichtlinie zurückweisen

Vom 1. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4039
17. Wahlperiode 01. 12. 2010

Antrag
der Abgeordneten Alexander Ulrich, Sevim Dag˘delen, Jan van Aken, Diana Golze,
Agnes Alpers, Karin Binder, Matthias W. Birkwald, Christine Buchholz,
Dr. Diether Dehm, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Wolfgang Gehrcke,
Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Katja Kipping,
Harald Koch, Jutta Krellmann, Stefan Liebich, Cornelia Möhring, Niema Movassat,
Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Katrin Werner, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie
des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen
für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen
einer konzerninternen Entsendung (KOM(2010) 378 endg.; Ratsdok. 12211/10)

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union

Vorschlag der Europäischen Kommission zur Konzernentsenderichtlinie
zurückweisen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Europäische Kommission hat am 13. Juli 2010 einen Vorschlag für eine
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingun-
gen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rah-
men einer konzerninternen Entsendung (KOM(2010) 378) vorgelegt. Dieser
wird seit dem 7. Oktober 2010 im Ministerrat diskutiert.

2. Als Rechtsgrundlage wurde allein Artikel 79 des Vertrages über die Arbeits-
weise der Europäischen Union (AEUV) herangezogen, obwohl der Richt-
linienentwurf auch die Beschäftigungsbedingungen der betroffenen Dritt-
staatsangehörigen regelt und damit Artikel 153 AEUV einschlägig wäre.
Dies hätte auch eine Einbeziehung der Sozialpartner in die Erstellung des

Entwurfs erforderlich gemacht.

3. Das in der Richtlinie genannte Ziel ist, es multinationalen Unternehmen zu
erleichtern, Fach- und Führungskräfte sowie Auszubildende aus Drittstaaten
konzernintern zu versenden und zwar aus einem Unternehmensteil in einem
Drittstaat in einen Unternehmensteil innerhalb der Europäischen Union
(EU). Die Richtlinie regelt für diese Fälle die Einreise-, Aufenthalts- und
Arbeitsbedingungen.

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4. Der Richtlinienvorschlag der EU-Kommission birgt vielfältige Missbrauchs-
möglichkeiten:

a) Eine Vorbeschäftigung der Drittstaatsangehörigen im außereuropäischen
Unternehmensteil muss nur nachgewiesen werden, sofern die Rechtsvor-
schriften des Aufnahmemitgliedstaats dies vorsehen. Scheinentsendun-
gen sind damit Tür und Tor geöffnet.

b) Die Definition von „Fachkraft“ ist so vage, dass auch Beschäftigte, die
eine einjährige Ausbildung mit einem Zeugnis abgeschlossen haben, als
solche gelten. Damit können auch Beschäftigte konzernintern entsandt
werden, die hierzulande nur als angelernt gelten, was die Missbrauchs-
möglichkeiten für Unternehmen weit über den Personenkreis der Hoch-
qualifizierten ausdehnt.

c) Das entsendende Unternehmen braucht nur eine Niederlassung in einem
Drittstaat; es muss dort nicht seinen Hauptsitz haben. Auch die aufneh-
mende innereuropäische Niederlassung ist – was Größe, Beschäftigten-
zahl etc. angeht – in der Richtlinie nicht weiter definiert. Dies erleichtert
die Gründung von Niederlassungen allein zum Zweck der konzerninter-
nen Billigentsendung.

d) Internationale Leiharbeitskonzerne und Personaldienstleister sind nicht
explizit von der Richtlinie ausgenommen. Damit werden nationale Rege-
lungen und Bedingungen für die Arbeitnehmerüberlassung unterlaufen
und es ergeben sich völlig neue Dimensionen des Lohndumpings.

