BT-Drucksache 17/1895

Konsequenzen aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Betroffenen und das System der Sicherungsverwahrung insgesamt

Vom 1. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1895
17. Wahlperiode 01. 06. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Memet Kilic,
Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Konsequenzen aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte für die Betroffenen und das System der Sicherungsverwahrung
insgesamt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat bereits mit Urteil
vom 17. Dezember 2009 entschieden, dass die nachträgliche Verlängerung der
Sicherungsverwahrung gegen die Gewährleistungen des Rechts auf Freiheit und
das Prinzip „Keine Strafe ohne Gesetz“ verstoße, wenn sie über die zulässige
Höchstdauer zur Tatzeit hinausgeht (Beschwerde-Nr. 19359/04).

Der EGMR folgte hinsichtlich der Anordnung, die durch das Gesetz zur Be-
kämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten noch mit den
Stimmen der schwarz-gelben Koalition zum 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 160)
neu geregelt worden war, nicht der Ansicht der Beschwerdegegnerin, der Bun-
desrepublik Deutschland, dass es sich nur um eine präventive Maßnahme ohne
echten Strafcharakter handele. Es führte aus, dass nach deutschem Recht Siche-
rungsverwahrte im Vollzug dieser Maßnahme in besonderem Ausmaß psycho-
logischer Fürsorge und Unterstützung bedürften.

Gegen dieses einstimmig ergangene Urteil hat die Bundesregierung die Verwei-
sung der Rechtssache an die Große Kammer beantragt. Diesen Antrag auf Ver-
weisung hat der Ausschuss der Großen Kammer dann am 11. Mai 2010 abge-
lehnt. Damit ist das Urteil endgültig bzw. rechtskräftig.

Die Bundesrepublik Deutschland wird durch das Urteil zum einen verpflichtet,
dem Beschwerdeführer, der auch nach Inkrafttreten des Urteils noch immer in
der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt verwahrt wird, 50 000 Euro als Entschä-
digung für den immateriellen Schaden zu zahlen. Zum anderen ist Deutschland
und sind alle Staatsorgane verpflichtet, Verstöße gegen die Konvention zu unter-
binden und die Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung von Grund-
rechten und rechtsstaatlichen Gewährleistungen zu berücksichtigen (vgl. zum
Zivilrecht BVerfG, 2 BvR 1481/04, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Ok-
tober 2004 = BVerfGE 111, 307 – „Görgülü“).
Sicherungsverwahrung wird durch die Behörden der Bundesländer vollzogen.
Die Strafvollstreckungskammern müssen die Menschenrechtswidrigkeit der
Verwahrung bei Anträgen auf Entlassung nach § 67d Absatz 3 des Strafgesetz-
buchs (StGB), im Rahmen der Fristen des § 67e StGB auch von Amts wegen,
berücksichtigen. Diejenigen sicherungsverwahrten Menschen, die bereits vor
dem 31. Januar 1998 mit einer Entlassungsperspektive von spätestens zehn Jah-
ren in Sicherungsverwahrung befanden, müssen freigelassen werden.

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Das Urteil ist im Rahmen der bei lang andauernden Freiheitsentziehungen ohne-
hin anzustellenden, strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen,
alternativ wäre auch eine normative zeitliche Einschränkung des § 67d Absatz 3
StGB möglich. Den Betroffenen ist zudem unabhängig von den Voraussetzun-
gen des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen
(StrEG) eine Entschädigung zu gewähren. Darüber hinaus ist das geltende Sys-
tem der Sicherungsverwahrung entsprechend den Maßgaben des Urteils grund-
legend zu reformieren.

Die Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die noch
im Januar 2010 gegenüber dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages
mitgeteilt hatte, dass ein „schlüssiges Gesamtkonzept“ zur Sicherungsverwah-
rung erarbeitet werde, erklärte im Mai 2010, dass ein solches Konzept inzwi-
schen erstellt sei. Danach solle die Unterbringung rückfallgefährdeter Täter über
das Haftende hinaus auf „schwerste Straftaten“ beschränkt werden (Süddeut-
sche Zeitung vom 13. Mai 2010).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Betroffene bundesweit gibt es derzeit, die bereits vor dem 31. Ja-
nuar 1998 mit einer Entlassungsperspektive von spätestens zehn Jahren, in
Sicherungsverwahrung kamen und bei denen nachträglich die Sicherungsver-
wahrung über eine Dauer von zehn Jahren hinaus angeordnet wurde?

2. Wie viele davon haben derzeit bundesweit Anträge auf Freilassung gestellt?

3. Wie wird nach Auffassung der Bundesregierung – unbeschadet der Frage der
richterlichen Unabhängigkeit – das Urteil des EGMR auf die Entscheidung
der zuständigen Strafvollstreckungskammern der Länder zu berücksichtigen
sein, wenn sie über Anträge auf Freilassung zu befinden haben?

4. Falls die Bundesregierung hierzu auf die richterliche Unabhängigkeit oder
die Kompetenz der Bundesländer verweisen sollte – wie ist die Rechtsauffas-
sung der Bundesregierung in der vorstehenden Frage – neigt sie eher einer
Berücksichtigung des Urteils im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu, oder
einer normativen zeitlichen Einschränkung des § 67d Absatz 3 StGB?

5. Wie ist nach Auffassung der Bundesregierung das Urteil des EGMR bei der
Entscheidung der Staatsanwaltschaften zu berücksichtigen, wenn sie über die
Einlegung von Beschwerden zu befinden haben?

