BT-Drucksache 17/1754

Bezahlte Pflegezeit einführen - Organisation der Pflege sicherstellen

Vom 19. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1754
17. Wahlperiode 19. 05. 2010

Antrag
der Abgeordneten Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Birkwald, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Diana Golze, Inge Höger, Katja Kipping,
Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Vogler, Harald
Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Bezahlte Pflegezeit einführen – Organisation der Pflege sicherstellen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Viele Pflegebedürftige werden in ihrer häuslichen Umgebung von ihnen nahe
stehenden Menschen betreut und gepflegt. Dabei stehen die Pflegenden vor der
Herausforderung Pflege, Familie und Erwerbsarbeit miteinander zu vereinba-
ren.

Die Fähigkeit oder Bereitschaft, die betroffenen Personen im familiären Umfeld
zu pflegen, werden jedoch zunehmend durch den sich wandelnden Altersaufbau,
durch eine sich verändernde Zahl von älteren Menschen, die alleine leben, durch
den Wandel des Familienbildes, Veränderungen der Erwerbsbiographien von
Frauen und der Arbeitswelt stark geschwächt. Ein Trend zur stärkeren Inan-
spruchnahme von professioneller Pflege bzw. Assistenz ist bereits jetzt zu kon-
statieren. Zudem lässt sich feststellen, dass im Fall einer Angewiesenheit auf
Pflege und Betreuung der Wunsch nach einer Versorgung in der eigenen Häus-
lichkeit nicht zwingend mit dem Wunsch nach einer Versorgung durch die eige-
nen Angehörigen einhergeht. Das gilt im besonderen Maße dann, wenn es sich
dabei um die „harte“ Kernpflege wie beispielsweise die Intimpflege handelt.

Pflegebedürftigkeit tritt zudem häufig überraschend und kurzfristig auf. Um die
Pflege eines Angehörigen organisieren und/oder die pflegerische Versorgung
von Angehörigen gewährleisten zu können, brauchen Angehörige Zeit und Un-
terstützung durch Pflegekräfte. Angehörige brauchen mehr Zeit für den emotio-
nalen, familiären Beistand, gerade bei akut auftretendem Bedarf an Pflege. Häu-
fig steht diese Zeit durch die Übernahme der Kernpflege nicht zur Verfügung
oder wird in den Hintergrund gedrängt. Außerdem berichten pflegende Angehö-
rige von extremen Belastungen; negative Erlebnisse überwiegen die positiven
Erfahrungen im Zusammenhang mit der Pflege von Angehörigen. 80 Prozent
der derzeit pflegenden Angehörigen fühlen sich durch die Pflegetätigkeit stark
belastet (Reuyß 2009). Überforderung und Überlastung sind daher an der Tages-

ordnung.

Es ist daher dringend geboten, die Verteilung der Pflege- und Assistenzaufgaben
zwischen Staat und Familie zugunsten einer stärkeren öffentlichen Verantwor-
tung zu verschieben.

Nach wie vor tragen Frauen die Hauptlast bei der Betreuung und Pflege von An-
gehörigen. Sie reduzieren, nicht zuletzt aufgrund des Dilemmas der Sandwich-

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generation, ihre Arbeitszeit oder steigen ganz aus ihrem Beruf aus, um sich der
Pflege und Betreuung ihrer Angehörigen widmen zu können. Von den Folgen
der Übernahme der Pflege sind sie daher in besonderer und vielfältiger Weise
betroffen. Sie sind mit schlechteren Karrierechancen konfrontiert, verdienen im
Durchschnitt ein geringes Einkommen und beziehen im Alter eine verminderte
Rente.

