BT-Drucksache 17/2921

Bedarfsgerechte Regelsätze und ein zuverlässiges Hilfesystem für Kinder, Jugendliche und Erwachsene statt Experimenten

Vom 14. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2921
17. Wahlperiode 14. 09. 2010

Antrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Ekin Deligöz, Birgitt Bender,
Katja Dörner, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Priska Hinz (Herborn),
Maria Klein-Schmeink, Stephan Kühn, Monika Lazar, Beate Müller-Gemmeke,
Brigitte Pothmer, Tabea Rößner, Elisabeth Scharfenberg, Christine Scheel,
Dr. Harald Terpe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bedarfsgerechte Regelsätze und ein zuverlässiges Hilfesystem für Kinder,
Jugendliche und Erwachsene statt Experimenten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Pläne der Bundesregierung zur Einführung von Chipkarten in Teilbereichen
der Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) entbin-
den diese nicht von der Pflicht, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
9. Februar dieses Jahres umzusetzen. Bis Ende des Jahres 2010 sind nach diesem
Urteilsspruch die Regelsätze für Erwachsene, Jugendliche und Kinder in einem
„transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf,
also realitätsgerecht, zu bemessen“. Das heißt: Die Bundesregierung muss eine
laut Bundesverfassungsgericht „freihändige Setzung ohne empirische und
methodische Fundierung“, die „ins Blaue hinein“ erfolgt ist, korrigieren. Beson-
ders hervorgehoben hatte das Gericht den „völligen Ermittlungsausfall“ bei den
Regelsätzen für Kinder und Jugendliche, dem durch ein sinnvolles Verfahren
abzuhelfen ist.

Bereits in ihren ersten Leitsätzen stellen die Bundesverfassungsrichter die Leis-
tungen der Grundsicherung nach dem SGB II und SGB XII in einen direkten
Zusammenhang mit dem Gebot der Menschenwürde nach Artikel 1 des Grund-
gesetzes und dem Sozialstaatsprinzip nach Artikel 20 des Grundgesetzes. Als
Mindestsicherung müssen die Regelsätze dem Empfänger der Hilfe die Führung
eines Lebens ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Daher sind
an die Verfahren zur Ermittlung und Festsetzung der Regelsätze im SGB II und
SGB XII hohe Maßstäbe anzulegen.

Die bisher bekannt gewordenen Pläne der Bundesministerin für Arbeit und
Soziales, ein so genanntes Bildungspaket für Kinder im Sozialgeldbezug mit
Hilfe einer Chipkarte aufzulegen, werden den Anforderungen des Bundesverfas-
sungsgerichts nicht gerecht. Bevor Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
Überlegungen zu Chipkarten oder sonstigen Zahlungsmethoden anstellt, ist sie
in der Pflicht, eine verfassungskonforme Berechnung der Regelsätze für Kinder,
Jugendliche und Erwachsene durchzuführen. Es ist eindeutig, zuerst muss die
Höhe der Regelsätze festgelegt werden, danach kommen die Modalitäten der
Auszahlung. Die Pflicht zur Neubestimmung der Regelsätze beschränkt sich

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weder allein auf Kinder noch auf ihre entwicklungsbedingten Bedarfe oder gar
nur auf deren Bildungsbedarfe. Obwohl nur noch wenige Monate bis zur Umset-
zung des Urteils zur Verfügung stehen, hat die Bundesministerin eine diffuse
Diskussion entfacht – ohne eine Berücksichtigung der politischen Zuständigkeit
und Verantwortlichkeit der Bundesländer, ohne Rücksicht auf gewachsene
Strukturen vor Ort und vor allem ohne ehrliche Kenntnisnahme der finanziellen
Situation der Kommunen. Die Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen stellt
zwar in Aussicht, die Beschaffung von Schulmaterialien, die Finanzierung des
Schulessens oder den Besuch von Sportvereinen und Musikschulen auf dem
Weg der digitalisierten Sachleistung für bedürftige Kinder zu finanzieren. Wie
dies mit dem öffentlich diskutierten Betrag von weniger als 20 Euro monatlich
möglich sein soll, bleibt im Dunkeln.

