BT-Drucksache 17/3593

Neufassung der Flüchtlingsanerkennungsrichtlinie

Vom 1. November 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3593
17. Wahlperiode 01. 11. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler, Marieluise
Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz,
Katja Keul, Ute Koczy, Tom Koenigs, Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln),
Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel
Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Neufassung der Flüchtlingsanerkennungsrichtlinie

Die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 regelt die Mindest-
normen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder
Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz und den
Inhalt des zu gewährenden Schutzes.

Die Europäische Kommission hatte am 23. Oktober 2009 (als Teil seiner sog.
Asylstrategie vom Juni 2008 – KOM(2008) 360) einen Vorschlag für die Neu-
fassung der Flüchtlingsanerkennungsrichtlinie vorgelegt (KOM(2009) 551).
Gemeinsam mit der Reform der Asylverfahrensrichtlinie (Artikel 3 Absatz 1)
zielt die Neufassung darauf, Asylsuchende und Personen, die um subsidiären
Schutz nachsuchen, gleich zu behandeln.

Die EU-Mitgliedstaaten teilen dieses Reformanliegen der EU-Kommission und
haben sich im „Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl“ (EU-Ratsdoku-
ment 13440/08, S. 11) und später im „Stockholmer Programm“ (EU-Ratsdoku-
ment 5731/10, S. 114) dazu bekannt, spätestens bis 2012 Personen, denen Asyl
oder subsidiärer Schutz gewährt wird, einen einheitlichen Schutz zu ermög-
lichen.

Die EU-Kommission konstatiert in ihrem Vorschlag für eine Neufassung die
unzureichende Umsetzung der bisherigen Richtlinie. Das Hauptproblem liegt
demnach darin, dass die angenommenen Mindestnormen ungenau und unklar
formuliert sind. Dies hat eine Asylanerkennungspraxis der EU-Mitgliedstaaten
zur Folge, die in zahlreichen dokumentierten Fällen sich nicht uneingeschränkt
mit den sich weiterentwickelnden Menschenrechts- und Flüchtlingsnormen
übereinstimmt. Änderungsbedarf sieht die EU-Kommission besonders auf-
grund der nicht hinlänglichen Harmonisierung der unterschiedlichen Asylaner-
kennungsverfahren und deren mangelnden Qualität und Effizienz.
Deshalb verfolgt der Neufassungsvorschlag der EU-Kommission folgende Än-
derungen:

● Präzisierung der Rechtsbegriffe und damit Vereinfachung ihrer Anwendung,
um zu tragfähigeren Entscheidungen in erster Instanz zu kommen,

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● Straffung der Verfahren für die Zuerkennung von Rechten für die beiden
Gruppen von Schutzberechtigten (Flüchtlinge und subsidiär Geschützte) und
folglich Verbesserung der Effizienz des Asylverfahrens,

● Angleichung des Schutzstatus von Flüchtlingen und subsidiär Geschützten
und den sich daraus ergebenden sozialen Folgerechten und

● Sicherstellung der Kohärenz mit der Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofs (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR).

Die amtierende belgische Ratspräsidentschaft räumt der Flüchtlingsanerken-
nungsrichtlinie innerhalb der Reformen der europäischen Asylpolitik hohe
Priorität bei.

Deutschland hat dem wichtigen Aspekt des Neufassungsvorschlags, die Gleich-
stellung von subsidiär Geschützten mit Flüchtlingen, bereits im Grundsatz bei
den Verhandlungen um die Daueraufenthaltsrichtlinie 2008 zugestimmt. Die
Bundesregierung hat aber – wie in den Verhandlungen um die Neufassung der
Asylverfahrensrichtlinie und der Dublin-II-Verordnung (vgl. Bundestagsdruck-
sachen 17/1852 und 17/2544) – zahlreiche Vorbehalte gegen den Neufassungs-
vorschlag angemeldet.

Hinweis: Die nachfolgenden Fragen beziehen sich auf die EU-Ratsdokumente
12447/10 (vom 26. Juli 2010), 14331/10 (vom 12. Oktober 2010) und 14970/
10 (vom 19. Oktober 2010).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch war die Gesamtzahl der in Deutschland nach § 25 Absatz 3 des
Aufenthaltsgesetzes anerkannten subsidiär Geschützten zum 30. September
2010?

2. a) Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung einen Vorbehalt gegen
Artikel 2 Buchstabe j des EU-Kommissionsvorschlags zur Flüchtlings-
anerkennungsrichtlinie angemeldet, der eine erweiterte Definition von
Familienangehörigen vorsieht, die im Einklang mit dem Recht auf einen
Familienverband und dem Standpunkt, den das EU-Parlament als Reak-
tion auf die Mitteilung der EU-Kommission im Hinblick auf eine EU-Kin-
derrechtsstrategie eingenommen hat (2007/2093(INI)), steht?

b) Wie beurteilt die Bundesregierung den Hinweis der EU-Kommission,
dass eine Definition von Familienangehörigen angebracht sei, die weiter
gefasst ist als in anderen Rechtsakten des Asylbereichs, da die Richtlinie
die Anerkennung von Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz
betrifft?

c) Wie beurteilt die Bundesregierung den Hinweis der EU-Kommission, dass
die Streichung von Artikel 2 Buchstabe k dritter Gedankenstrich des EU-
Kommissionsvorschlags zur Flüchtlingsanerkennungsrichtlinie nicht mit
Artikel 24 der EU-Grundrechtecharta in Einklang steht, der festlegt das
Wohl des Kindes bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen vorrangig in
Erwägung zu ziehen?