5. Der Richtlinienentwurf fördert Lohn- und Sozialdumping:

Die Richtlinie schreibt das Prinzip „Gleicher Lohn und gleiche Arbeitsbe-
dingungen für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsort“ ausdrücklich nicht
fest. Eine Gleichstellung der konzernintern entsandten Drittstaatsangehöri-
gen mit heimischen Beschäftigten erfolgt lediglich bezüglich der Mindest-
standards; Löhne können nur festgelegt werden, wenn sie in Rechts- oder
Verwaltungsvorschriften oder durch allgemeinverbindlich erklärte Tarifver-
träge festgelegt sind. Für Deutschland hieße das, dass für die meisten ent-
sandten Beschäftigten keine Mindeststandards gelten würden, da es kaum
allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge gibt. Zudem haben bereits die
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zu Rüffert und Luxemburg
gezeigt, dass eine solche Regelung hierzulande ins Leere läuft. Branchen-
oder Haustarifverträge gelten für die entsandten Beschäftigten damit ebenso
wenig wie in Betriebsvereinbarungen festgelegte Regelungen.

Mit der vorgeschlagenen Richtlinie ist überdies ein erweitertes und gezieltes
Lohn- und Sozialdumping möglich: Die Beschäftigten können zu den
Arbeits- und Entlohnungsbedingungen des ersten EU-Aufnahmemitglied-
staates zu Niederlassungen und Kunden in alle anderen Mitgliedstaaten wei-
ter entsandt werden, auch für den überwiegenden Zeitraum ihrer Entsendung.
Dies bedeutet nichts anderes als die Einführung des Herkunftslandprinzips
für Unternehmen, die Drittstaatsangehörige entsenden und innerhalb der EU
weiter entsenden. Die zunehmende Verdrängung von Arbeitsverhältnissen
hiesigen Rechts durch Entsendearbeit zu Dumpingbedingungen ist damit
vorbestimmt und wird unweigerlich zu einer Abwärtsspirale bei den hiesigen
Arbeitsbedingungen führen.

6. Die Richtlinie definiert die Rechte der Beschäftigten nur ungenügend:

Die Rechte auf Streik, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind nicht aus-
drücklich erwähnt, eine Anti-Streikbruch-Klausel fehlt völlig. Obwohl Bei-
träge gezahlt werden müssen, können viele Sozialleistungen wegen der zeit-

lichen Begrenzung des Aufenthalts nicht in Anspruch genommen werden.
Überdies sind wichtige Probleme entsandter Beschäftigter wie Familien-

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heimfahrten, Übernahme von Reisekosten und Visagebühren oder Unter-
kunft nicht geregelt.

7. Die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten sind unzureichend:

Da die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis der Beschäftigten allein am Weiter-
bestehen ihres Arbeitsvertrags hängt, können sie sich kaum gegen Miss-
stände wehren. Auch eine Verbandsklagemöglichkeit ist in der Richtlinie
nicht vorgesehen, ebenso wenig eine Klagemöglichkeit innerhalb der EU –
Gerichtsstand wäre somit grundsätzlich der entsendende Drittstaat. Staatliche
Kontrollen hinsichtlich der Prüfung der Vorbeschäftigung im entsendenden
Konzernteil sind nur mit hohem bürokratischem Aufwand möglich. Er-
schwert bis unmöglich wird die Kontrolle auch dadurch, dass die Beschäftig-
ten innerhalb der EU kurzfristig sowohl zu anderen Konzernteilen als auch
zu Kunden der Niederlassungen versetzt werden können; ebenso dadurch,
dass die Lohnabrechnung und -zahlung nicht durch die Konzernteile inner-
halb der EU erfolgen muss. Sanktionen sind nur bei Verstößen gegen die Zu-
lassungsbedingungen vorgesehen, nicht jedoch, wenn die Unternehmen ge-
gen Beschäftigungsgrundrechte verstoßen.