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen unterstellt überdies mit der Wahl
des Instruments „Chipkarte“ den langzeitarbeitslosen Eltern, sie seien nicht in
der Lage, eine Geldleistung zielgerichtet für die Bedarfe ihrer Kinder einzuset-
zen. Die Bundesministerin behauptet zwar, die Karte diskriminiere bedürftige
Kinder nicht, weil jedes Kind eine Karte bekommen solle. Es ist jedoch nicht
einmal in Ansätzen erkennbar, dass die Ausgabe einer Chipkarte für alle Kinder
in den nächsten Jahren erreicht werden kann. Die Städte und Gemeinden, die
den größten Teil der Chipkartenleistungen einlösen müssten, sind seit Jahren
finanziell überfordert. Sie haben bereits angekündigt, dass sie über keine Spiel-
räume für weitere Leistungsausweitungen verfügen. Im Gegenteil: Die Zahl der
Einrichtungen und Angebote der Jugendbildung, Jugendarbeit, Jugenderholung
und Beratung ist aufgrund der kommunalen Finanznot in den letzten Jahren
stetig zurückgegangen. Zudem ist absehbar, dass ein flächendeckendes System
zur Einlösung und Abrechnung erheblichen bürokratischen Mehraufwand und
datenschutzrechtliche Probleme mit sich brächte. Gleichzeitig ist ein allgemeiner
Ausbau der Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur sowie eine weitgehende
Lernmittelfreiheit – sichergestellt durch die zuständigen Akteure in Ländern
und Kommunen – wesentlich wirkungsvoller und dient allen Kindern. Dies
muss weiter gestärkt werden.

Inwiefern die Pläne der Bundesarbeitsministerin mit einheitlicher Leistungsge-
währung, mit der notwendigen und grundsätzlichen Neujustierung der Regel-
sätze und der Einführung von realitätsgerechten einmaligen Leistungen sowie
besonderen Bedarfen in Einklang zu bringen sind, scheint in den öffentlichen
Überlegungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales keine Rolle zu
spielen. Dabei legen fundierte und nachvollziehbare Expertisen wie die des
Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV) nahe, dass der gegen-
wärtige Regelsatz sowohl für Kinder als auch für Erwachsene eine erhebliche
Unterdeckung aufweist. Auch die fast vollständige Pauschalierung der früheren
einmaligen Leistungen hat sich nicht in jeder Hinsicht als sinnvoll erwiesen.
Wenn die Bundesregierung die vom Bundesverfassungsgericht getroffene Fest-
stellung „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“ ernst nimmt, darf sie sich
weder auf eine „Bildungskarte“ beschränken noch darf sie sich einer Öffnung
des SGB II verschließen. Im begründeten Einzelfall muss es möglich werden,
besondere Bedarfe auch als einmalige Leistungen im notwendigen Umfang zu
erbringen; dazu gehören für Kinder und Jugendliche die notwendigen Förder-
leistungen. Überdies ist das derzeitige Anpassungsverfahren systemwidrig. Es
ist alles andere als sachgerecht, die Entwicklung des Existenzminimums alljähr-
lich an die politisch beeinflusste Anpassung der Renten zu koppeln. Vielmehr
sollen die Regelsätze zwischen den alle fünf Jahre stattfindenden Erhebungen
der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe an den Lebenshaltungskostenindex
gebunden werden. Zum dem gesamten leistungsrechtlichen Komplex der
Grundsicherung und den sich aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil ergeben-
den methodischen, konzeptionellen sowie systemischen Fragen hat die verant-
wortliche Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen keinen Entwurf zu bieten.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2921