3. a) Mit welcher Begründung wendet die Bundesregierung sich gegen die von
der EU-Kommission in Artikel 7 Absatz 1 vorgeschlagene Präzisierung
der Definition der Akteure, die Schutz bieten können, auf Staaten bzw. auf
Parteien oder Organisationen, sofern diese den Staat oder einen wesent-
lichen Teil des Staatsgebiets beherrschen und in der Lage sind, wirksamen
und dauerhaften Schutz zu gewährleisten?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3593

b) Mit welcher Begründung schlägt die Bundesregierung im Gegenzug vor,
die bereits in der geltenden Richtlinie enthaltende Regelung zu ändern
und den Kreis von Akteuren, die Schutz bieten können, etwa auf
Stammesgruppen zu erweitern, und wie verhält sich dieser Vorschlag mit
der Maßgabe, dass der schutzbietende Akteur rechtsstaatlich verfasst sein
muss?

4. a) Mit welcher Begründung wendet die Bundesregierung sich gegen den
Verweis auf die Akteure, die Schutz bieten können (Artikel 7) in Artikel 8
Absatz 1 des EU-Kommissionsvorschlags, der die Kriterien regelt, nach
denen die Mitgliedstaaten einen Schutzsuchenden mit Verweis auf eine
inländische Fluchtalternative im Herkunftsland abweisen können?

b) Mit welcher Begründung wendet die Bundesregierung sich in Artikel 8
Absatz 1 des EU-Kommissionsvorschlags gegen das Kriterium, dass
eine inländische Fluchtalternative im Herkunftsland für einen Schutz-
suchenden nur besteht, wenn er im jeweiligen Landesteil sicher und legal
reisen und sich dort niederlassen kann?

c) Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung einen Prüfvorbehalt
gegen die vorgeschlagene Streichung des bisherigen Artikel 8 Absatz 3
des EU-Kommissionsvorschlags angemeldet, in dem festgehalten war,
dass interner Schutz auch dann gegeben sein kann, wenn so genannte
zeitweilige technische Hindernisse für den Zugang in den betreffenden
Landesteil bestehen?

5. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung – neben Tschechien als
einziger Mitgliedstaat – gegen das komplette Kapitel VII (Inhalt des inter-
nationalen Schutzes) Vorbehalte gegen die vorgeschlagene Angleichung
zwischen den Rechten von Flüchtlingen und den Rechten von Personen mit
Anspruch auf subsidiären Schutz angemeldet, und wie erklärt die Bundes-
regierung ihre Abkehr vom Grundsatz der Schutzangleichung, zu dem sich
Deutschland gemeinsam mit allen EU-Mitgliedstaaten im „Europäischen
Pakt zu Einwanderung und Asyl“ (EU-Ratsdokument 13440/08, S. 11) und
später im „Stockholmer Programm“ (EU-Ratsdokument 5731/10, S. 114)
bekannt hat?

6. Mit welcher Begründung wendet die Bundesregierung sich gegen die vor-
geschlagene Streichung der Absätze 6 und 7 in Artikel 20 des EU-Kommis-
sionsvorschlags, die bisher lediglich in drei Mitgliedstaaten – darunter
Deutschland – in innerstaatliches Recht mit dem Ziel umgesetzt wurde, in-
ternationalen Schutz zu verwehren, wenn so genannte selbstgeschaffene
Nachtfluchtgründe festgestellt wurden, und wie bewertet sie den Hinweis
der EU-Kommission, dass diese Bestimmungen gegen die nunmehr verbind-
lich geltende EU-Grundrechtecharta verstoßen würde?

7. Mit welcher Begründung wendet sich die Bundesregierung gegen die in
Artikel 24 Absatz 2 des EU-Kommissionsvorschlags vorgeschlagene Aus-
dehnung des Aufenthaltstitels für subsidiär Geschützte von einem auf zwei
Jahre?

8. Mit welcher Begründung wendet sich die Bundesregierung gegen die in
Artikel 25 Absatz 2 des EU-Kommissionsvorschlags vorgesehene Ausstel-
lung von Reisedokumenten für subsidiär Geschützte, wenn diese nicht über
einen gültigen nationalen Pass oder ein entsprechendes Reisedokument ver-
fügen oder aus objektiven Gründen keine derartigen Dokumente erhalten
können, vor dem Hintergrund, dass nur drei Mitgliedstaaten – darunter
Deutschland – die bisherige Bestimmung anwenden, die zwischen Flüchtlin-
gen und Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz unterscheiden?