8. Das Konzept der zirkulären Migration wird fortgesetzt:

Statt auf Integration und soziale Teilhabe von Migrantinnen und Migranten
zu setzen, schreibt der Richtlinienentwurf einen Rückkehrnachweis als Vor-
aussetzung für die Zulassung zum Arbeitsmarkt im aufnehmenden EU-Mit-
gliedstaat vor. Der Erhalt eines dauerhaften Aufenthaltstitels für die EU ist
ausgeschlossen. Zudem bleiben die Drittstaatsangehörigen bis zum Ablauf
der Entsendezeit an ihren Arbeitgeber gebunden, ohne die Möglichkeit, ihn
zu wechseln, und können von ihm jederzeit innerhalb der EU weiterentsandt
werden. Damit sind Ausbeutung, Niedriglöhne und Ausgrenzung vorpro-
grammiert. Der vorgelegte Richtlinienentwurf ist überdies extrem familien-
unfreundlich, da Ehepartner keine Arbeitserlaubnis erhalten und die Mitreise
der Familienangehörigen bei der innereuropäischen Weiterentsendung nicht
garantiert ist.

9. Die Richtlinie fördert den Brain-Drain:

Der Richtlinienentwurf versucht, Hochqualifizierte aus Drittländern in die
EU zu bringen, obwohl feststeht, dass dieser Brain-Drain die wirtschaftliche
Entwicklung der Länder der Dritten Welt nicht fördert, sondern hemmt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den
Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Ent-
sendung (KOM(2010) 378) abzulehnen.

Berlin, den 1. Dezember 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Der Richtlinienentwurf zur konzerninternen Entsendung dient vollkommen

einseitig den Interessen multinationaler Konzerne an billigen Arbeitskräften. Er
dient nicht – wie die Europäische Kommission behauptet – dazu, die Verpflich-

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tungen aus dem Dienstleistungsabkommen der Welthandelsorganisation
(GATS) umzusetzen, er nutzt diese nur als Vorwand und geht weit darüber hin-
aus: Begünstigt werden auch multinationale Konzerne mit Sitz innerhalb der
Europäischen Union, die vorgesehene Richtlinie soll für sämtliche Branchen
gelten und die Einschränkungen, welche die EU bei ihren GATS-Verpflichtun-
gen gegenüber Drittstaaten gemacht hat, finden sich im Richtlinienentwurf
nicht oder nur in abgeschwächter Form wieder.

Die Rechte der Drittstaatsangehörigen werden nicht beachtet; im Gegenteil, das
dieser Richtlinie zugrunde liegende Konzept der zirkulären Migration wird
getragen von ökonomischen Verwertungsinteressen. Es stärkt nicht die Rechte
von Migrantinnen und Migranten, sondern betrachtet lediglich ihren Nützlich-
keitswert für Unternehmen. Der Entwurf schreibt darüber hinaus eine enorme
Diskriminierung der Migrantinnen und Migranten fest. Drittstaatsangehörige
sollen für die gleiche Arbeit am gleichen Ort ungleich bezahlt werden; für sie
sollen die (schlechteren) gesetzlichen Mindestarbeitsbedingungen statt der
(besseren) tariflichen und betrieblichen Regelungen gelten. Migrantinnen und
Migranten würden im Rahmen der konzerninternen Entsendung zu völlig von
ihren Arbeitgebern abhängigen „Lohnsklaven“ degradiert, die zugunsten der
größeren Profite der Konzerne einer menschenverachtenden Ausbeutung und
Ausgrenzung ausgesetzt würden.

Auch die Lohn- und Arbeitsbedingungen der hiesigen Beschäftigten würden
durch die in dem Richtlinienentwurf enthaltenen mannigfaltigen Möglichkeiten
des Missbrauchs sowie des Sozialdumpings deutlich verschlechtert. Schon die
Entsendung von Beschäftigten innerhalb der EU unter den derzeit existieren-
den, beschäftigtenfeindlichen EU-Bestimmungen setzt die nationalen Sozial-
standards unter Druck. Die vorgeschlagene Entsendung von Drittstaatsangehö-
rigen im Rahmen dieser Richtlinie würde dies in bisher unbekanntem Maße
verschärfen. Damit ist die vorgeschlagene Konzernentsenderichtlinie eine
akute Gefahr für das soziale Europa – bzw. das, was davon noch übrig ist.

Aus diesen Gründen ist der vorliegende Richtlinienentwurf klar und deutlich
zurückzuweisen.

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