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. umgehend einen Gesetzentwurf für neue Regelsätze für Kinder, Jugendliche
und Erwachsene vorzulegen. Dabei sind mindestens folgende Bedingungen
zu erfüllen:

a) Die Regelsätze nach dem SGB II und SGB XII sind so auszugestalten,
dass sie dem sozialstaatlichen Gebot der Deckung des sozio-kulturellen
Existenzminimums für ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen
Rechnung tragen.

b) Bei der Neufestlegung der Regelsätze ist auf pauschale Abschläge zu ver-
zichten und Bildungsausgaben sowie Gesundheitsausgaben sind mit in
die Ausgabenermittlung einzubeziehen.

c) Die Regelsätze für Kinder und Jugendliche sind auf eine Berechnungs-
grundlage zu stellen, die deren altersspezifischen und besonderen ent-
wicklungsbedingten Bedarf berücksichtigt.

d) Die Ermittlung der Bedürfnisse und die Festlegung der Bedarfe sind
nachvollziehbar und transparent anzulegen. Dabei ist die Aussagekraft
der Daten der untersten 20 Prozent der Einkommens- und Verbrauchs-
stichprobe hinsichtlich der Bedarfsdeckung kritisch zu hinterfragen und
mit typischen Warenkörben abzugleichen;

2. zu prüfen, in welchen Bereichen die allgemeine, bedürftigkeitsunabhängige
Bereitstellung von Sachleistungen wie Schulbücher, Schulmittagessen und
Zugänge zu Kultur eine chancen- und bedarfsgerechte Teilhabe von Kindern
und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben gewährleisten kann;

3. den Ausbau der Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur voranzubringen, so
dass gerade auch für Kinder aus finanzschwachen und bildungsfernen
Schichten die Teilnahme sichergestellt ist;

4. durch eine aufgabengerechte Finanzausstattung der Städte und Gemeinden
und eine Stärkung der Gemeindesteuern die Voraussetzung für eine nachhal-
tige Förderung der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII zu schaffen;

5. bei der Gewährung von Sachleistungen und der eventuellen Einführung an-
derer Instrumente/einer Chipkarte zu gewährleisten, dass Leistungen und
neue Instrumente nur in Kooperation mit den Ländern und Kommunen ein-
geführt werden, so dass sie bislang existierende Modelle sinnvoll ergänzen;

6. es den Kostenträgern des SGB II, SGB XII und des Asylbewerberleistungs-
gesetzes bis zur Entwicklung praktikabler Vorschläge zur Neuordnung der
Pauschalierung einmaliger Leistungen zu ermöglichen, zusätzlich einmalige
Leistungen und infrastrukturelle Leistungen sowie atypische Leistungen zu
gewähren, sofern dies aufgrund besonderer Lebenslagen und Dispositionen
von Hilfeempfängern unabweisbar notwendig ist oder sofern es zur Siche-
rung der körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung von hilfebedürf-
tigen Kindern und Jugendlichen dient.

Berlin, den 13. September 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Drucksache 17/2921 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 zu den
SGB-II-Regelsätzen zutreffend festgestellt, dass die derzeitigen Verfahren zur
Ermittlung der Bedarfe sowie zur Herleitung der Regelsätze überwiegend sub-
jektiven Kriterien folgen und wenig transparent sind. Im Ergebnis ist das Ver-
fahren überaus zweifelhaft, so dass nicht mehr von einer verfassungsgemäßen
Ermittlung des Existenzminimums ausgegangen werden kann. Damit bestätigt
sich die Kritik an der Höhe der Regelsatzleistungen für Kinder und Erwach-
sene. Sie sind gegenwärtig nicht bedarfsdeckend und nicht existenzsichernd.
Ausgesprochen ungerechtfertigt ist es zudem, den Regelsatz für Kinder und
Jugendliche pauschal vom Erwachsenenregelsatz abzuleiten.

