BT-Drucksache 17/241

Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abschaffen - Patientinnen und Patienten entlasten

Vom 15. Dezember 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/241
17. Wahlperiode 15. 12. 2009

Antrag
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Harald Weinberg, Karin Binder, Inge Höger,
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler und der
Fraktion DIE LINKE.

Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abschaffen – Patientinnen und Patienten
entlasten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Zuzahlungen, z. B. zu Arzneimitteln, zum Krankenhausaufenthalt, zur Kran-
kengymnastik, und die Praxisgebühr sind zutiefst unsozial und haben die beab-
sichtigte Wirkung nicht erreicht. Die bisherigen Maßnahmen sind in ihrer Effi-
zienz zudem äußerst fragwürdig:

CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erhöhten 2004 viele Zu-
zahlungen deutlich und führten die Praxisgebühr ein. Als Begründung gaben
sie an, ein passendes Steuerungsinstrument gegen eine übermäßige Inanspruch-
nahme von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung schaffen zu wol-
len. Sofern Zuzahlungen überhaupt dieser Maßgabe entsprechen können,
schließen sie aber vor allem Geringverdienende von Leistungen der gesetz-
lichen Krankenversicherung aus und untergraben damit das Solidarprinzip.
Darüber hinaus können Zuzahlungen die angeblich angestrebte Steuerungswir-
kung nicht entfalten, weil die Nachfrage nach medizinisch notwendigen Maß-
nahmen meist nicht von den Patientinnen und Patienten gesteuert wird, sondern
vor allem von der ärztlichen Verordnung abhängt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, nach dem in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung sämtliche Zuzahlungen inklusive der Praxisgebühr abgeschafft wer-
den. Zur Gegenfinanzierung ist gleichzeitig die Beitragsbemessungsgrenze der
gesetzlichen Krankenversicherung auf das Niveau der gesetzlichen Rentenver-
sicherung (West) anzuheben. Darüber hinaus ist die Pflichtversicherungsgrenze
der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechend zu erhöhen.

Berlin, den 15. Dezember 2009
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 17/241 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

In politischen Begründungen zur Einführung und Erhöhung von Zuzahlungen
(einschließlich der Praxisgebühr) ist immer wieder davon ausgegangen worden,
dass diese eine Steuerungswirkung haben. Die weit verbreitete Annahme, dass
Versicherte die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung übermäßig
ausnutzten, wenn sie kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, klingt zunächst
plausibel. Wer für einen Teil der Kosten aufkommen muss, der würde sich ge-
nauer überlegen, ob er die Leistung wirklich braucht oder ob sie überflüssig ist.
Es gibt jedoch für diese These, die sogenannte Moral-Hazard-These, keinen
wissenschaftlichen Beleg in der Literatur der vergangenen Jahrzehnte.

Das Gegenteil ist der Fall: Nirgends auf der Welt ist es bislang gelungen, Zu-
zahlungssysteme zu entwickeln, mit denen sich auch nur halbwegs zuverlässig
unnötige von notwendigen Leistungen unterscheiden ließen. Wenn man Zuzah-
lungen erhebt, dann erhebt man sie also zwangsläufig zum größten Teil auf
medizinisch notwendige Leistungen. Es gibt dann zwei Möglichkeiten:

1. Die Patientin/der Patient kann und will sich die Behandlung leisten: Dann hat
die Zuzahlung keine Steuerungswirkung. Ohne Steuerungswirkung fallen die
gleichen Kosten an, sie werden jedoch anders verteilt. Es zahlt nicht mehr die
Versichertengemeinschaft, sondern behandlungsbedürftige Patientinnen und
Patienten werden einseitig belastet. Die Gesunden sind also im Ergebnis we-
niger solidarisch mit den Kranken.

2. Die Patientin/der Patient kann oder will sich die notwendige Behandlung
nicht leisten: Dann hat die Zuzahlung zwar eine Steuerungswirkung, jedoch
eine schädliche. Denn medizinisch notwendige Leistungen werden nicht in
Anspruch genommen. Konkret vermeiden die Patientinnen und Patienten
Arztbesuche, gehen nicht ins Krankenhaus, unterlassen notwendige Medika-
menteneinnahmen, strecken Medikamentenpackungen oder brechen die The-
rapie ganz ab. Letztlich verschlechtert sich der gesundheitliche Zustand der
Patientinnen und Patienten und – vom persönlichen Leid ganz abgesehen –
steigen die Kosten für das Gesundheitssystem mittel- und langfristig. Diese
Steigerungen können ein Vielfaches der Zuzahlungen ausmachen.

Studien belegen, dass bei Personen mit geringeren Einkommen häufiger die
zweite Möglichkeit auftritt (www.biomedcentral.com/content/pdf/1472-6963-
8-232.pdf; Deutsches Ärzteblatt 3/2009): Arztbesuche werden verschoben oder
ganz aufgehoben. Dies tritt seltener bei Besserverdienenden auf. Damit findet
eine soziale Selektion ärztlicher Leistungen statt. Vor dem Hintergrund, dass är-
mere Menschen stärker von Krankheit und Tod bedroht sind als reichere, ist
dies ein sozialer Skandal.

Nur der erstmalige Gang zum Arzt liegt im Ermessen der Patientin/des Patien-
ten. Zu diesem Zeitpunkt kann die Patientin/der Patient schwerlich selbst ein-
schätzen, ob sie/er eine weitere Behandlung benötigt, da sie/er genau dies mit
dem Arzt besprechen will. Danach werden die Leistungen ärztlich verordnet,
weil diese nach Auffassung der Ärztin/des Arztes notwendig sind. Die Patien-
tin/der Patient kann also im Voraus nur sehr schlecht sagen, ob der Arztbesuch
„sich lohnen“ wird. Die Praxisgebühr als eine Zuzahlung verhindert aber in je-
dem Fall Arztbesuche, egal ob unnötige oder notwendige.

Als Sofortmaßnahme würden durch die Abschaffung der Zuzahlungen Patien-
tinnen und Patienten entlastet. Gleichzeitig entstehen der gesetzlichen Kran-
kenversicherung aber Mindereinnahmen. Um diese auszugleichen, ist die Bei-
tragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung auf das Niveau
der gesetzlichen Rentenversicherung anzuheben. Außerdem wird gewährleistet,
dass die Kosten paritätisch – also je zur Hälfte von Arbeitgebern und Beschäf-

tigten bzw. Rentnerinnen und Rentnern – finanziert werden. Darüber hinaus ist
die Pflichtversicherungsgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung entspre-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/241

chend zu erhöhen, um das Abwandern in die private Krankenversicherung zu
erschweren.

Eine dauerhafte und stabile Finanzierungsgrundlage für die gesetzliche Kran-
kenversicherung kann aber nur mit einer solidarischen Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung geschaffen werden, in die alle Menschen von allen Ein-
kommen einzahlen. Arbeitgeber übernehmen wieder die Hälfte der Kranken-
versicherungsbeiträge auf Löhne und Gehälter ihrer Beschäftigten. Die Bei-
tragsbemessungsgrenze wird abgeschafft. Bereits mit einem Beitrag von rund
10 Prozent kann dann eine umfassende Gesundheitsversorgung für alle ohne
jegliche Zuzahlung gewährleistet werden.

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