6. Falls die Bundesregierung hierzu auf die Kompetenz der Bundesländer ver-
weisen sollte – wie ist die Rechtsauffassung der Bundesregierung in der vor-
stehenden Frage?

7. Wie ist nach Auffassung der Bundesregierung damit der Beschluss des Bun-
desverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 19. Mai 2010 (Az: 2 BvR 769/10) zu
vereinbaren, womit das BVerfG nochmals (vgl. bereits Beschluss vom
22. Dezember 2009 – Az: 2 BvR 2365/09) seine Linie bekräftigte, dass die
durch das EGMR-Urteil vom 17. Dezember 2009 aufgeworfenen Rechtsfra-
gen einer Klärung im Hauptsacheverfahren vor dem BVerfG zugeführt wer-
den sollen?

8. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, dass die Regierungen einzel-
ner Bundesländer angekündigt haben, sich dem Urteil des EGMR zu wider-
setzen, und gegebenenfalls was gedenkt die Bundesregierung im Hinblick
auf die bestehenden Verpflichtungen Deutschlands dagegen zu tun?

9. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass den Betroffenen unabhängig
von den Voraussetzungen des StrEG eine Entschädigung zu gewähren ist?

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10. Sind hierzu nach Auffassung der Bundesregierung Anträge der Betroffenen
erforderlich, und gegebenenfalls wird die Bundesregierung darauf hinwir-
ken, dass diese gestellt werden?

11. Welche Rechtsbehelfe stehen den Betroffenen nach Auffassung der Bun-
desregierung bei der Versagung einer solchen Entschädigung zur Verfü-
gung?

12. Hält die Bundesregierung das Mittel der Führungsaufsicht für geeignet, um
ausreichenden Schutz der Bevölkerung vor Rückfalltätern zu garantieren,
und gegebenenfalls welche weiteren, ergänzenden polizeilichen Maßnah-
men der Bundesländer wären hier möglich?

13. Welche Angebote zum Ausbau der Betreuung nach der Haftentlassung sind
nach Auffassung der Bundesregierung sinnvoll, insbesondere im Hinblick
auf die Tatsache, dass viele Betroffene sich nach der Entlassung bereits im
Rentenalter befinden werden?

14. Wie bewertet die Bundesregierung die derzeitige Dreispurigkeit der Siche-
rungsverwahrung aus sogleich mit dem Urteil verhängter, vorbehaltener
und nachträglicher Sicherungsverwahrung, und hält sie vor dem Hinter-
grund des Urteils eine Rückkehr zum bis zum 26. Januar 1998 bestehenden
System für sinnvoll?

15. Verfolgt die Bundesregierung ein Konzept der verstärkten Konzentration
der Sicherungsverwahrung auf Sexual- und Gewaltstraftäter, und will sie
die Sicherungsverwahrung in anderen Bereichen einschränken?

16. Ist der Bundesregierung der sog. Greifswalder Appell zur Reform der Siche-
rungsverwahrung bekannt, in dem Vorschläge zur psychologischen Für-
sorge und Unterstützung im Vollzug und zur Reform der Sicherungsver-
wahrung gemacht werden?

17. Welche Maßnahmen therapeutischer Angebote, psychologischer Fürsorge
und Unterstützung im Vollzug sind nach Auffassung der Bundesregierung
geboten, um die Maßgaben des Urteils umzusetzen?

18. Ist nach Auffassung der Bundesregierung die Forderung nach psychologi-
scher Fürsorge und Unterstützung angesichts der Verlagerung von Zustän-
digkeiten auf die Bundesländer mit der Föderalismusreform und der
schwierigen Situation der Haushalte der Bundesländer realistisch, und ge-
gebenenfalls was folgt daraus für die Bundesregierung?

19. Ist nach Auffassung der Bundesregierung eine „zentrale Anstalt“ mehrerer
Bundesländer, wie sie bereits von der bayerischen Justizministerin gefor-
dert wurde (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 13. Mai 2010) rechtlich möglich
und gegebenenfalls sinnvoll im Hinblick auf Situation der Haushalte der
Bundesländer?

20. Ist nach Auffassung der Bundesregierung auch eine „zentrale Anstalt“ unter
Beteiligung des Bundes rechtlich möglich, und gegebenenfalls sinnvoll?

21. Wie wird sich nach Auffassung der Bundesregierung die von der Bundes-
ministerin der Justiz angekündigte Reform, wodurch die nachträgliche,
nicht bereits im Urteil angeordnete oder vorbehaltene Sicherungsverwah-
rung nur noch in „sehr engen Grenzen“ möglich sein wird, auf den künf-
tigen Vollzug der Sicherungsverwahrung auswirken?

22. Wie ist dieses Ziel mit der Koalitionsvereinbarung der schwarz-gelben Ko-
alition in Einklang zu bringen, wonach es „Schutzlücken“ bei der Siche-
rungsverwahrung zu schließen gelte?

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23. Werden sich die aktuellen Reformpläne der Bundesregierung auch auf die
Beurteilung der noch anhängigen Verfahren gegen Deutschland vor dem
EGMR auswirken, und ggf. in welcher Hinsicht?

24. Falls die Bundesregierung davon ausgeht, dass sich diese Reform auf die
genannten Verfahren nicht auswirken wird – welche weiteren Maßnahmen
unternimmt die Bundesregierung, um erneute Verurteilungen vor dem
EGMR in Fragen der Sicherungsverwahrung zu vermeiden?

25. Hält die Bundesregierung die in der Wissenschaft geforderte Einsetzung
einer unabhängigen Reformkommission zur Regelung der Sicherungsver-
wahrung für sinnvoll?

Berlin, den 1. Juni 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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