Die Bundesverfassungsrichter halten die Methoden des jetzigen Verfahrens der
Regelsatzermittlung für unangemessen. Es sind erhebliche Zweifel an der Vali-
dität der zugrunde gelegten Zahlen geäußert worden. Der Vertreter der Bundes-
regierung zog sich in der mündlichen Verhandlung auf die bloße Behauptung
zurück, die Regelleistungen für Erwachsene seien „ausreichend und korrekt
ermittelt“. Seine Ausführungen überzeugten nicht, sondern offenbarten die Kon-
zeptlosigkeit der Bundesregierung. In der schriftlichen Begründung des Urteils
wird von Schätzungen „ins Blaue“ hinein und einer „freihändigen Setzung“ ge-
sprochen. Das offenbart dringenden Handlungsbedarf. Der Deutsche Paritä-
tische Wohlfahrtsverband geht beispielsweise davon aus, dass die Regelsätze für
Kinder und Jugendliche je nach Altersgruppe derzeit zwischen 280 Euro für
kleine Kinder und 360 Euro für ältere Jugendliche liegen müssten.

Es ist jetzt notwendig, den Sozialstaatsauftrag des Artikels 1 des Grundgesetzes,
nämlich die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu ermöglichen, zu er-
füllen. Nur eine Anpassung der Regelsätze an die tatsächlichen Bedürfnisse
und die Schaffung eines wissenschaftlich nachvollziehbaren und transparenten
Verfahrens der Regelsatzberechnung können verhindern, dass das Gebot der
Menschenwürde für die vielen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die
Leistungen der Grundsicherung nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozial-
gesetzbuch beziehen, nur auf dem Papier steht. Handlungsbedarf besteht in
mehrfacher Hinsicht:

Die Pauschalierung vieler Leistungen hat bei den Hilfebedürftigen zu unbilli-
gen Härten geführt, da die geringe Höhe der Regelsätze es diesen augenschein-
lich nicht erlaubt, Rücklagen für größere Anschaffungen oder Reparaturen zu
bilden, so dass die Hilfebedürftigen auf die darlehensweise Gewährung von
besonderen Ausgaben angewiesen sind. Mittlerweile verwalten die Grund-
sicherungsstellen 1,1 Millionen Darlehen. Dies verursacht zusätzliche Bürokra-
tie und schmälert den monatlichen finanziellen Spielraum der Leistungsbezie-
henden weiter, so dass infolge weitere Lücken und erneuter Darlehensbedarf
entstehen. Da bestimmte Einmalbedarfe – wie der Ersatz größerer Haushalts-
geräte – nicht planbar oder beeinflussbar sind und da Besonderheiten wie etwa
Übergrößen bei Bekleidung nicht ohne weiteres typisiert in einer pauschalen
Leistung darstellbar sind, ist hier Korrekturbedarf unverkennbar.

Die derzeitige Methode zur Ermittlung des regelsatzrelevanten Bedarfs ist nicht
sachgerecht, weil sie auf Basis von Ein-Personen-Haushalten im Segment der
unteren 20 Prozent der Einkommen erfolgt. Diese Gruppe steht aber vor dem
Hintergrund sinkender Reallöhne selbst unter dem Druck von Armut, Über-
schuldung und Vermögensabbau. Nunmehr stellen die Ausgaben dieser Gruppe
die unterste Grenze der Verbrauchsausgaben dar. Schon deshalb ist es nicht zu-
lässig, hier auch noch weitere Abschläge vorzunehmen. Es scheint auch nicht
sachgerecht, dass Ein-Personen-Haushalte die Bezugsgröße für die Berechnung
des Bedarfs von Familien ist.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/2921

Mit der Kopplung der Regelsatzerhöhungen an die Steigerung des Rentenwerts
hat der Verordnungsgeber systematisch ständige Kaufkraftverluste hingenom-
men. Deshalb muss die Anpassung des Regelsatzes zwischen den Intervallen,
in denen die Erhebung und Auswertung der Daten zur Berechnungsgrundlage
der Regelsätze erfolgt, künftig an die Entwicklung der Verbraucherpreise der
relevanten Verbrauchsgüter gekoppelt werden.

