BT-Drucksache 17/2836

Entwicklung der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland

Vom 31. August 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2836
17. Wahlperiode 31. 08. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln),
Jerzy Montag, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Entwicklung der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland

Im Jahr 2007 wurde die jüdische Zuwanderung aus den Staaten der ehemaligen
Sowjetunion auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt (BGBl. 2007 I S. 748,
751).

Seither orientiert sich das Aufnahmeverfahren jüdischer Zuwanderinnen und
Zuwanderer insbesondere an deren Integrationsmöglichkeiten in Deutschland
bzw. in einer der hiesigen jüdischen Gemeinden.

Maßgeblich für eine positive Integrationsprognose sind Grundkenntnisse der
deutschen Sprache (Niveau A1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrah-
mens für Sprachen), die Möglichkeit zur Aufnahme in eine jüdische Gemeinde
und die eigenständige Sicherung des Lebensunterhaltes.

Diese Integrationsprognose wird auf der Grundlage eines Punktekataloges ge-
troffen. Als Kriterien für ein hohes Integrationspotenzial gelten dabei vor allem
ein niedriges Lebensalter, die schulische und berufliche Qualifikation und die
Deutschkenntnisse der Antragstellerinnen und Antragsteller. Daneben werden
aber z. B. auch das familiäre Umfeld und die Mitgliedschaft in einer jüdischen
Organisation berücksichtigt.

Als Bewertungsmaßstab dient ein Punktesystem mit einer Höchstpunktzahl von
105 Punkten, wobei ab 50 Punkten von einer erfolgreichen Integration ausge-
gangen wird.

Bei Erfüllung aller Voraussetzungen erhalten die jüdischen Zuwanderinnen und
Zuwanderer bei Einreise eine Niederlassungserlaubnis. Nicht selbst antragsbe-
rechtigte nichtjüdische Familienangehörige erhalten zunächst eine Aufenthalts-
erlaubnis.

Darüber hinaus gibt es Ausnahmeregelungen für Opfer des Nationalsozialismus
sowie zur Berücksichtigung der Familienzusammenführung und für Härtefälle.

Durch diese neuen Einreisevoraussetzungen sind die Aufnahmezahlen jüdischer
Zuwanderinnen und Zuwanderer eingebrochen: 2009 sind nur noch 1 088 nach
Deutschland eingereist – ein nochmaliger Rückgang um 24 Prozent im Vergleich

zum Vorjahr (2008: 1 436; vgl. Entscheiderrundbrief des Bundesamtes für Mig-
ration und Flüchtlinge (BAMF) 5/2010).

Im Mai 2009 hatte das BAMF einen Evaluierungsbericht über das Aufnahme-
verfahren für jüdische Zuwanderinnen und Zuwanderer aus der ehemaligen
Sowjetunion vorgelegt. Im Mittelpunkt des Berichts standen das sog. Punkte-
system sowie die Problematik von Zweitanträgen nach Ablauf der Aufnahmezu-
sage.

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Das BAMF ist hierbei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Erstellung einer
Integrationsprognose mithilfe eines Punktekatalogs „ein mögliches Instru-
mentarium [ist], um eine qualifizierte Zuwanderung zu steuern“.

Die Feinanalyse der Evaluierung zeigte aber Unzulänglichkeiten in der konkre-
ten Ausgestaltung des Punktesystems. Bei unter 31-Jährigen und über 45-Jähri-
gen wurden die meisten negativen Integrationsprognosen erstellt. Die unter
31-Jährigen erhielten zwar für ihr Lebensalter die volle Punktzahl von 15 Punk-
ten, konnten aber nicht genügend Punkte im Bereich der beruflichen Praxis sam-
meln. Die über 45-Jährigen erhielten keine Punkte für das Lebensalter, so dass
trotz häufig guter beruflicher Qualifikation und Berufserfahrung beim Fehlen
weiterer Kriterien keine positive Prognose möglich war.

