BT-Drucksache 17/1852

Neufassung der so genannten Asylverfahrensrichtlinie der Europäischen Union

Vom 25. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1852
17. Wahlperiode 25. 05. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Ulrike Höfken, Ingrid Hönlinger,
Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Memet Kilic, Ute Koczy, Tom Koenigs,
Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg),
Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Neufassung der so genannten Asylverfahrensrichtlinie der Europäischen Union

Die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über die Mindest-
normen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberken-
nung der Flüchtlingseigenschaft wurde als letzte Richtlinie der ersten Phase der
Vergemeinschaftung der europäischen Asylpolitik verabschiedet. Zuvor war
diese so genannte Asylverfahrensrichtlinie Gegenstand heftiger Kritik. Das Eu-
ropäische Parlament reichte 174 Änderungsvorschläge ein und erhob vor dem
Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine Nichtigkeitsklage, da das Parlament
entgegen des EG-Vertrages nicht durch das damals gültige Mitentscheidungs-
verfahren beteiligt worden war. Der EuGH erklärte am 6. Mai 2008 die Erstel-
lung einer Minimalliste so genannter sicherer Herkunftstaaten (Artikel 29 Ab-
satz 1 und 2) und die Annahme einer gemeinsamen Liste sicherer Drittstaaten
(Artikel 36 Absatz 3) für nichtig.

Die Europäische Kommission hatte nun am 22. Oktober 2009 (als Teil seiner
sog. Asylstrategie vom Juni 2008 (KOM(2008) 360) einen Vorschlag für die
Neufassung der so genannten Asylverfahrensrichtlinie vorgelegt (KOM(2009)
554). Die EU-Kommission konstatiert darin eine unzureichende Umsetzung der
Richtlinie durch die Mitgliedstaaten, die zu erheblichen Unterschieden in den
Asylverfahren der Mitgliedstaaten geführt hat. Deutschland hat die Verfahrens-
garantien insbesondere im Bereich der Rechte von minderjährigen Flüchtlingen
nicht ausreichend umgesetzt.

Die EU-Kommission verfolgt mit ihrem Richtlinienvorschlag fünf Ziele:

1. Erleichterte und vereinfachte einheitliche Anwendung der Asylvorschriften;

2. Verbesserung des Zugangs zum Asylverfahren;

3. Verbesserung der Verfahrensgarantien für Asylsuchende und Entgegenwir-
ken des Verfahrensmissbrauchs;
4. Erleichterung und Vereinheitlichung der Verfahrensbegriffe und prozessualer
Hilfsmittel;

5. Verbesserung des Zugangs zu einem wirksamen Rechtsbehelf.

Die Bundesregierung hat in den bisherigen Verhandlungen zahlreiche Vorbe-
halte angemeldet. Hinweis: Die nachfolgenden Fragen beziehen sich auf das
EU-Ratsdokument 8379/10 (vom 7. April 2010).

Drucksache 17/1852 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung bei der Begriffsbestim-
mung von „Antragstellern mit besonderen Bedürfnissen“ (Artikel 2d) den
Verweis zurückgewiesen, dass diese mit der Begriffsbestimmung der „Auf-
nahmerichtlinie“ einhergehen soll?

2. Warum wendet die Bunderegierung sich gegen Artikel 4 Absatz 2f, in dem
vorgeschlagen wird, dass Fachpersonal der jeweils in den Mitgliedstaaten
zuständigen Asylbehörden in Sachen Beweisführung einschließlich des
Grundsatzes „in dubio pro reo“ („Im Zweifel für den Angeklagten“) ge-
schult wird, und wie bewertet sie die Einschätzung der EU-Kommission,
dass die Genfer Konventionen eine solche Praxis fordern würde?

3. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung sich gegen den von der
EU-Kommission vorgeschlagenen Artikel 6 Absatz 5 gewandt und eine
Änderung vorgeschlagen, durch die nationale Ausnahmen für den Zugang
zum Verfahren für Jugendliche ermöglicht werden sollen?

4. Wie begründet die Bundesregierung den von ihr eingelegten generellen
Prüfvorbehalt gegen die neuen Informations- und Beratungsleistungen für
Antragsteller an Grenzübergangsstellen und in Gewahrsamseinrichtungen
(Artikel 7)?

5. Warum hat die Bundesregierung gegen Artikel 8 Absatz 2 Vorbehalt ange-
meldet, in dem die Ausnahmen für die Berechtigung zum Verbleib im Mit-
gliedstaat während der Prüfung eines Antrags eingeschränkt werden?

6. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung sich gegen den von der
EU-Kommission vorgeschlagenen Artikel 8 Absatz 3 ausgesprochen, der
eine Auslieferung von Antragstellern an Drittstaaten nur dann ermöglichen
soll, wenn sie keine unmittelbare oder mittelbare Zurückweisung zur Folge
hat, die im Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen des Mit-
gliedstaats steht?

7. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung sich gegen Artikel 17
gewandt, der vorsieht, dass die Asylbehörden bei der begründeten An-
nahme einer posttraumatischen Belastungsstörung des Antragstellers (vor-
behaltlich seiner Zustimmung) eine ärztliche Untersuchung gewährleisten
bzw. sicherstellen, dass ein Antragsteller eine ärztliche Untersuchung
selbst beantragen kann, bei der er seine Aussagen über seine in der Vergan-
genheit erlittene Verfolgung oder über einen in der Vergangenheit erlitte-
nen ernsthaften Schaden belegen kann, und auf welcher Grundlage sollen
gemäß des Änderungsvorschlags der Bundesregierung vom 10. März 2010
(vgl. EU-Ratsdokument 7235/10) die Asylbehörden allein über die Not-
wendigkeit einer ärztlichen Untersuchung befinden?

8. Worin bestehen die datenschutzrechtlichen Bedenken der Bundesregie-
rung, die sie in Bezug auf die Schulung der rechtsmedizinischen Gutachter
geltend gemacht hat, die für die Erkennung einer erlittenen Folter verant-
wortlich sind (Artikel 17 Absatz 4)?

9. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung sich gegen den EU-
Kommissionsvorschlag in Artikel 18 gewandt, der den Anspruch auf
Rechtsberatung und -vertretung von Antragsstellern sichern soll?

10. Warum hat die Bundesregierung sich gegen die Streichung von Artikel 18
Absatz 3d gewandt, der den Mitgliedstaaten bisher in ihren einzelstaat-
lichen Rechtsvorschriften die Möglichkeit gibt, nur unentgeltliche Rechts-
beratung und/oder -vertretung zu gewährleisten, wenn ihrer Ansicht nach
der Rechtsbehelf hinreichende Erfolgsaussichten hat?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1852

11. Warum hat sich die Bundesregierung – als einzige Regierung der EU-Mit-
gliedstaaten – gegen Artikel 18 Absatz 5 ausgesprochen, der den Mitglied-
staaten die Möglichkeit eröffnen soll, Nichtregierungsorganisationen zu
erlauben, Antragsteller unentgeltlich Rechtsberatung und -vertretung zu ge-
währen?

12. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung Vorbehalt gegen Arti-
kel 19 Absatz 1a und 1b angemeldet, der den Rechtsberatern und -vetretern
der Antragsteller und den zuständigen staatlichen Stellen Zugang zu allen
Informationen oder Quellen gewährleisten soll, die für das Verfahren rele-
vant sind?

13. Warum hat die Bundesregierung einen Prüfvorbehalt gegen Artikel 20 an-
gemeldet, der besondere Verfahrensrechte für Antragsteller mit besonderen
Bedürfnissen vorsieht („applicants in need of special procedural guaran-
tees“)?

14. Inwiefern hat die Bundesregierung bei den Verhandlungen zur Neufassung
der Asylverfahrensrichtlinie, die bereits im Koalitionsvertrag festgehaltene
Absicht (Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP 2009, S. 70) be-
rücksichtigt, die Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention zu-
rückzunehmen, und welche Konsequenzen ergeben sich aus der entspre-
chenden Entscheidung des Bundeskabinetts vom 3. Mai 2010 für die
zukünftige Verhandlungsposition der Bundesregierung?

15. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung einen Prüfvorbehalt ge-
gen die Streichung eines Satzes in Artikel 21 Absatz 1b angemeldet, nach
dem Mitgliedstaaten bisher verlangen können, dass ein unbegleiteter Min-
derjähriger auch dann bei einer persönlichen Anhörung anwesend sein
muss, wenn der Vertreter zugegen ist?