Die Anhebung der Regelsätze wäre nicht nur eine echte Verbesserung der
Lebenssituation von nahezu 7 Millionen Hilfebedürftigen, davon mehr als
1,7 Millionen Kindern und Jugendlichen, sondern auch ein unbedingt not-
wendiger Beitrag zur Gewährleistung „eines menschenwürdigen Daseins“, wie
es Bundesverfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier formulierte. In
unserer Gesellschaft bedarf es eines fruchtbaren Dialogs um Konzepte für eine
echte Grundsicherung für Kinder und Erwachsene, die ihren Namen auch ver-
dient. Gefordert ist eine Grundsicherung, die echte Teilhabechancen durch die
Gewährung eines sozio-kulturellen Existenzminimums bietet. Das schließt aus-
drücklich ein, dass in besonderen Not- oder Lebenslagen zusätzlich wieder ein-
malige Leistungen und die Gewährung von atypischen Bedarfen ermöglicht
werden.

Gerade auch Kindern muss es möglich werden, an der Gesellschaft teilzuhaben
und sich bestmöglich zu entfalten. Das gilt nicht nur für Kinder, deren Eltern
Arbeitslosengeld II beziehen. Damit jedes Kind eine wirkliche Chance be-
kommt, ist ein qualitativ hochwertiges Betreuungs- und Bildungssystem nötig,
das jedes Kind entsprechend seinen individuellen Bedürfnissen fördert. Kom-
munen haben gemeinsam mit den Trägern der Jugendarbeit und -hilfe in lang-
jähriger Praxis an lokale Gegebenheiten angepasste Angebote für Kinder und
Jugendliche entwickelt. Diese Angebote werden durch Experimente mit der
Einführung einer hoffnungslos unterfinanzierten Chipkarte weder näher an
Kinder und Jugendliche herangetragen noch verbessert. Nur wenn mit Karten,
Gutscheinen oder Bonussystemen ein zusätzlicher Anreiz geschaffen werden
kann, Talente sowie Begabungen zu entdecken, zu fördern und weiterzuent-
wickeln, können sie Sinn machen. Ersatz für Regelleistungen dürfen sie auf
keinen Fall sein. Chipkarten oder andere Gutscheinsysteme für die Bezahlung
von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe und -arbeit, der musischen Bil-
dung und sportliche Aktivitäten sind nur dann nicht diskriminierend, wenn sie
für alle Kinder in Frage kommen. Dafür bedürfte es auf Bundesebene einer an-
deren Steuerpolitik, um den Kommunen die Bereitstellung und, wenn notwen-
dig, den Ausbau von Angeboten für Kinder und Jugendliche zu ermöglichen.
Zusätzliche Gelder dürfen nicht in Bürokratie fließen, sie müssen direkt für
Förderleistungen zur Verfügung gestellt werden.

Diskriminierend ist auch die im Zusammenhang mit der Chipkarte vorge-
brachte Unterstellung, bei grundsicherungsbeziehenden Eltern handele es sich
per se um verantwortungslose Menschen, die die für ihre Kinder vorgesehenen
Leistungen nicht diesen angedeihen lassen würde, sondern vielmehr für eigene
Vergnügungen verausgaben würde. Hierfür fehlen jegliche empirischen Belege.
Vielmehr hat erst jüngst das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der
Bundesagentur für Arbeit in seiner Studie „Arbeitsmotivation und Konzes-
sionsbereitschaft – IAB-Kurzbericht 15/2010“ bestätigt, dass Bezieherinnen
und Bezieher von Grundsicherung überdurchschnittlich intrinsisch und extrin-
sisch motiviert sind, Erwerbsarbeit aufzunehmen und vielfältigen Aktivitäten
der Kindererziehung und Pflege von Angehörigen nachgehen.

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