Die Pflegeversicherung birgt schwere Konstruktionsfehler und sichert das
Risiko der Pflegebedürftigkeit nur unzureichend ab. Die Leistungen der Pflege-
versicherung orientieren sich nicht am Bedarf, sondern haben nur ergänzenden
Charakter. Dieser Teilkaskocharakter der Pflegeversicherung wird dadurch ver-
schärft, dass der seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 zu verzeichnende
Realwertverlust der Pflegeleistungen bis heute nicht vollständig ausgeglichen
wurde. Es bleibt damit bei einer dauerhaften Leistungsminderung. So werden
mehr und mehr Menschen in die Sozialhilfe abgedrängt oder Angehörige müs-
sen den erheblichen Hilfe- und Unterstützungsbedarf auffangen. Physische, psy-
chische und finanzielle Überlastung und Überforderung der zumeist weiblichen
Pflegenden sind an der Tagesordnung.

Gute Pflege darf nicht vom Geldbeutel abhängig sein. Derzeit sind die Versor-
gungschancen pflegebedürftiger Menschen sozial ungleich verteilt. Eine umfas-
sende professionelle und bedarfsgerechte Pflege und Assistenz kann sich nur
leisten, wer zusätzlich private Pflegevorsorge betreibt oder die erforderlichen fi-
nanziellen Mittel aufbringen kann. Für alle pflegebedürftigen Menschen muss,
unabhängig von ihrer sozialen Situation, Pflege und Assistenz in vollem Um-
fang gewährleistet werden. Es ist längst überfällig, dass das Leistungsniveau der
Pflegeversicherung deutlich angehoben wird.

Um eine solidarische Absicherung von Pflege und Assistenz zu gewährleisten,
ist deshalb eine nachhaltige Finanzierung auf der Grundlage einer solidarischen
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung erforderlich, in die alle von allen Ein-
kommensarten einzahlen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die folgenden Aspekte berücksichtigt:

1. Es ist eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige einzuführen,
die der Organisation der Pflege und der ersten pflegerischen Versorgung von
Angehörigen oder nahestehenden Personen dient. Während der Pflegezeit er-
halten abhängig Beschäftigte eine beitragsfinanzierte Leistung, die den Lohn
in Höhe des Arbeitslosengelds I ersetzt. Außerdem besteht voller Kündi-
gungsschutz und die freigestellten Beschäftigten erhalten das Recht, auf den-
selben Arbeitsplatz zu denselben Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen,
inklusive derselben Arbeitszeit, zurückzukehren. Die Möglichkeit einer be-
zahlten Pflegezeit gilt für Betriebe unabhängig von der Anzahl der Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter. Der Ersatz der freigestellten Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter ist mit befristeter Beschäftigung zu den in der jeweiligen Branche
geltenden tariflichen Bedingungen möglich.

2. Als Sofortmaßnahme sind die Leistungen der Pflegeversicherung deutlich
anzuheben. Der seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 zu
verzeichnende Realwertverlust der Pflegeleistungen ist vollständig auszu-
gleichen. Außerdem sind die Sachleistungsbeträge für die ambulante, teil-
stationäre und stationäre Pflege anzuheben. Die Leistungen der Pflegeversi-
cherung sind darüber hinaus ab sofort jährlich zu dynamisieren, um den
Werterhalt zu garantieren.

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3. Ambulante und alternative Wohn- und Versorgungsformen sind auszubauen.
Es ist darauf hinzuwirken, dass Pflegeversicherung und Kommunen hierfür
in angemessenem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung stellen.

4. Die Rahmenbedingungen für Angehörige und Ehrenamtliche sind zu verbes-
sern. Die notwendige Infrastruktur ist weiter auszubauen, um eine professio-
nelle, unabhängige und wohnortnahe Beratung, Anleitung, Betreuung und
Supervision auf hohem Niveau flächendeckend sicherzustellen.

5. Für Personen, die die Pflege dauerhaft übernehmen wollen, sind Teilzeit-
möglichkeiten und flexible Arbeitsorganisations- und -zeitregelungen zu er-
möglichen.