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9. a) Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung einen Prüfungsvor-
behalt gegen Artikel 26 des EU-Kommissionsvorschlags angemeldet, der
den Zugang zur Beschäftigung für Personen mit Anspruch auf internatio-
nalen Schutz vorsieht?

b) Warum setzt sich die Bundesregierung für die Streichung von Artikel 26
Absatz 3 des EU-Kommissionsvorschlags ein, der Personen mit An-
spruch auf internationalen Schutz den vollen Zugang zu beschäftigungs-
bezogenen Bildungsangeboten und berufsbildenden Maßnahmen er-
leichtern soll, und welche Konsequenzen hat diese Haltung für den
Zugang zu Integrationskursen für Personen mit Anspruch auf internatio-
nalen Schutz in Deutschland?

10. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung einen Vorbehalt gegen
Artikel 28 Absatz 2 des EU-Kommissionsvorschlags angemeldet, der vor-
sieht, dass Mitgliedstaaten Personen mit Anspruch auf internationalen
Schutz, die keine Nachweise für ihre Qualifikation beibringen können, Zu-
gang zu geeigneten Programmen für die Beurteilung, Validierung und Bestä-
tigung früher erworbener Hochschul- und Berufsabschlüsse zu gewähren?

11. Mit welcher Begründung hält die Bundesregierung an ihrem Widerstand
gegen die vorgeschlagene Streichung des Artikel 29 Absatz 2 des EU-
Kommissionsvorschlags (bisheriger Artikel 28 Absatz 2) fest, der es den
Mitgliedstaaten bisher erlaubt, die Sozialhilfe für subsidiär Schutzbedürf-
tige auf Kernleistung zu beschränken, anstatt ihnen die notwendige Sozial-
hilfe wie Staatsangehörige des jeweiligen Mitgliedstaats zu gewähren?

12. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung einen Vorbehalt gegen
Artikel 30 des EU-Kommissionsvorschlags angemeldet, der Personen mit
Anspruch auf internationalen Schutz Zugang zu medizinischer Versorgung
nach denselben Bedingungen wie Staatsangehörige des jeweiligen Mit-
gliedstaats gewähren soll?

13. a) Mit welcher Begründung tritt die Bundesregierung – als einzige Regie-
rung der EU-Mitgliedstaaten – gegen die in Artikel 31 Absatz 1 des EU-
Kommissionsvorschlags vorgesehene Bezugnahme auf die Gewährung
der notwendigen Maßnahmen ein, die unbegleiteten Minderjährigen
(unter 18 Jahren) so rasch wie möglich die Vertretung durch einen ge-
setzlichen Vormund oder gleichgestellten Einrichtungen oder Instanzen
gewähren soll?

b) Mit welcher Begründung wendet sich die Bundesregierung – als einzige
Regierung der EU-Mitgliedstaaten – gegen Artikel 31 Absatz 6 des EU-
Kommissionsvorschlags, der vorsieht, dass das Betreuungspersonal für
unbegleitete Minderjährige im Hinblick auf die Bedürfnisse von Min-
derjährigen adäquat ausgebildet sein und sich regelmäßig fortbilden
soll?

14. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung einen Vorbehalt gegen
Artikel 32 des EU-Kommissionsvorschlags angemeldet, der vorsieht, dass
Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz Zugang zu Wohnraum
unter den Bedingungen erhalten, die mit den Bedingungen für andere Dritt-
staatsangehörige gleichwertig sind, und Maßnahmen zur Verhinderung der
Diskriminierung und der Gewährleistung der Chancengleichheit in diesem
Bereich zu ergreifen?

15. a) Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung einen Vorbehalt
gegen Artikel 34 des EU-Kommissionsvorschlags angemeldet, der die
derzeitige Ungleichbehandlung von Flüchtlingen und Personen mit An-
spruch auf subsidiären Schutz beim Zugang zu Integrationsmaßnahmen

aufheben soll?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/3593

b) Wie beurteilt die Bundesregierung den Hinweis der EU-Kommission,
dass mehr als 16 Mitgliedstaaten nicht zwischen den beiden Rechtsstel-
lungen differenzieren und die Differenzierung dem Ziel der Integration
zuwiderläuft, sondern im Gegenteil Diskriminierung befördern kann?

16. In welchen Bereichen ist die Bundesregierung dazu bereit, die von der
belgischen EU-Ratspräsidentschaft ersuchte Flexibilität für eine Einigung
mit dem Europäischen Parlament zu zeigen und ihre Vorbehalte in den
Hauptkonfliktthemen (Definition von Familienangehörigen, Angleichung
der Schutzstandards und der damit verbundenen Rechte und Leistungen) zu-
rückzuziehen (siehe EU-Ratsdokument 14970/10 vom 19. Oktober 2010)?

Berlin, den 29. Oktober 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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