16. Wird die Bundesregierung nach der Rücknahme des Vorbehalts gegen die
UN-Kinderrechtskonvention und der von der Bundesministerin der Justiz,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, in diesem Zusammenhang getroffe-
nen Aussage, dass es richtig sei, „im Asylverfahren nicht nur Jugendlichen
bis zum 16. Lebensjahr, sondern bis zum 18. Lebensjahr einen angemesse-
nen Rechtsbeistand zur Seite zu stellen“ (Plenarprotokoll des Deutschen
Bundestages vom 5. Mai 2010, S. 3747) ihre Ablehnung gegenüber der von
der EU-Kommission vorgeschlagenen Streichung des bisherigen Artikels 17
Absatz 3 (neu: Artikel 20 Absatz 3) zurücknehmen, nach dem die Mitglied-
staaten bisher nicht verpflichtet sind, einen Vertreter zu bestellen, wenn der
unbegleitete Minderjährige 16 Jahre alt oder älter ist, und wenn nein,
warum nicht?

17. Warum hat die Bundesregierung den neuen Artikel 21 Absatz 6 abgelehnt,
der vorsieht, unbegleitete Minderjährige in Zukunft u. a. von der so genann-
ten Drittstaatenregelung (Artikel 32) und von Verfahren an der Grenze und
dem Flughafenverfahren (Artikel 37) auszunehmen?

18. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung einen Prüfvorbehalt ge-
gen Artikel 24 Absatz 1 angemeldet, der vorsieht, dass die Asylbehörden
bei stillschweigender Rücknahme eines Antrags oder Nichtbetreiben des
Verfahrens die Antragsprüfung einstellen sollen?

19. Warum hat sich die Bundesregierung gegen die von der EU-Kommission
vorgeschlagenen Streichungen in Artikel 20 Absatz 2 (neu: Artikel 24 Ab-
satz 2) gewandt, mit denen die Mitgliedstaaten nicht mehr eine Wiederauf-
nahme eines Verfahrens mit dem Verweis auf das Ablaufen einer bestimm-
ten Frist ablehnen können?

Drucksache 17/1852 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
20. Warum hat die Bundesregierung – als einzige Regierung der EU-Mitglied-
staaten – sich für die Beibehaltung des bisherigen Artikels 24 ausgespro-
chen, der den Mitgliedstaaten bisher Ausnahmeverfahren ermöglicht hat,
die von den Grundsätzen und Garantien des Asylverfahrens aus Kapitel II
der Richtlinie abweichen (Artikel 27, Absatz 6)?

21. Warum hat die Bundesregierung – als einzige Regierung der EU-Mitglied-
staaten – die Streichung des bisherigen Artikels 33 abgelehnt, nach dem im
Falle eines versäumten Aufsuchens eines Aufnahmezentrums bzw. der zu-
ständigen Behörde der Antrag auf internationalen Schutz wie ein Folgean-
trag behandelt wird?

22. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung in Bezug auf Artikel 35
dafür plädiert, die in Absatz 8 festgehaltenen Vorgaben im Umgang mit
unbegründeten Asylanträgen ab dem ersten Folgeantrag anzuwenden, und
mit welcher Begründung hat sie hinsichtlich Absatz 9 einen Prüfvorbehalt
gegen die Vorgaben für einen Folgeantrag im Rahmen des Dublin-Verfah-
rens eingelegt?

23. Warum hat die Bundesregierung – als einzige Regierung der EU-Mitglied-
staaten – die Streichung des bisherigen Artikels 34 (neu: Artikel 36) Ab-
satz 2b abgelehnt, in dem die Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Verfah-
rensrecht Fristen für Folgeanträge festsetzen, innerhalb deren der betref-
fende Antragsteller die neuen Informationen vorzulegen hat?

24. Warum hat die Bundesregierung – als einzige Regierung der EU-Mitglied-
staaten – gegen die Streichung von Artikel 39 (neu: Artikel 41) Absatz 1c
und 1d einen Prüfvorbehalt angemeldet, die auf die Vereinfachung von
Asylverfahren zielt?

25. Warum hat die Bundesregierung sich gegen den EU-Kommissionsvor-
schlag in Artikel 41 Absatz 6 ausgesprochen, der Mitgliedstaaten zukünftig
untersagen soll, die Verfahrensgarantien an der Grenze auf das in der Richt-
linie vorgesehene Mindestmaß zu beschränken, um damit die aufschie-
bende Wirkung von Rechtsmittel zu verhindern?

Sieht sich die Bundesregierung in ihrer Verhandlungslinie nicht im Wider-
spruch zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) im Fall Gebremdhin./.Frankreich (Urteil vom 26. April 2007,
Antragsnummer 25389/05, Ziffer 66), wie von der EU-Kommission ange-
merkt wurde?

Berlin, den 21. Mai 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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