6. Die Pflegeversicherung ist zu einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürger-
versicherung weiterzuentwickeln. Die Trennung zwischen privater und so-
zialer Pflegeversicherung ist aufzuheben. Hierfür sind alle, auch Selbstän-
dige, Beamtinnen und Beamte, Freiberuflerinnen und Freiberufler in die
solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung einzubeziehen. Sämtliche
Einkommen – u. a. aus unselbständiger und selbständiger Arbeit sowie aus
Kapital-, Miet- und Zinseinkünften – werden beitragspflichtig und mit einem
einheitlichen Beitragssatz belegt. Die Arbeitgeber tragen die Hälfte der Pfle-
geversicherungsbeiträge auf Löhne und Gehälter ihrer Beschäftigten. Die
Beitragsbemessungsgrenze ist sofort auf die Höhe der Beitragsbemessungs-
grenze der gesetzlichen Rentenversicherung (West) anzuheben und per-
spektivisch abzuschaffen. Rentnerinnen und Rentner zahlen künftig nur den
halben Beitragssatz; die andere Hälfte wird aus der Rentenversicherung be-
glichen. Der höhere Pflegebeitrag von Kinderlosen wird abgeschafft.

Berlin, den 19. Mai 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend plant die Ein-
führung eines Rechtsanspruchs auf eine Familienpflegezeit von zwei Jahren. In
dieser Zeit könnten die Pflegenden ihre Arbeitszeit auf die Hälfte reduzieren und
würden von ihren Arbeitgebern, um davon leben zu können, trotzdem 75 Pro-
zent des Gehaltes bekommen. Nach der zweijährigen Pflegezeit würden sie wie-
der voll arbeiten und die nächsten zwei Jahre weiter nur 75 Prozent des Lohnes
erhalten. Damit wären ihre Arbeitszeit- und Lohnkonten nach vier Jahren wieder
ausgeglichen.

Der Vorschlag des Bundesministeriums greift zu kurz und löst weder das Pro-
blem der Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit noch das der sozialen
Ungleichheit von Versorgungschancen.

Aktuell gibt es 2,3 Millionen Pflegebedürftige. Die Annahme ist, dass die An-
zahl alter und pflegebedürftiger Menschen in den nächsten Jahrzehnten weiter
zunehmen wird. Von den Pflegebedürftigen werden rund 70 Prozent zu Hause
versorgt und von den helfenden Angehörigen nehmen bisher nur rund zwei Drit-
tel professionelle Unterstützung in Anspruch (Blinkert/Klie 2008: 25). 75 Pro-
zent der Pflegenden sind Frauen.

Nach wie vor wünschen sich die meisten Menschen, bei Eintritt von Pflegebe-

dürftigkeit in ihrer vertrauten Umgebung bleiben zu können. Das bedeutet aber
nicht, dass sie unbedingt von ihren Angehörigen gepflegt werden wollen. Der

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Vorschlag der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geht
deshalb an der Realität der Pflegebedürftigen vorbei. Er setzt allein auf die
Bereitschaft der Angehörigen und verfestigt das Subsidiaritätsprinzip. Doch
damit wird die Pflegeversicherung nicht fit für die Zukunft. Aufgrund des
sozialen Wandels lässt sich bereits gegenwärtig ein Trend zur professionellen
Pflege feststellen. Zudem beträgt die durchschnittliche Pflegezeit circa acht
Jahre. Es stellt sich daher die Frage, wie die Pflege im Anschluss an die befris-
tete Pflegezeit organisiert und erbracht werden kann.

Des Weiteren zielt der Vorschlag auf Personen mit einer Vollzeitbeschäftigung
ab, deren Einkommen zumindest lebensunterhaltssichernd ist. Die Arbeits- und
Einkommensrealität von Frauen, die die Hauptlast der Pflege tragen, sieht hin-
gegen anders aus. Frauen üben oftmals geringfügige Beschäftigungen aus oder
sie arbeiten in Teilzeit. Sie verdienen im Durchschnitt weniger als ihre männ-
lichen Kollegen und bisweilen sichert das nicht einmal die eigene Existenz. Sie
sind dann zusätzlich auf familiäre oder staatliche Unterstützung angewiesen.
Modelle, die auf Basis von Vollzeitbeschäftigung berechnet werden bzw. die
Absenkung von Entgelten vorschlagen, sind deshalb realitätsfern und nicht da-
für geeignet, die Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbsarbeit zu fördern.

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