BT-Drucksache 17/2711

Ermittlung des menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums nach dem Statistikmodell - Erfahrungen und Probleme

Vom 4. August 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2711
17. Wahlperiode 04. 08. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Karin Binder, Matthias W. Birkwald,
Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Katrin Kunert, Cornelia Möhring,
Kornelia Möller, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert, Jörn Wunderlich, Sabine
Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Ermittlung des menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums
nach dem Statistikmodell – Erfahrungen und Probleme

Die Grundsicherung soll das grundrechtlich geschützte menschenwürdige Exis-
tenz- und Teilhabeminimum garantieren. Die Höhe der Regelsätze zielt im
Grundsatz auf die Deckung des gesamten Bedarfs des notwendigen Lebens-
unterhalts (§ 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch – SGB XII). Zur Ermitt-
lung dieses Bedarfs wurde seit 1955 auf einen Warenkorb zurückgegriffen, der
vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge zusammengestellt
wurde. Ende der 1980er Jahre wurde die Einführung eines neuen Verfahrens, des
sog. Statistikmodells beschlossen. Nach diesem Verfahren wird der Regelsatz
über die tatsächlichen, statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haus-
halten der untersten Einkommensgruppe ermittelt. Datengrundlage ist die Ein-
kommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die seit 1962 in fünfjährigem Tur-
nus erhoben wird.

Die Umstellung auf das Statistikmodell wurde teilweise heftig kritisiert. Im
Grundsatz schließt das Verfahren von den Verbrauchsausgaben einer statisti-
schen Referenzgruppe auf den notwendigen Bedarf für ein menschenwürdiges
Existenz- und Teilhabeminimum. Ein derartiger Schluss ist fragwürdig, weil das
Verbrauchsverhalten der unteren Einkommensgruppe eine Bedarfsunterdeckung
nicht ausschließt. Teil des ursprünglichen Konzepts der obersten Landessozial-
behörden von 1987 war daher die Kontrolle des neuen Bedarfsbemessungssys-
tems durch einen weiterentwickelten Warenkorb (Beschluss der Konferenz der
obersten Landessozialbehörden: Neues Bedarfsbemessungssystem für die Re-
gelsätze in der Sozialhilfe 1987, bestätigt von der Arbeits- und Sozialminister-
konferenz im September 1987). Eine derartige Kontrolle der tatsächlichen Be-
darfsdeckung ist allerdings nie realisiert worden. Die Reform kann daher mit
guten Gründen als Abkehr von dem grundlegenden Bedarfsdeckungsprinzip in
der Grundsicherung interpretiert werden.

Dem Statistikmodell sind weitere Probleme immanent. Für das Verfahren ist die
tatsächliche soziale Lage der ausgewählten Referenzgruppe unerheblich. Insbe-

sondere ist das Statistikmodell blind gegenüber einem Prozess der Verarmung
der Referenzgruppe. Sofern die Referenzgruppe von der Einkommensentwick-
lung abgekoppelt wird, wirkt sich dies bei der Festsetzung des Existenz- und
Teilhabeminimums aus. Für einen derartigen Abkopplungsprozess gibt es in-
folge der politisch forcierten Ausweitung des Niedriglohnsektors deutliche Hin-
weise. So hat sich der Einkommensanteil der ärmsten 20 Prozent der Haushalte
von 10,1 Prozent (1997) bis 2006 auf 9,3 Prozent verringert (Datenreport 2008,

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S. 164). Gegenüber dem Jahr 2000 hat das unterste Dezil bis 2008 durchschnitt-
lich um knapp 9 Prozent des realen Einkommens verloren, während Personen im
obersten Dezil entsprechende Steigerungen um fast 15 Prozent erzielten (DIW
Wochenbericht 7/2010, Anmerkung 8). Die soziale Polarisierung wirkt sich
demzufolge als realer Einkommensverlust bei der sozialen Gruppe aus, die als
Referenzgruppe für die Ermittlung des Existenz- und Teilhabeminimums fun-
giert. Die AG der Sozialhilfeinitiativen hat bereits 1989 vorausschauend kriti-
siert, dass die Kopplung der Sozialhilferegelsätze mit den unteren Einkommens-
gruppen eine Spirale nach unten eröffnet.

Schließlich ist das Statistikmodell anfällig für zahlreiche Manipulationen. So-
wohl bei der konkreten Festlegung der Referenzgruppe (welcher Haushaltstyp,
Ausschluss verdeckt Armer aus der Referenzgruppe), bei der Festlegung der
Abschläge als auch bei der Bestimmung der sog. regelsatzrelevanten Ausgaben
bestehen Möglichkeiten, sachfremde fiskalische Kostensenkungsabsichten in
die Ermittlung des Regelsatzes einfließen zu lassen. Solche fiskalischen Ge-
sichtspunkte haben aber in der Sicherung des Existenz- und Teilhabeminimums
nichts zu suchen, weil die Bekämpfung von Armut durch die Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums zu den vordring-
lichsten Staatsaufgaben gehört (Rothkegel in: ZFSH/SGB 3/2010, S. 144).

Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr am 9. Februar 2010 die Regel-
leistungen nach dem SGB II sowohl für Kinder als auch für Erwachsene für
verfassungswidrig erklärt (BVerfG 1 BvL 1/09 vom 9. Februar 2010, Rn. 1 bis
220), www.bverfg.de, Rn. beziehen sich auf dieses Urteil). Die Regelleistungen
seien insbesondere nicht verfassungskonform, weil bei der Ermittlung von den
gesetzlich vorgegebenen Strukturprinzipien des Statistikmodells ohne sachliche
Rechtfertigung abgewichen worden sei und weil bei den Kindern auf eine eigen-
ständige Ermittlung des Bedarfs verzichtet wurde. Die Verfassungswidrigkeit
der Regelleistungen ergibt sich primär aus der Intransparenz und den Manipula-
tionen der Bundesregierung bei der Umsetzung des Statistikmodells. Das Ge-
richt formuliert hierzu für die zukünftigen Anwendungen konkrete Vorgaben. So
müssen u. a. zukünftig die „verdeckt Armen“ herausgerechnet (Rn. 169) sowie
die praktizierten Abschläge überprüft werden (Rn. 173 ff.) Das Statistikmodell
selbst wird ebenso wie das Warenkorbmodell als verfassungsrechtlich zulässig
gewertet. Die Zulässigkeit des Statistikmodells wird allerdings in einer bemer-
kenswerten Weise eingeschränkt. So schreibt das Gericht: „Die Berechnung des
Existenzminimums anhand eines Warenkorbs […] ist in der gleichen Weise
gerechtfertigt wie der Einsatz einer Statistik- und Verbrauchsmethode unter der
Prämisse, dass auch das Ausgabeverhalten unterer Einkommensgruppen der
Bevölkerung zu erkennen gibt, welche Aufwendungen für das menschenwürdige
Existenzminimum erforderlich sind.“ (Rn. 166).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Gründe lagen der Entscheidung für den Übergang vom Warenkorb-
zum Statistikmodell seinerzeit zugrunde?

2. Aus welchen Gründen hatten die zuständigen obersten Landessozialbehörden
1987 eine Kontrolle des Statistikmodells durch einen weiterentwickelten
Warenkorb gefordert?

3. Aus welchen Gründen ist der zitierte Beschluss niemals umgesetzt worden?

4. Welche Gründe sprechen nach Auffassung der Bundesregierung heute für
bzw. gegen die Aufstellung eines Warenkorbs zur Bedarfsermittlung oder zur
Kontrolle der Ergebnisse des Statistikmodells?

5. Auf welche Art und Weise wurden nach dem Beschluss zur Einführung des
Statistikmodells tatsächlich die jeweils zum 1. Juli des Jahres geltenden

Regelsätze ermittelt bzw. angepasst (bitte Steigerung für jedes Jahr ab 1990
mit jeweiliger Begründung angeben)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2711

6. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage, dass mit dem Übergang
zum Statistikmodell faktisch auch das für die Grundsicherung wesentliche
Prinzip der Bedarfsdeckung aufgegeben wurde?

7. Mit welcher sachlichen Begründung lässt sich nach Auffassung der Bun-
desregierung von den Ausgaben einer statistischen Referenzgruppe auf das
notwendige menschenwürdige Existenz- und Teilhabeminimum schließen?

8. Inwieweit wurde und wird bei der Ermittlung des Existenz- und Teilhabe-
minimums mit dem Statistikmodell die soziale Lage der Referenzgruppe
analysiert und die mögliche Veränderung in die Bewertung einbezogen?

9. Wie hat sich seit der erstmaligen Erhebung der Einkommens- und Ver-
brauchsstichprobe der Anteil des untersten Quintils

a) zum obersten Quintil und

b) zum Median der Einkommensklassen entwickelt (bitte für jede einzelne
EVS angeben)?

10. Wie hat sich das reale Einkommen des untersten Quintils seit der erstma-
ligen Erhebung der EVS entwickelt (bitte für jede einzelne EVS angeben)?

11. Wie hat sich bei den bisher relevanten Einkommens- und Verbrauchsstich-
proben 1998 und 2003 die Referenzgruppe für die Ermittlung der Regel-
sätze nach der sozialen Struktur zusammengesetzt (Anteil von Renterinnen
und Rentnern, Erwerbstätigen, Erwerbslosen; Alter; Geschlecht; Menschen
mit Behinderung; Migranten)?

12. Wie hoch waren die Verbrauchsausgaben der Referenzgruppe nach den bei-
den EVS-Auswertungen 1998 und 2003 insgesamt sowie ohne Kosten der
Unterkunft und Heizung?

13. Wie hoch ist der Anteil der als regelsatzrelevant anerkannten Ausgaben an
den Gesamtausgaben ohne Ausgaben für Wohnung und Heizung (jeweils
1998 und 2003)?

14. Wie hoch ist der Anteil der Haushalte in der Referenzgruppe, die ihre Ausga-
ben nicht durch ihre Einkommen decken konnten (jeweils 1998 und 2003)?