Dabei sei – so die Evaluierung des BAMF – die Zuwanderung jüngerer Personen
„bereits aus demografischer Sicht erwünscht“, wie auch die Zuwanderung qua-
lifizierter älterer Personen, „zumindest im Hinblick auf den zunehmenden Fach-
kräftemangel in Deutschland“.

Das BAMF schlug daher Folgendes vor:

● Erhöhung der maximal erreichbaren Punktezahl für das Lebensalter auf
20 Punkte;

● Erhöhung der Altersgrenze, bis zu der Punkte vergeben werden, auf 49 Jahre
bei Personen mit bestimmten qualifizierten Berufen;

● stärkere Gewichtung von Beschäftigungszeiten in diesen qualifizierten
Berufen;

● Aufhebung der Begrenzung auf insgesamt 30 Punkte beim Kriterium „Qua-
lifikation“ für Ehepaare und Einführung eines Zuschlages für einen eben-
falls qualifizierten Ehepartner;

● Anhebung des Punktekorridors zur individuellen Ermessensausübung von
5 auf 10 Punkte.

Der Beirat „Jüdische Zuwanderung“, dem neben dem Bundesministerium des
Innern (BMI) das BAMF, das Auswärtige Amt, die Länder, der Zentralrat der
Juden in Deutschland sowie die Union progressiver Juden in Deutschland e. V.
angehören, empfahl die Annahme des ersten und des letzten Handlungsvor-
schlags des BAMF.

Im Hinblick auf den vom BMI zunächst angeordneten ausnahmslosen Ausschluss
sog. Zweitanträge bestätigte die Beauftragte der Bundesregierung für Migration,
Flüchtlinge und Integration in ihrem 8. Lagebericht, dass dies „in Einzelfällen
zwangsläufig zu erheblichen Härten“ führte. Im letzten Jahr hat das BMI ent-
schieden, nun doch alle bis zum 31. Dezember 2007 gestellten (Zweit-)Anträge
nach dem aktuell gültigen Verfahren zu prüfen – auch bereits abgelehnte Zweit-
anträge.

Im Hinblick auf den Nachweis der Zugehörigkeit zum Judentum der Antragstel-
lerin bzw. des Antragstellers hat der Beirat im Juni 2009 den geschäftsführenden
Ausschuss gebeten, einen Vorschlag auszuarbeiten, welche anderen Nachweise
als die vor 1990 ausgestellten Personenstandsurkunden ergänzend herangezo-
gen werden können.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele der in den Jahren 2008 und 2009 nach Deutschland eingereisten
Jüdinnen und Juden stellten Anträge

a) vor dem 1. Juli 2001 (sog. Übergangsfälle I),
b) zwischen dem 1. Juli 2001 und dem 31. Dezember 2004 (sog. Über-
gangsfälle II),

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2836

c) in den Jahren 2005 und 2006,

d) aufgrund der 2007 veränderten Rechtslage?

2. In wie vielen Fällen handelte es sich bei den in den Jahren 2008 und 2009
eingereisten Personen um solche, die eine Aufnahmezusage aufgrund der
Ausnahmeregelungen zur Familienzusammenführung bzw. im Rahmen der
Härtefallregelung erhalten hatten?

3. Wie viele Aufnahmeanträge wurden im Jahr 2009 bewilligt, und wie viele
wurden abgelehnt (bitte nach Neuanträgen aus den Jahren 2005 bis 2009
sowie nach den Übergangsfällen I und II aufschlüsseln)?

4. Wurde in den Jahren 2008 und 2009 miteinreisewilligen Kindern die Auf-
nahme verweigert, weil sie die notwendigen Deutschkenntnisse nicht vor-
weisen konnten?

Wenn ja, wie vielen Kindern, und welche Auswirkung hatte dies für die
Einreise der Eltern?

5. Wie viele Aufnahmeanträge lagen den deutschen Behörden Ende 2009
noch zur Entscheidung vor (bitte nach Neuanträgen aus den Jahren 2005
bis 2009 sowie nach den Übergangsfällen I und II aufschlüsseln)?

Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung

6. Wie viele jüdische Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung haben seit
2005 einen Aufnahmeantrag gestellt?

7. Wie viele dieser Anträge wurden bewilligt?

8. Wurden entsprechende Anträge auch abgelehnt?

Wenn ja, wie viele und aus welchen Gründen?

9. Wie viele jüdische Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung sind in
den Jahren 2008 und 2009 tatsächlich nach Deutschland eingewandert?

Deutschkenntnisse

10. In welchen GUS-Staaten (GUS: Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) stan-
den einwanderungswilligen Jüdinnen und Juden im Jahr 2009 an wie vielen
Sprachlernzentren insgesamt wie viele Plätze für einen Deutschkurs zur
Verfügung?

11. Sind der Bundesregierung Klagen im Hinblick darauf bekannt, dass zuwan-
derungswillige Jüdinnen und Juden lediglich Zugang zu nicht ausgeschöpf-
ten Sprachkursplätzen von Russlanddeutschen haben?

Wenn ja, was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um dieses Problem zu
lösen?

12. Wie viele Lehreinrichtungen sind in welchen Städten welcher GUS-Staaten
derzeit berechtigt, offizielle Sprachzertifikate auszustellen?

13. Wie viele Jüdinnen und Juden haben seit 2005 in den GUS-Staaten, in
denen das Goethe-Institut keinen Standort hat (Aserbaidschan, Moldawien,
Tadschikistan und Turkmenistan), an der dortigen deutschen Botschaft
einen Sprachtest absolviert bzw. das Sprachzertifikat erhalten?

14. Hat das BAMF den Vertrag mit dem Goethe-Institut über die flächen-
deckende Zertifizierung von Deutschkenntnissen in allen GUS-Staaten – wie
beabsichtigt – verlängert (vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die
Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bundestags-
drucksache 16/8716, S. 5)?
Wenn ja, wie viele Haushaltsmittel wurden hierfür unter welchem Titel in
den Bundeshaushalt 2010 (bzw. in den Haushaltsplan für 2011) eingestellt?

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Punktesystem

15. Stimmt die Bundesregierung dem Ergebnis des o. g. Evaluationsberichts zu,
wonach das derzeit im Bereich der jüdischen Zuwanderung angewandte
Punktesystem ein taugliches Instrumentarium ist, um eine qualifizierte
Zuwanderung zu steuern?

Wenn nein, warum nicht?

16. Werden bei der Punktevergabe derzeit auch erwerbsbiografische Ausfall-
zeiten zur Erfüllung von Familienpflichten berücksichtigt?

Wenn ja, inwiefern?

Wenn nein, warum nicht?

17. Ist bei der derzeitigen Anwendung des Punktekatalogs ausgeschlossen, dass
sich eine psychische bzw. physische Behinderung negativ auf die Punkte-
vergabe auswirkt?

Wenn nein, warum nicht?

18. Gibt es für die nunmehr erweiterte Vergabe von Punkten im Ermessenswege
Anweisungen bzw. Grundsätze zur Ausübung dieses Ermessens?

Wenn ja, welche?

Wenn nein, warum nicht?

Zweitanträge

19. Wie viele Zweitanträge wurden seit der Änderung der entsprechenden
BMI-Anordnung vom 22. Juli 2009 geprüft?

20. Wie viele dieser Zweitanträge wurden nun doch bewilligt, bzw. wie viele
wurden abgelehnt?

21. Wie viele Zweitanträge liegen den deutschen Behörden heute noch zur Prü-
fung vor?

Nachweise der Zugehörigkeit zum Judentum

22. Hat der geschäftsführende Ausschuss dem Beirat „Jüdische Zuwanderung“
einen Vorschlag vorgelegt, welche anderen Nachweise als die vor 1990
ausgestellten Personenstandsurkunden ergänzend herangezogen werden
können, um die Zugehörigkeit zum Judentum der Antragstellerin bzw. des
Antragstellers nachzuweisen?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, wie lautet dieser Vorschlag?

Wurde er vom Beirat akzeptiert?

Berlin, den 31. August 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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