15. Wie bewertet die Bundesregierung die eingangs zitierten Statistiken, die
eine Verarmung der untersten 20 Prozent der Einkommensklassen seit
Anfang 2000 feststellen?

Welche anderen Studien bzw. Erkenntnisse liegen ihr hierzu vor?

16. Teilt die Bundesregierung die Erwartung, dass sich diese Entwicklung auch
in der EVS 2008 bei der statistischen Referenzgruppe für die Ermittlung des
Existenz- und Teilhabeminimums niederschlagen wird, und wie bewertet
sie dies?

17. Hält die Bundesregierung ein System der Ermittlung des Existenz- und Teil-
habeminimums für sachgerecht und angemessen, das bei einer Verarmung
der Referenzgruppe zu sinkenden Leistungen führt, oder teilt sie die An-
sicht, dass unter diesen Voraussetzungen die notwendige Prämisse des
Statistikmodells des Bundesverfassungsgerichts (Rn. 166) nicht erfüllt ist?

18. Welche prinzipiellen Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, um die Ver-
pflichtung des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen, dass bei künftigen
Auswertungen der EVS „[…] Haushalte, deren Nettoeinkommen unter dem
Niveau der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch und dem
Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch inklusive der Leistungen für Unterkunft und
Heizung liegt, aus der Referenzgruppe ausgeschieden werden.“ (Rn. 169)?

19. Sind der Bundesregierung Berechnungen der EVS 2003 bekannt, die ent-
sprechende Haushalte aus der Referenzgruppe ausgeschieden haben, wur-

den diese Berechnungen veröffentlicht, und wie bewertet sie diese?

Drucksache 17/2711 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
20. Um welche Summe erhöht sich rechnerisch bei der EVS 2003 der Regelsatz,
wenn gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die entsprechenden
Haushalte aus der Referenzgruppe ausgeschieden werden?

21. Auf welche Art und Weise wird die Bundesregierung bei der Auswertung der
EVS 2008 die zitierte Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts (Rn. 169) um-
setzen?

22. Auf welche Art und Weise wird die Bundesregierung die Kritik des Bundes-
verfassungsgerichts an den konkreten Abschlägen in der Neubemessung der
Regelsätze aufgreifen; aufgrund welcher normativer und empirischer Be-
züge?

23. In welcher Weise sind bislang zur Neubemessung des menschenwürdigen
Existenz- und Teilhabeminimums – gegebenenfalls welche – Expertisen
außerhalb der Bundesregierung einbezogen worden?

24. Welche weiteren Schritte zur Einbeziehung externer Expertisen bei der Neu-
bemessung des menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums plant
die Bundesregierung derzeit noch?

25. Beinhaltet die weitere Planung auch die Einbeziehungen von Sozialverbänden
sowie Organisationen von Betroffenen, und wenn nein, warum nicht?

26. Wann und in welcher Form werden die Ergebnisse dieser Beratungen der Öf-
fentlichkeit zur Herstellung der vom Bundesverfassungsgericht geforderten
Transparenz zugänglich gemacht?

27. Gedenkt die Bundesregierung, ein Gesetz mit konkreten Vorgaben zur syste-
matischen Neubemessung des Existenz- und Teilhabeminimums dem Bun-
destag vorzulegen, bevor die Daten der EVS 2008 vorliegen?

28. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage, dass eine Nichtveröffent-
lichung des methodischen Vorgehens beim Statistikmodell (Ausschluss o. g.
Haushalte, Darlegungen zu Abschlägen und regelsatzrelevanten Ausgaben)
vor der Auswertung der EVS 2008 der Auffassung Vorschub leistet, die Ab-
leitung des Existenz- und Teilhabeminimums wäre manipuliert worden?

29. Wann plant die Bundesregierung, das notwendige Gesetz zur Neubemessung
der Regelsätze im Kabinett zu beschließen und dem Bundestag vorzulegen?

30. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage des ehemaligen Richters am
Bundesverwaltungsgericht Ralf Rothkegel, dass fiskalische Rücksichten bei
der Sicherung des menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums
keine Rolle spielen dürfen, weil die Bekämpfung von Armut zu den vordring-
lichen Staatsaufgaben gehört (Rothkegel in: ZSFH/SGB 3/2010, S. 144)?

31. Wie begründet die Bundesregierung, dass trotz notwendiger Neubemessung
des Regelsatzes zum 1. Januar 2011 der Haushaltsansatz für das Arbeits-
losengeld II um 3 Mrd. Euro niedriger festgesetzt wird als noch 2010 (Soll)?

32. Ist angesichts der Haushaltsplanung für 2011 die Schlussfolgerung zutreffend,
dass die Bundesregierung davon ausgeht, dass im Ergebnis der Auswertung
der EVS 2008 die Regelleistungen nicht erhöht werden?

33. Wie bewertet die Bundesregierung die Einschätzung, dass angesichts von
„Sparpaket“ und Haushaltsplanung die „fiskalischen Rücksichten“ die domi-
nante Motivation der Bundesregierung bei der Ausgestaltung des menschen-
würdigen Existenz- und Teilhabeminimums darstellen?

Berlin, den 23. Juli 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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